Das Licht der Frauen. Żanna Słoniowska
hatte keine Angst: Ich konnte mir nicht vorstellen, dass mir jemand auf der Straße Vorhaltungen wegen meiner Literaturkenntnisse machen würde, und ich glaubte nicht, dass Poesie und Gewalt etwas gemein haben könnten.
Am Abend des Tages, an dem Mamas Leiche in eine blau-gelbe Flagge gewickelt in unser Haus getragen wurde, vernachlässigte Urgroßmutter das Ritual der Sicherung der Wohnungstüren, sie wurden nicht einmal ordentlich geschlossen. Das war ein Zeichen ihrer Kapitulation: So sehr Urgroßmutter sich auch bemüht hatte, sie waren dennoch gekommen und hatten ihre Welt zerstört. Mama wurde im mittleren Zimmer auf den Tisch gelegt, an den Seiten wurden lange Kerzen angezündet. Das geschmolzene Wachs hinterließ helle Spuren auf dem Eichenparkett. Viel später erfuhr ich, dass Aba mehrere Entscheidungsträger bestechen musste, damit von einer Obduktion abgesehen und die Leiche nicht im Totenhaus zurückgehalten wurde. Es gelang ihr dank ihrer Beziehungen in medizinische Kreise, sie war eine gefragte Ärztin gewesen.
Dass der KGB nicht intervenierte, überraschte sie dennoch. Man hätte meinen können, jetzt würden sie dafür sorgen, den Tod, an dem sie schuld waren, zu leugnen, zu vertuschen, zu verwischen. Dieser Schuss war in jeder Hinsicht absurd gewesen: Nicht nur, dass er sein Ziel verfehlt hatte, er erklang für Lemberg auch wie ein Glockengeläut, das den Rest der Unentschlossenen auf die Straßen rief. Mama hätte sich nichts anderes gewünscht (anders Aba, ich oder Urgroßmutter). In den ersten Tagen nach dem Schuss sprachen alle von den Umständen ihres Todes: von der illegalen Demonstration auf der Klumba, dem Lemberger Hyde Park, bei der freie Wahlen gefordert wurden; von dem Scharfschützen auf dem Dach des nahegelegenen Wohnhauses, in dem sich vor dem Krieg das prachtvolle »Wiener Café« befunden hatte. Der Scharfschütze, so hieß es, sollte den Befehl bekommen haben, auf Tschornowil zu schießen, aber Marianna bewegte sich so energisch auf der Ladefläche des Lastwagens, dass sie den Dissidenten verdeckte. Man hatte eine Luftdruckwaffe benutzt, deshalb hörte niemand den Schuss. Erst beim Anblick des blutigen Flecks, der auf dem beigen Kleid der Sängerin erblühte, suchte ein Teil der Leute das Weite. Wjatscheslaw Maksimowitsch setzte die Versammlung fort. Er hatte den Tod akzeptiert. Nicht im Sinne einer inneren Gleichgültigkeit, aber er hatte in den Jahren im Lager einen unerschütterlichen Mut entwickelt. Ehemalige Mithäftlinge sprachen sogar von einem »pathologischen« Mut. In der Menge meldete sich ein Arzt. Tschornowil gab Marianna in seine Obhut und setzte die Versammlung fort. Man versuchte, ihn abzuschirmen, wollte ihn sogar mit Gewalt vom Lastwagen ziehen. Aber es fielen keine weiteren Schüsse – bis heute weiß niemand, warum. Jedenfalls bekam Tschornowil an jenem Tag von meiner Mama zusätzliche elf Lebensjahre geschenkt. Ich denke, er wird im Jahr 1999, als sein Auto auf der Strecke nach Borispol von einem Lkw erfasst wurde, daran gedacht haben.
Andere erinnerten sich auch, aber nicht lange. In den ersten Tagen redeten die Leute und schrien, sie riefen an und kamen zu uns. Das verschlimmerte die Situation für mich derart, dass ich in hilfloser Wut versteinerte. Auch nach vielen Jahren geriet ich erneut in diesen Zustand, wenn ich flüssiges Wachs auf den Boden tropfen sah. Entgegen der Tradition, die eine Bestattung drei Tage nach dem Tod vorsah, sollte die Beerdigung schon am nächsten Tag stattfinden. Und niemand – o Wunder – widersetzte sich, als Aba sich um einen Platz auf dem Lytschakiwski-Friedhof bemühte, der wichtigsten Begräbnisstätte Lembergs. Zwar waren Beerdigungen dort in den achtziger Jahren noch nicht verboten, aber schon damals benötigte man viele Sondergenehmigungen, die Aba blitzschnell beschaffte. Gewiss, die Demonstration, zu der sich die Beerdigung auswuchs, wurde brutal zerschlagen, gewiss, jemand von ihnen kam zum Direktor der Oper und bedrängte ihn mit Fragen über Marianna, gewiss, in den folgenden Monaten beseitigte immer wieder jemand die dicke Schicht Kunstblumen, die das Grab jeden Tag aufs Neue bedeckte. Aber über letzteres habe ich mich sogar gefreut. Die Plastiknarzissen gefielen mir nicht und schienen mich noch weiter von Mama zu entfernen. Später ließen sie auch das, und die Blumen blieben dauerhaft auf der Steinplatte liegen. Der Herbst breitete seine Laubdecke über sie.
Vom ersten Tag an wartete Aba auf die Vorladung, du weißt schon wohin. Sie sagte mir später, diesen Besuch habe sie sich Tausende Male ausgemalt. Der Gedanke begleitete sie seit ihrer frühen Kindheit: Als sie sieben war und in Leningrad wohnte, ermordeten sie ihren Vater; als sie fast sechzig war und in Lemberg wohnte, töteten sie ihre Tochter. Zwischen dem einen und dem anderen Ereignis hatte sie nie aufgehört, sie zu hassen und das auch mehr oder weniger offen zum Ausdruck zu bringen. Als sie im Jahre 1944 nach Lemberg kam, beschloss sie, eine Ein-Frau-Widerstandsbewegung zu werden. Sie fertigte Flugblätter an und verteilte sie persönlich in die Briefkästen. Darin hieß es, Stalin sei ein Verbrecher. Bis heute begreife ich nicht, warum sie nie dafür belangt wurde. Ich habe keine andere Erklärung als die besondere Fürsorge eines Schutzengels. Das graue Gebäude in der Dzierżyńskistraße besuchte sie nur ein einziges Mal, kurz nach Stalins Tod: Sie bombardierte sie mit offiziellen Anfragen nach dem Schicksal ihres Vaters. Doch auf dem Weg dorthin entfernte sie den Hass aus ihrem Gesicht und grundierte es neu, wie eine Leinwand. Sie malte einen neuen Ausdruck darauf – alles nur, um ihnen irgendeine Information zu entlocken. Dort empfing sie ein zynisch lächelnder Major. Er hielt die Akte ihres Vaters in der Hand – trotz ihrer Bitten ließ er sie nicht darin lesen. Geheimnisvoll erklärte er, ihr Vater sei »irgendwo im Norden« gestorben. Von jetzt an, so fügte er hinzu, sei sie nicht mehr als Tochter eines »Volksfeindes« gebrandmarkt – die Opfer des Stalinterrors wurden rehabilitiert. Nach wie vor kannte sie weder das Datum noch den Ort, an dem ihr Vater gestorben ist. Sie legten großen Wert darauf, dass die Menschen über Jahre im Schatten ihrer gleichsam halbtoten Angehörigen lebten.
Ganz anders war es bei Mama: Ihr Tod wurde in eine Leere gesogen, er versank in der Kluft zwischen den Epochen. Dieses Mal wurde Aba nirgendwo vorgeladen – sie hatten plötzlich andere Sorgen.
Nach jenem Schuss begann eine neue Zeitrechnung. Das ist schwer zu beschreiben, denn sie galoppierte wie wild und stand dennoch auf der Stelle, verschwand womöglich ganz. Im Rijksmuseum in Amsterdam gibt es eine seltsame Uhr: Hinter dem matten Glas des Zifferblatts kommt ein Menschlein hervor, das den Minutenzeiger wegwischt und ihn an einer neuen Stelle aufmalt, dann verschwindet und nach einer Minute erneut erscheint, um das Ritual zu wiederholen. Ich frage mich, wie diese Amsterdamer Uhr in den Tagen, die ich hier beschreibe, ausgesehen haben könnte, und ich glaube, das Menschlein konnte die neuen Zeiger zeichnen, ohne die alten wegzuwischen. Und sobald das Zifferblatt einer Sonne mit sechzig Strahlen ähnelte, hat es von seiner Arbeit abgelassen und war irgendwo in der Ecke eingenickt. Die Gegenwart war weich und warm geworden – die steinernen Träger, auf denen sie ruhte, schmolzen wie Wachs. Die Vergangenheit wurde neu geschrieben. Mit jedem Tag wurden neue Lügen entlarvt, auf die sich das alte System gestützt hatte. Die Zukunft, frisch und anders, schien zum Greifen nah – als wären wir auf einem Schiff, von dessen Deck man eine wunderbare Insel sehen konnte, so klar, dass man sogar die Farben der Blumen dort erkennen konnte. Auf dieser neuen Erde sollte alles von selbst gut werden! Wie auch sonst, wenn das Böse besiegt war, die Ketten zerrissen waren und das Gefängnistor offenstand? So trieben wir auf dem Gewässer zwischen den Felsen zweier Epochen, und selbst ich konnte mich der Begeisterung und Ekstase hingeben, denn ich sah diese neue Zukunft so, wie Mama es getan hätte, deren Hoffnungen sich sämtlich vor unseren Augen erfüllten. »Karneval« war draußen auf der Straße und zugleich auf dem Fernsehbildschirm: Die letzten sowjetischen Panzer verließen Afghanistan. Die Berliner Mauer fiel – Mstislaw Rostropowitsch spielte dazu auf dem Violoncello. Die Polen nahmen an den ersten freien Wahlen teil. Die Rumänen brachten ihren Diktator Ceauşescu um. Litauen erklärte seine Unabhängigkeit. Die russischen Städte legten ihre sowjetischen Namen ab.
Mitte Juli 1988 war auf Wjatscheslaw Tschornowil, ein Gegner des Systems, geschossen worden. Anfang September gründete er den Narodnyj Ruch, die Nationalbewegung und erste Alternative zu der einen und herrschenden Partei, und wurde im April 1990 als ihr Kandidat zum Vorsitzenden des Lemberger Bezirksrats gewählt. Er hatte seinen Amtssitz in dem Gebäude, in das er früher zu unangenehmen Gesprächen vorgeladen wurde, und wurde von Lehrerinnen und einer Schar Knirpse in bestickten Trachten mit Brot und Salz begrüßt.
Sie hatten natürlich auch Wind vom geänderten Zeitenrhythmus bekommen. Den Befehl, Tschornowil zu erschießen, musste irgendein wirklichkeitsfremder Altkommunist erteilt haben, geblendet von falschen Machtphantasien. Die anderen hatten