Das Licht der Frauen. Żanna Słoniowska
ist ihre Hand so groß?«
»So hat der Künstler sie gesehen. Künstler sehen die Welt anders als gewöhnliche Menschen.«
»Ich will auch Künstlerin werden!«
»Du wirst, wer du sein willst!«, rief Aba, und Zorn verdunkelte ihren Blick.
Sie wäre sehr gern Malerin geworden, aber Urgroßmutter hatte es nicht erlaubt. Das muss etwa so ausgesehen haben:
»Mama, ich habe mich bei der Akademie der Schönen Künste beworben, im Fachbereich Grafik.«
»Kommt nicht infrage.«
»Mama, ich habe mich schon beworben.«
»Dann gehst du hin und ziehst die Bewerbung zurück.«
»Mama, ich bin Malerin. Das ist meine Berufung.«
»Du hast kein Talent, du wirst in Armut leben.«
»Mama …«
»Schluss jetzt, meine Liebe. Vergiss nie, dass ich dir im Krieg den letzten Bissen Brot gegeben habe.«
Wie von Urgroßmutter vorgesehen, wurde Aba Ärztin. Bald darauf ereilte sie eine unheilbare Gelenkerkrankung. Jede Bewegung bereitete ihr solche Schmerzen, als würde sie von Tausenden spitzen Messern gestochen werden. Abas Hände waren überproportional groß und geschwollen wie die Hand der Frau aus dem Album, und dennoch machte sie alles mit ihnen: Gemüse und Fleisch schneiden, Wäsche waschen, den Fußboden schrubben. Ihr Gesicht war aus warmem und durchsichtigem Stoff gewebt, die Gesichtszüge entzogen sich jeglicher Beschreibung, und über ihrem Kopf leuchtete Tag und Nacht ein leicht in Mitleidenschaft gezogener Heiligenschein. An ihren Körper dagegen erinnere ich mich gut – schwer und klobig, grob gezimmert, wie alle sowjetischen Geräte, die immerzu kaputtgehen. Sie sprach immer Russisch, betonte aber häufig:
»Ich bin Polin mit Haut und Haar.«
Dabei traten ihr immer Tränen in die Augen, und so dachte ich lange, Polnisch zu sein sei so etwas wie eine unheilbare Krankheit, gegen die es keine Medikamente gab.
Ein anderer Pole war Tadeusz Kościuszko von dem Bild über ihrem Bett. Er und seine Gefährten trugen Sensen auf dem Rücken. Auch die eleganten Herren mit Hüten waren Polen, die sogar einer Halbwüchsigen wie Aba die Hand küssten, als sie 1944 nach Lemberg kam und sich endlich wie zu Hause, das heißt in Polen, fühlte. Doch in den folgenden Jahren verschwand Polen mit seinen schicken Männern aus Lemberg. Wohin? Irgendwohin weit weg, ins Ausland. Warum? Weiß man nicht. Aba blieb zurück, weil sie nicht mitgenommen wurde.
»Wenn ich weggegangen wäre, würde es weder deine Mutter noch dich geben«, tröstete sie sich. »Oder ihr wärt jemand völlig anderes.«
Als Mama erwachsen war, beschloss sie, Sängerin zu werden, doch das war auch nicht einfach. Es muss mehr oder weniger so ausgesehen haben:
»Großmutter, ich will mich am Konservatorium bewerben.«
»Kommt nicht infrage.«
»Großmutter, ich habe meine Bewerbung schon eingereicht.«
»Dann gehst du hin und ziehst sie zurück.«
»Großmutter, ich bin Sängerin. Das ist meine Berufung.«
»Du hast kein Talent, du wirst in Armut leben.«
»Großmutter …«
»Schluss jetzt, meine Liebe. Ich habe dir mein ganzes Leben geopfert, so dankst du es mir?«
»Ich werde Sängerin, auch wenn du dafür sterben musst.«
Als Antwort riss Urgroßmutter das Fenster auf und schrie mit schriller, lauter Stimme:
»Hilfe! Rettet mich! Ruft die Miliz! Mord und Totschlag!«
Aber niemand nahm ihre Schreie zur Kenntnis. Mama blieb stur, kam ans Konservatorium und redete nicht mehr mit Urgroßmutter.
Wenn ich mit Aba zur Premiere ins Theater ging, dachte ich bisweilen an Selbstmord. Jemand hatte mir erzählt, dass sich der Architekt Zygmunt Gorgolewski das Leben genommen habe, nachdem das nach seinen Entwürfen gebaute Große Theater wegzusacken und zusammenzubrechen drohte. War das womöglich die Strafe dafür, dass Gorgolewski die Peltew unter die Erde verlegt hatte, fragte ich mich, während wir die mit leuchtenden Nelken, den Symbolen der Oktoberrevolution, verzierte Allee entlanggingen? Genau hier war sie einst geflossen, aber er hatte sie in ein Korsett aus Steinplatten gezwängt. In den unterirdischen Fluss wurden die Abwässer geleitet, deshalb stank die Leiche der Peltew ständig. Wer schön sein will, muss leiden, sagte Aba, während sie mir Zöpfe flocht. War die Oper vielleicht so eine Schönheit, die Zygmunt Gorgolewski verschlungen hatte, nachdem er zuvor die Peltew vertilgt hatte?
Mama war auf der Bühne viel größer als im wahren Leben, und ehrlich gesagt, war sie nicht Mama. Ich schloss die Augen, um nicht zu sehen, wie unecht sie in ihrem Kostüm aussah. Ich faltete die Hände auf der Brust – ihre Stimme drohte mein Innerstes zu zerreißen. Zu Hause sang Mama keine Opernarien, sodass ich bei jeder Vorstellung aufs Neue diese andere Stimme in ihr wiederentdeckte. Sie durchdrang mich trotz des Schutzschildes meiner Finger, ließ mich an die Sirenen denken, die die Seeleute mit ihrem Gesang zu den steilen Klippen locken. Der Zuschauerraum war das Schiff und die Bühne die Insel der Sirenen. Ich segelte auf die im Orchestergraben verborgenen Felsen zu, das gewaltige Vibrato wurde schneller, und ich konnte ihm nicht widerstehen. Die Vorahnung einer drohenden Katastrophe schmeckte süß wie die rosa Barbaris-Fruchtbonbons, die ich heimlich lutschte und deren scharfe Ränder mir in Zunge und Gaumen schnitten. Wenn das Schiff kurz vor dem Untergang war, hielt ich mir mit einer raschen, diskreten Bewegung die Ohren zu, öffnete dann die Augen und musterte das seidige Bordeauxrot der Sessellehnen.
Nach der Vorstellung drehte Mama sich in der Garderobe auf ihrem Stuhl um, wusch die Schminke ab und setzte mir das Diadem der Aida oder die Perücke der Carmen auf. Auch jenseits der Bühne hatte sie eine volle Stimme. Ihr kurzes, helles lockiges Haar schien sie nach oben zu ziehen, statt nach unten zu fallen, sodass ich dachte, sie besitze die Gabe, über der Erde zu schweben. Wenn ich sie nicht sehe, stellte ich mir vor, wohnt sie bestimmt in einem Palast aus Wolken und Eis, so wie die Schneekönigin.
»Habe ich heute gut gesungen?«, fragte sie.
Statt zu antworten gab ich mich jünger, als ich war: Ich senkte den Blick, knabberte an meiner Bluse. Dann ließ sie angewidert von mir ab und fragte Aba.
»Großartig, Marianna«, bekam sie zur Antwort. »Ausgezeichnet. Wunderbar.«
Ich hätte auch gern aufrecht dastehen und würdevoll sagen mögen:
»Großartig. Ausgezeichnet. Wunderbar.«
Doch das war unmöglich. Schon vor längerer Zeit war entdeckt worden, dass ich kein Gehör für Musik hatte – absolut gar keins, ohne Aussicht auf Besserung. Aus diesem Grund wurde das Klavier in Urgroßmutters Zimmer getragen, wo ich keinen Zutritt hatte. Ich musste mit meinem Geklimper in den Untergrund gehen, wie die Peltew. Ich war der Oper nicht würdig, der Premieren nicht und Mama nicht. Ich wollte nach Hause.
Die Topografie unserer Wohnung stand ein für alle Mal fest: So wie Meere, Berge und Wüsten ihre Position auf der Landkarte nicht verändern, so war bei uns die Verteilung der Möbel, Geräte und Einrichtungsgegenstände unveränderlich. Diese Beständigkeit der Dinge war vermutlich die Antwort auf die Instabilität der menschlichen Schicksale. Der Mann meiner Urgroßmutter, mein Urgroßvater, wurde 1937 in Leningrad bei der »polnischen Säuberung« verhaftet und ist danach spurlos verschwunden. Der Mann meiner Großmutter, also mein Großvater, hat als Offizier der Roten Armee den Krieg überlebt und ist bis nach Berlin gekommen, um dann Mitte der sechziger Jahre an etwas zu sterben, was wir heute als chronische Depression und Leberzirrhose bezeichnen würden. Was meinen Vater betrifft, so hatte ich Zweifel, ob es ihn überhaupt gegeben hatte.
Ich war die Frucht einer kurzen, poetischen Romanze im Sommer 1977. Am 1. Juni lernten meine Eltern – Mama war im letzten Jahr ihres Gesangsstudiums, mein Vater war ein junger Architekt aus Moskau