Das Licht der Frauen. Żanna Słoniowska
ein Wort miteinander zu sprechen. In den Übungspausen hörte ich, wie sie mit ihren manikürten, gelben Fingern an der Wand kratzte und wie der Baum auf unserem Hof wuchs.
Aba kam am Nachmittag nach Hause, mit dunklen Ringen unter den Augen, denen ich den frisch gefassten Entschluss ablas, mir von nun an ihr ganzes Leben zu widmen. Von der Beerdigung erzählte sie mir Folgendes:
Die Menschenmenge, die Mamas Sarg zum Lytschakiwski-Friedhof trug, wuchs zusehends an. Als ihr Anfang bereits auf der Hälfte der Piekarskastraße war und sich Medizinstudenten aus allen Institutsgebäuden der Reihe nach anschlossen, wand sich das Ende noch immer am Halicki-Platz. Gerüchte besagten, dass am Friedhof schon Milizeinheiten warteten, aber konnte das irgendetwas an der Ausbreitung des Tsunamis ändern? Ungefähr auf Höhe des Museums für Pathologische Anatomie, in dem seit vielen Jahren, immun gegen den Systemwandel, die Hände des städtischen Henkers in einem Glas mit Formalin schlummerten, hörte das Orchester auf, Chopin zu spielen. Auch die üblichen Sowjetmärsche blieben aus. Stattdessen stimmten die Trompeter das verbotene Tscherwona Kalyna an:
Wir aber sagen – Kopf hoch, Roter Schneeballstrauch,
Heiter soll unsere ruhmreiche Ukraine sein!
Nach und nach setzte der Gesang ein und begleitete die Trompeten – dramatisch und böse. Die Frauen holten Ikonen unter ihren Mänteln hervor, und bald flogen die Gesichter des Heiligen Georg und des Heiligen Mikolaj in die Höhe, aber auch das des Erzengels Michael, blass vom jahrelangen Liegen in Kellern und auf Dachböden.
»Schande über Mariannas Henker!«, rief jemand.
»Schaaande!«, riefen Tausende Kehlen zurück.
»Rächen wir Marianna?«
»Wir schwören, sie zu rächen!«
Wie zur Bestätigung dieser Worte begannen die Männer, vorsichtig die Angelruten zu schwenken und die daran befestigten verbotenen blau-gelben Flaggen zu zeigen. Der Trauerzug schritt voran und näherte sich unaufhörlich den drei Bögen am Haupteingang des Friedhofs. Auf einer Querstraße der Piekarska, der Miecznikowa, war bereits der Straßenbahnverkehr eingestellt worden, und an der gesamten Länge der Friedhofsmauer stand eine Milizionärskette, abgeschottet von einer Reihe gepanzerter Fahrzeuge. Ungeachtet dessen bewegte sich der Demonstrationszug vorwärts.
Als die Sargträger die Höhe der Gleise erreicht hatten, riss der Dirigent, ein kleiner, kahlköpfiger Herr, die Hände in die Höhe. Das war ein unmissverständliches Zeichen: Die Menschen stimmten Noch ist die Ukraine nicht verloren an.
Auch die Milizionäre schienen auf diesen Moment gewartet zu haben. Dem Zeichen gehorchend, begannen sie, den Frauen die Ikonen und den Männern die Flaggen zu entreißen. Dies wiederum setzte die Herren in den schwarzen Kunstlederjacken in Bewegung, die große Schäferhunde an der Leine hielten. Sie stürzten sich auf jene, die in die Seitengassen flohen, sich die bunten Stoffe unter die Arme klemmten und im Laufen die Angelstöcke wegwarfen. Wer gefasst wurde, landete in ihren Wagen.
Aba erinnerte sich an einen Jungen mit einer Flagge, der auf der Flucht zu einem Telefonhäuschen rannte und, da es besetzt war, auf sein Dach kletterte. Dort fühlte er sich sicher: Er steckte sich den Fahnenmast zwischen die Beine und zeigte den Beamten fröhlich den Mittelfinger. Ein Mann in Schwarz gab ein kurzes Kommando, und nach wenigen Sekunden war sein abgerichteter Hund schon auf dem Dach des Häuschens. Wie diese Szene ausging, bekam Aba nicht mehr mit – der Trauerzug hatte den Friedhof erreicht und schritt den Berg hinauf, vorbei an den Gräbern der polnischen Schriftstellerin Maria Konopnicka, des ukrainischen Dichters Iwan Franko und der ukrainischen Opernsängerin Salome Kruschelnytska. Der Dissident Wjatscheslaw Tschornowil, heute mit dunklen Schatten unter den Augen, ging den ganzen Weg neben dem Sarg her. Das erste Mal im Leben schien er nicht zu bemerken, dass seine Leute von Hunden gehetzt, mit Knüppeln verprügelt und in Gewahrsam genommen wurden. Er schritt voran, den Blick geradeaus gerichtet. Gewiss dachte er, dass er hätte sterben sollen, nicht Marianna.
Nur wenige Menschen kamen bis zur Grabstätte, vor allem diejenigen, die Mama persönlich gekannt hatten. Von hier, vom Hügel aus, sahen sie den verwüsteten Friedhof der Jungadler, die Endhaltestelle der Sieben und die abgelegenen Villen von Pohulanka.
»Das ukrainische Volk kann stolz sein auf seine Tochter Marianna, die ihr Leben geopfert hat«, sagte Tschornowil würdevoll, und niemandem wäre es in den Sinn gekommen, darauf hinzuweisen, dass Mama diesem Volk de facto gar nicht angehört hatte.
»Diejenigen, die sie getötet haben, denken, sie hätten unser Lied zum Verstummen gebracht. Doch sogar heute konnten sie sich davon überzeugen, dass es nur umso lauter erklingt!« – In diesem Augenblick heulten wie in einer böswilligen Nachäffung seiner Worte die Milizsirenen auf: Der Abtransport der Demonstranten ging weiter. Ein Weißstorch flog durch den klaren Julihimmel. Heute war Mama nicht mehr in die Flagge gewickelt, das blutdurchtränkte Tuch lag über ihr wie ein Laken. Die Totengräber schlossen den Sarg und ließen ihn vorsichtig in die Grube hinab. In dem Moment fing Aba an zu weinen. Viel später erfuhr ich, woran sie damals gedacht hat: So wie eine schwangere Frau leichter wird, wenn sie niederkommt, so beginnt eine Mutter, die ihr Kind der Erde übergibt, weniger zu wiegen. Vielleicht gelang es ihr deshalb, ohne fremde Hilfe die gewundenen Pfade des Friedhofs nach unten zu gehen, dorthin, wo große orangefarbene Wagen mit der Aufschrift »Wasser« riesige Fontänen auf dem Schlachtfeld verspritzten. Ihre Beine, von der rheumatoiden Gelenkentzündung hässlich verbogen, schritten energischer als üblich. Sie hatten es eilig, zu mir zurückzukommen.
An jenem Tag passierte noch etwas. Ich bekam zum ersten Mal meine Regel. Doch wider Erwarten zierten statt eines majestätischen Stroms von Purpur und Karminrot zwei spärliche schmutzig braune Streifen meine Unterhose. Die Welt schien ein anderer Ort zu sein, als ich mir vorgestellt hatte.
Die Schachteln
Viel später erfuhr ich, dass ich nicht die einzige Deserteurin gewesen war. Gemeint sind keineswegs die falschen Freunde vom Theater oder diejenigen, die aus Angst um ihr Leben nicht auf Mamas Begräbnis erschienen waren. Gemeint ist jemand, der ebenso wie ich bereit war, jeden Tropfen seines eigenen Bluts mit ihr zu teilen. Gemeint ist Mikolaj.
Er war bis zur Hälfte der Piekarska mit dem Trauerzug gegangen und dann unbemerkt in eine kleine Seitenstraße abgebogen, die zuerst die Majakowski- und dann die Zielonastraße kreuzte. Er wohnte in der Lew-Tolstoi-Straße. Auf ganzer Länge dieser Straße wuchsen alte Eichen, wie Säulen, die das Gewölbe eines unsichtbaren Tempels stützten. Seiner Meinung nach ein viel besserer Ort, um um Marianna zu trauern, als der Massenaufzug auf dem Weg zum Friedhof.
Seit Jahren betrachtete er die heruntergekommene Villa an der Tolstoistraße wie einen menschlichen Leib: Die Zweizimmerwohnung im Erdgeschoss, die er seit seiner Geburt kannte, war der Bauch; das Atelier im Keller, das er vor ein paar Jahren von seinem Vater geerbt hatte, der Bereich unterhalb der Gürtellinie; und der Dachboden, der einst seiner beruflichen Leidenschaft die Richtung gewiesen hatte, war der Kopf. (Es gab noch das Stockwerk mit der Wohnung der Nachbarinnen, aber diesen Ort blendete er aus, wenn er an das Haus dachte.) Niemals mehr, verstand er plötzlich, würde er Marianna die Geschichte erzählen, die sich auf dem Dachboden ereignet hatte, und es kam ihm vor, als hätte die Kugel des Scharfschützen nicht ihre Brust, sondern seinen Kopf in Stücke gerissen.
Er schloss die Haustür auf, stieg die Treppe hinab, stieß eine, zwei und eine dritte Tür auf, machte Licht und legte sich auf das mit einem alten Plaid bedeckte Sofa. Der unberührte Bristolkarton auf der Staffelei, der dunkle Vinylsee auf dem Plattenteller, das noch dunklere Meer des ramponierten Flügels, die Möwenflügel der auf dem Bauch liegenden Bücher – alles war wie immer.
Der Tod ist wie ein Keller voller Skizzen, dachte er. Wenn ich sterbe, werden sie in meinem Atelier nichts finden als Skizzen – so als hätte ich nie etwas vollendet. Und den alten Flügel, auf dem ich geklimpert habe.
Von der Zimmerdecke war ein lautes Klopfen zu hören – jemand im Stockwerk über ihm hämmerte mit einem schweren Gegenstand auf den Boden.
»Nicht jetzt!«, rief er gereizt.
Doch die Schläge –