Das Licht der Frauen. Żanna Słoniowska
Fernsehteams auf, die das Echo vom Tod der Lemberger Sängerin erst nach Moskau und von dort in alle Winkel des Imperiums trugen. Sie wurde zur Hauptnachricht – für einen Tag. In der Oper tat man schon am nächsten Tag so, als hätte es sie nie gegeben. Nur wenige ihrer Kollegen kamen zur Beerdigung. Ihre Rollen wurden sofort neu verteilt, ihr Name vom Spielplan getilgt. Was hatte es schon zu bedeuten, dass die Menge ihren Namen auf den Straßen skandierte?
Ich begann zu rebellieren. Ich schrieb an Zeitschriften und an den Operndirektor. Ich spielte in der Schule Kassetten vor, auf denen Mamas Stimme noch lebendig war. Ich schnauzte den Geschichtslehrer an, einen Kommunisten, der sich spöttische Bemerkungen über ihren Tod erlaubt hatte. Ich trug ihre Kleider und ordnete ihre Papiere. In ihrem Zimmer richtete ich so etwas wie ein Museum ein mit ihren Lieblingssachen an den Stellen, wo sie gelegen hatten. Dieser Kampf gegen das Vergessen wurde zu meiner Obsession und half mir durch die ersten schrecklichen Jahre ohne sie. Doch auch das musste zwangsläufig enden – das Schiff segelte weiter.
Es kamen die neunziger Jahre: Hunger, Kälte und geplante Stromausfälle. Ich war älter geworden, und alles Ukrainische kam mir rückständig, hässlich und fremd vor. Ich habe in meiner Erinnerung jenen ohnehin lautlosen Schuss zum Verstummen gebracht, und auch all ihre Opernarien. Ich wusste nicht, wie ich der Frage entkommen sollte, ob Mama für die richtige Sache gestorben war. Ich zog in ihr Zimmer. Statt des Porträts von Salome Kruschelnytska hängte ich dort Freddie Mercury und Jesus Christus auf.
In den ersten Jahren nach dem Schuss vernachlässigte Urgroßmutter das rituelle Türabschließen. Wir legten uns ohne zusätzliche Sicherungen schlafen, und ich fand das in gewisser Weise erleichternd: Das Schlimmste war schon passiert, fürs Erste brauchte man keine Angst mehr zu haben. Doch irgendwann begann alles von Neuem: die dunkle Tür, die Kette, die helle Tür. Vielleicht tat sie das meinetwegen. Nur den Wäschekorb stellte sie nicht mehr dazu. Das morsche Weidengeflecht war schon so löchrig, dass man ihn nicht mehr hin- und herschieben konnte – er wäre sonst bestimmt auseinandergefallen.
Das Haus
Ihr Schaffellmantel ähnelte der Haut eines Tieres, ihre Haare waren tief unters Kopftuch geschoben. Sie hatte keinen Vor- und keinen Nachnamen, keine Adresse, aber von Zeit zu Zeit erschien sie in ihren Gummistiefeln in unserem schwach beleuchteten Flur und hinterließ nasse Flecken. Sie nahm den Beutel aus dreckigem Stoff von den Schultern und breitete ihn auf dem Tisch aus.
»Frisches Kalb, die Dame, nehmen Sie!«
Das Fleisch lag da: Die zerhackten Stücke waren mit weißem Fett übersät, als wären sie mit Schnee bestäubt, voll Fell und Blutspuren.
»Erst heute Morgen habe ich das Kalb geschlachtet, die Dame, nehmen Sie!«
Ich weiß noch, wie sehr es mich wunderte, dass Aba sie als »junge Frau« bezeichnete. Das konnte sie nicht ernst meinen. Sie war weder Mann noch Frau, weder jung noch alt, nicht Teil dieser Welt, in der man Straßenbahn fährt, Kuchen in der Konditorei kauft und kleine Hunde an der Leine führt.
»Ganz frisch, die Dame, ich mache Ihnen einen guten Preis!«
Ich schaute auf dieses Etwas im Laken, das heute früh noch ein lebendiges Tier gewesen war. Ich stellte mir vor, wie sie sich ihm mit gewetztem Beil nähert.
»Frisch, liebste Dame!«
Zack, zack – Blut fließt, die Beine des Kälbchens geben nach, sie schneidet es in Stücke, packt sie in ihren Beutel und eilt damit zur Vorortbahn. Niemand hält sie auf, prüft ihre Papiere, obwohl braune Flüssigkeit ihren Weg markiert.
Aba handelte hartnäckig:
»Gebt’s ein bisschen billiger, Frau!«
Sie legte die abgehauenen Stücke vom Laken auf die Küchenwaage, betrachtete sie ohne Ekel von allen Seiten.
Ich dachte an die Beinchen des getöteten Kalbes, das nie mehr laufen würde. Die Fremde trug dicke Wollstrümpfe – so etwas hatten in der Stadt nur Kinder an, ein weiterer Beweis, dass sie keine Frau sein konnte.
Über den Preis wurde man sich einig, die Teile des Tieres wurden für immer getrennt: ein paar kleine Stücke wanderten in unseren Kühlschrank, der Rest zurück in das Laken. Nun war es an der Zeit für Höflichkeiten.
»Mann? Kinder? Mutter? Schon gesät? Aufgegangen?«
»Gut! Gut! Gut!«, antwortete die Frau und seufzte schwer, als würde sie in Wahrheit sagen: »Schlecht! Schlecht! Schlecht!«
Niemals legte sie den Schafpelz ab, niemals betrat sie einen anderen Raum als den dunklen Flur.
Zack, zack mit der Axt, dachte ich, und auch wenn sie schon gegangen war, hörte ich noch ihre Stimme:
»Frisches Kalb, gut, erst heute früh erschlagen.«
Ein Bild in Urgroßmutters Zimmer: ein dunkles Gesicht, blutüberströmt.
»Böse Menschen haben ihn getötet, haben ihm die Hände mit spitzen Nägeln gespalten.«
Wann? Wie? Wofür? Weiß man nicht. Ich durfte Urgroßmutter nicht zuhören und das Bild auch nicht ansehen, denn es war böse. Die Alte mit dem Fleisch war nicht böse.
In Urgroßmutters Zimmer wurden fast nie die Vorhänge aufgezogen und auch nicht gelüftet. Das ungemachte Bett mit dem schmutzig gelben Laken, daneben stand ein großer emaillierter Nachttopf mit Deckel. Von früh bis spät lief Urgroßmutter im Schlafrock herum und verließ nur selten das Haus. Wie ein Weihnachtsbaum mit Girlanden war sie mit Lappen weißer runzliger Haut behängt, die sich gut anfühlten. Am Kopf war ihre Haut straff und rosig, bedeckt von dünner werdenden weißen Haaren, zu einer Pagenfrisur geschnitten. Ihre Augen, verzerrt durch dicke Brillengläser, ähnelten zwei Algenfressern, die sich an der Aquariumscheibe festgesogen haben.
Ich wollte dort Klavier spielen, aber zuerst musste ich mir etwas über den Gott auf dem Bild anhören: grünes Gesicht, lange Haare, ein Kranz aus Ästen auf dem Kopf.
»Es hat dem Jesuslein sehr, sehr wehgetan, als die bösen Menschen ihm die Hände durchbohrten. Das Blut spritzte in alle Richtungen. Und sie schlugen ihm weiter mit dem Hammer Nägel in die Hände.«
Urgroßmutter drängte mich sanft an die Wand, und ich starrte ihre zwei dunklen Zähne an, die einzigen, die ihr im Oberkiefer geblieben waren. Über Gott sprach sie immer auf Polnisch.
»Sie setzten ihm eine Krone aus spitzen Dornen auf, die ihn fürchterlich verletzten. Das Blut rann ihm in die Augen.«
»Es gibt keinen Gott. Gagarin war im All und hat das überprüft.«
»Er hat diejenigen bestraft, die es überprüfen wollten! Hat schreckliches Unheil über sie gebracht, Krankheiten, Behinderungen.«
Während sie das sagte, nahm sie den emaillierten Deckel vom Nachttopf, hob die Schöße ihres Baumwollschlafrocks und pinkelte im Stehen. Sie hatte kein Höschen an, ich sah den warmen, stinkenden Flaum, der sich zwischen ihren faltigen Beinen verbarg.
»Du möchtest gern spielen, mein Liebes?«
Ich legte die schwarz-weißen Zähne des Klaviers frei. Das Instrument war verstimmt, und ich konnte keine Noten lesen. Urgroßmutter nahm auf dem Bett Platz und setzte ein liebliches Gesicht auf, das jederzeit in Tränen der Rührung zerfließen konnte. Es kam vor, dass sie ein gewöhnliches Küchenmesser vom Tisch nahm und sich damit mit einem Ausdruck sinnlicher Lust den Rücken kratzte.
Mir war es verboten, Urgroßmutter zu besuchen, aber wenn Mama nicht zu Hause war, tat Aba so, als wüsste sie nicht, wo ich war.
Es war Aba, die das Porträt von Jesu mit der Dornenkrone gemalt hatte. Sie hatte sich das Blut und das grüne Haar ausgedacht, ebenso wie den halb geöffneten Mund, durch den man die Lücke zwischen seinen Vorderzähnen sehen konnte. Sie hatte auch viele andere Bilder gemalt, die in unserer Wohnung an den Wänden hingen.
»Wenn ich sterbe, tragt ihr sie alle in den Keller«, sagte sie, wenn sie schlecht gelaunt war. Und ich stellte mir den Tod als einen Keller voller Gemälde vor.
Aba