Das Licht der Frauen. Żanna Słoniowska

Das Licht der Frauen - Żanna Słoniowska


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Ich habe keinen Hunger!«

      An einer Wand des Ateliers hing die Fotografie einer jungen Frau, aus deren funkelnden Augen die Überzeugung sprach, dass sie bald gen Himmel fahren würde – es war nicht Marianna.

      In einer plötzlichen Eingebung stand er auf, ging zur Wand, nahm das Foto ab und legte es auf den Tisch. Dann stellte er die Leiter an das Bücherregal und holte vom obersten Brett Schachteln herunter, die mit dunklem Stoff verkleidet waren. Darin befanden sich Fotos, sortiert und beschriftet. Er nahm sie heraus und warf sie auf den Tisch, der sich rasch mit Gesichtsfragmenten en face und im Profil, mit Händen und Füßen füllte. Eine Weile mischte er die Fotos wie Spielkarten. Nur wenig später waren sie vom zitternden Spinnennetz der Asche seiner Zigaretten bedeckt.

      Die Fotografie der Frau, die bereit ist für ihre Fahrt in den Himmel, lag in der Mitte. Sie hatte die gleichen dunklen und funkelnden, ein wenig zu weit auseinanderstehenden Augen wie er, das gleiche kräftige und dichte Haar. Damals, 1988, trug Mikolaj einen Bürstenschnitt, aber mit dem fortschreitenden Zerfall des Imperiums wurde sein Haar immer länger, ähnlich dem langen, glatten Haar seiner Mutter, das sie gern nach oben kämmte, damit es so etwas wie einen seidigen Hügel bildete.

      Ringsherum, wie die Strahlen einer Sonne, ordnete er sieben Porträts von sich selbst aus der Grundschulzeit an. Auf jedem, sogar auf denen aus den offiziellen Klassenalben, hatte er einen leicht stieren Blick, schnitt eine Grimasse oder streckte die Zunge heraus. Bei dem Anblick konnte er sich nicht des Eindrucks erwehren, dass er ein etwas zurückgebliebenes Kind gewesen sein musste. In der Sowjetunion wurden solche Kinder weggesperrt. Die leicht Behinderten wurden auf normale Schulen geschickt, und es wurde so getan, als unterschieden sie sich in nichts von anderen Kindern.

      Die Kindheitsporträts umgab er mit späteren Fotos seiner Mutter, die mit der Zeit ihre Heilserwartungen abgelegt und dafür ordentlich zugenommen hatte. Für eines ihrer Porträts besaß er eine besondere Schwäche. Dort stand sie mit ausgebreiteten Armen auf einem Berggipfel, als wollte sie der ganzen Welt verkünden, dass sie diesen Berg geschenkt bekommen habe und mit dieser Geste ihr ewiges Eigentumsrecht bekräftige. In gewisser Weise traf das auch zu. Sie stammte aus den Karpaten, und auf diesem Berg, einige hundert Meter tiefer, stand ihr Elternhaus, das sie verlassen hatte, um zum Studium nach Lemberg zu ziehen, wo sie Mikolajs Vater kennenlernte. Sein Bild platzierte er zu ihren Füßen. Eine vollständige Umkehrung der tatsächlichen Verhältnisse.

      Die langen Arme und Beine seines Vaters passten selten ins Bild. Mikolaj hatte seine Statur geerbt. Der Blick seines Vaters, schon in der Jugend düster, schien die Macht zu haben, die Wände und die Decke des Ateliers zu sprengen. Auch sein Porträt umgab Mikolaj mit Fotos eines verrückt spielenden Kindes. Grimassen zu ziehen war damals eine der wenigen ihm zur Verfügung stehenden Formen des Protests gegen die gnadenlosen Lebensregeln, die ihm auferlegt wurden: nicht mit Freunden nach draußen gehen, lernen und Klavier spielen. War sein Vater nicht zu Hause, sorgte die eingeschüchterte Mutter für die Einhaltung der Regeln. Jahre später begriff Mikolaj, dass auch sie in einer Art Gefangenschaft lebte: Sie drohte, zwischen den massiven Mietshäusern der fremden Stadt, in den langen Schlangen vor den Geschäften zu ersticken. Ein anderes Leben führten sie nur in den Ferien, wenn sie zu zweit mit der Vorstadtbahn in die Karpaten fuhren, ins Heimatdorf seiner Mutter, und mit Rucksäcken auf den Berg kletterten, den auch Mikolaj als sein Eigentum betrachtete, auch wenn das durch kein Foto dokumentiert war.

      Dieses Mal kam das Klopfen aus größerer Nähe – sie war unten vor seiner Tür. Er seufzte, drückte die Zigarette aus und ging öffnen. Da stand sie, ein Tablett mit der Suppenterrine und dick geschnittenen Weckenscheiben, einer Art langem Weißbrot, in den Händen. Das verwaschene geblümte Kleid und die Filzpantoffeln passten nicht zu ihrer ordentlichen Frisur. Im Alter war sie noch runder geworden, und ihr Blick strahlte einen neuen, unersättlichen Besitzanspruch aus – ein einziger Berg war ihr nicht mehr genug.

      »In Lytschakiw haben sie Hunde auf die Menschen gehetzt und sie in Milizwannen gesperrt«, sagte sie weinerlich.

      Er nahm wortlos das Tablett und machte ihr die Tür vor der Nase zu.

      Die Collage verwandelte sich allmählich in ein Gemenge. Er war es leid, die Fotos zu sortieren, und begann, die Bilder ohne Sinn und Verstand aus den Schachteln zu schütten: seine Bühnenbilder, Proben mit den Schauspielern, Landschaften der Krim und Lemberger Denkmäler. Irgendwann fiel eine Serie mit einem abgemagerten Jüngling in Schlaghose heraus, aus einer Zeit, als er seinen Vater nicht mehr um Erlaubnis gefragt hatte, wenn er rausgehen wollte, und ganze Tage in der künstlerischen Werkstatt von Walery Bortjakow vom Polnischen Volkstheater saß. Dort zeichnete er, schnitt Glas für Mosaikfenster und half, das Bühnenbild zu bauen.

      Von der Decke starrten zwei leere Augenhöhlen auf das Chaos auf dem Tisch – die Totenmaske seines Vaters nannte er insgeheim »Auge der Vorsehung«.

      Er dachte an den heutigen Morgen zurück. Irgendein Typ hatte Marianna im offenen Sarg fotografiert. Das war unwirklich: Unmittelbar vor seinen Augen wurde die Frau, die er liebte, zu einem Denkmal ihrer selbst, erstarrt zu einer Skulptur, bar jeder Intimität, eingehüllt in die Nationalflagge. Bei diesem Anblick empfand er zwei widersprüchliche Wünsche: sich neben sie zu legen und wegzulaufen, dorthin, wo der Pfeffer wächst. Er war überzeugt, dass sie ein Denkmal verdient hätte, aber ihm wäre ein anderes lieber gewesen, unsichtbar für die Augen, ganz aus Lauten gewebt. Weniger Denkmal als vielmehr ein Ort, an dem die Luft von den von ihr gesungenen Arien vibrierte, immer neu beginnend, sobald sie endeten, ohne Ermüdung, ohne Pause, ohne Beifall. Die Vorstellung des unsichtbaren Grabsteins belebte ihn ein wenig, aber gleich danach kam ihm in den Sinn, dass sie, wenn sie schon hatte gehen müssen, wenigstens ihre Stimme hätte zurücklassen können. Hätte man sie auf wundersame Weise erhalten können, so hätte er sie verwahrt, hätte sie konserviert, hier in seinem Atelier. Es war vor allem ihre Stimme, die er zu berühren und zu besitzen versucht hatte, wenn er Marianna berührt hatte. Seine Phantasie trug ihn noch weiter fort. Er stellte sich vor, er würde zu ihrem Haus laufen, an den Sarg stürzen und dem Nichts diese unvergleichliche Stimme entreißen, sie unter seinen Mantel stecken und damit nach Hause eilen, vorbei an Milizionären und Patrioten, und sich dann für immer mit ihr im Keller einschließen: Ein Perverser war er also, dem ein Teil seiner geliebten Frau genügt.

      Ein Windhauch fuhr durchs Fenster und fegte einige Fotos auf den Boden – durcheinander und falsch herum lagen sie dort wie ungewollte Gegenstände. Dies rief noch lebhafter das Bild des Leichnams im offenen Sarg und des Fotografen hervor, der etwas festzuhalten versuchte, was ohnehin schon fest und regungslos war. Er erinnerte sich auch an Mariannas Brustwarzen, wie sie unter seinen Händen hart wurden, und dachte, dass der Tod ein hemmungsloser und erbarmungsloser Liebhaber sei.

      Noch eine Zigarette wurde bis zum Filter aufgeraucht, eine weitere Kippe wurde ins Beet des Aschenbechers gepflanzt. Gleich darauf sammelte Mikolaj sämtliche Fotos vom Tisch und vom Boden, stopfte sie in einen Leinenbeutel. Die leeren Schachteln stellte er zurück ins Regal. Er zählte: zehn Schachteln, in jeder ungefähr hundert Fotos. Zehn Schachteln, tausend Fotos, sein ganzes bisheriges Leben. Eine weitere, die elfte, war unberührt geblieben: Statt entwickelter Fotos lagen darin altmodische Fotoplatten. Er hatte sie vor langer Zeit auf dem Dachboden der Villa gefunden, sie waren Teil der Legende, von der er Marianna nicht mehr hatte erzählen können. Anschließend nahm er den Beutel, trug ihn auf den Hof, warf den Inhalt in eine rostige Mülltonne und zündete sie an.

      Das kleine Müllfeuer wurde zur Sensation für die Nachbarinnen im ersten Stock, die Mikolaj ignorierte. Sie legten ihre Brüste auf das abgegriffene Balkongeländer und schauten ihm mit schweigender Missbilligung zu. Er stand mit dem Rücken zu ihnen, das Gesicht auf die Tonne gerichtet, aus der dunkle Rauchfahnen aufstiegen. Er dachte darüber nach, dass er nicht ein Foto von Marianna gemacht hatte.

      Die Türen

      Jeden Abend verschloss Urgroßmutter die Wohnungstür nach ihrem eigenen, ausgeklügelten Ritual – als glaubte sie, sie könnte uns vor ungebetenen Gästen schützen, den gleichen, die ihr Haus im Jahr 1937 aufgesucht und ihren Mann mitgenommen hatten, für immer. Sie selbst kam nie auf diese Geschichte zu sprechen, Aba dagegen rief sie uns regelmäßig in Erinnerung:

      »Abends


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