Der Schreckenswald des Hoia Baciu. Marie Kastner

Der Schreckenswald des Hoia Baciu - Marie Kastner


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an den Wald verlieren?«, jammerte eine ältere, hagere Frau namens Sofia, die sich zum Ausruhen auf einen flachen Felsen gesetzt hatte. Sie hielt ihre krallenartigen, runzlig-fleckigen Hände im Schoß gefaltet. Da ihr Ehemann im vergangenen Winter verstorben war, kümmerte sich seither der einzige Sohn um sie. Und der weilte gerade in einem Waldstück, das seit Generationen ein Zentrum für unerklärliche Phänomene zu sein schien.

      »Pah, lass das Jammern lieber bleiben. Mir ist ohnehin schon nach Davonrennen zumute«, sagte Tereza vorwurfsvoll. »Außerdem habe ich da drüben gerade ein verräterisches Knacken gehört. Ich glaube, sie kommen!«

      Alle Blicke richteten sich auf den Waldrand. Nur Sekunden später traten die herbeigesehnten Männer fast zeitgleich ins helle Tageslicht, beschirmten ihre Augen mit den Händen. Sie wirkten bei weitem nicht mehr so forsch und mutig wie noch vor zweieinhalb Stunden. Der gesuchte Schafhirte war allerdings nicht unter ihnen.

      »Und?«, bohrte die vorlaute Tereza ungeduldig nach. Männer waren ja sowas von maulfaul!

      »Nichts. Es sieht danach aus, als wären sie außerhalb des Waldes geblieben. Und bei euch?«

      »Spuren gibt es trotz der Regenfälle, sogar jede Menge davon. Niedergetrampeltes Gras, Kot, abgerupfte Kräuter, Brotkrümel

      … aber weit und breit kein Hoia, kein Hund und erst recht kein Schaf. Weder lebend noch tot«, antwortete Tereza augenrollend. Die Männer setzten sich ins Gras und wurden mit einer Vesper aus dem mitgebrachten Korb versorgt.

      Am späten Nachmittag machte sich die Truppe ergebnislos auf den weiten Nachhauseweg. Mirela musste gestützt werden. Gut fünfundzwanzig Kilometer, die sie über Stock und Stein gewandert waren, steckten den hilfsbereiten Dorfbewohnern in den müden Beinen. Sie mussten die Suche schweren Herzens abbrechen, zu Hause ihre Tiere versorgen.

      Tereza sah den wortkargen Männern überdeutlich an, dass sie im Wald auf etwas Unaussprechliches gestoßen sein mussten. Hatten sie womöglich Hoias Leiche gefunden und wollten ihre grausige Neuigkeit nur aus Pietätsgründen noch nicht preisgeben? So unauffällig wie irgend möglich schob sie sich beim Gehen näher an ihren Vater Toma heran.

      »Was ist da drin vorgefallen? Mir kannst du es doch sagen!«, gurrte die hübsche Siebzehnjährige mit einem taktischen Augenaufschlag. Der verfehlte seine Wirkung selten, was sie sehr genau wusste. Toma wiederum kannte seine Jüngste. Die würde garantiert nicht locker lassen, bevor sie ihn nach allen Regeln der Kunst ausgequetscht hatte. So ergab er sich ins Unvermeidliche, blickte sich links und rechts über die Schultern um sicherzustellen, dass sonst niemand zuhörte, und schilderte mit leiser Stimme die Waldbegehung.

      »Du erinnerst dich doch sicher, dass ich dir als Kind von einer kreisrunden Lichtung erzählt habe, auf der zu keiner Jahreszeit jemals Pflanzen wachsen? Diese Stelle wird landläufig Tanzboden des Teufels genannt. Im Winter sieht sie übrigens genauso aus wie jetzt, selbst Schneeflocken meiden sie. Rundherum liegt dann ein Meter Schnee, doch der Kreis bleibt frei.

      Wahrscheinlich war noch niemand so dumm, die ebene Fläche zu betreten oder gar näher in Augenschein zu nehmen. Man spürt instinktiv, dass dies ein kapitaler Fehler wäre. Die umstehenden Bäume biegen sich weg, kein Zweig ragt hinein.

      Nun, wir sind vorsichtig am Rand dieses unheimlichen Ortes entlang gegangen und haben festgestellt, dass selbst der Wind ihn zu meiden scheint. Nichts rührte sich, man hörte nichts und konnte dort nicht einmal mehr das nasse Gras riechen. Man meint, die Natur halte den Atem an. Und die Lichtverhältnisse passen nicht zur Tageszeit! Obwohl das Sonnenlicht direkt von oben einfallen müsste, wirkt die kahle Stelle düster, was ich mir überhaupt nicht erklären kann.

      Wenige Meter weiter fiel Radu dann auf, dass an mehreren Bäumen einzelne Äste verbrannt aussahen und auch so rochen. Dabei kann es in diesem kleinen Wald in letzter Zeit nicht gebrannt haben, denn das hätte man weithin gesehen! Normalerweise fackeln Bäume zudem vollständig nieder, wenn sie einmal Feuer gefangen haben, nicht jeweils nur einzelne Äste, oder? So ähnlich wie die Pappel am Wegrand. Es müsste versengtes Gras zu sehen sein, oder wenigstens Rußspuren … !«

      Tereza nickte mit weit aufgerissenen Augen. Ihr lief es eiskalt den Rücken hinunter, doch sie hielt Wort und wahrte das Geheimnis. Es reichte, dass sie sich durch eigene Schuld nun noch mehr als zuvor ängstigte, aber diese Erfahrung wollte sie den restlichen Frauen nicht auch noch zumuten.

      Und tatsächlich, in der folgenden Nacht suchten sie fürchterliche Albträume heim. Schwitzend wälzte sich Tereza kreuz und quer durch ihr Nachtlager. Mehrfach stand sie auf, spähte mit wild pochendem Herzen durch das Fenster ihrer Kammer zur dunklen Silhouette des Waldes hinüber. Glomm dort ein grünliches Licht? Vermutlich nur Einbildung – oder doch nicht?

      Das hatte sie nun von ihrer leichtfertigen Neugierde! Dieser verdammte Wald … Tereza nahm sich fest vor, so weit wie möglich vom Schauplatz des Grauens wegzuziehen, sobald sie einen lieben Ehemann gefunden hätte.

      In den folgenden Wochen befragten die ratlosen Dorfbewohner jeden, dessen sie habhaft werden konnten, aber durch keines der angrenzenden Dörfer war der Hirte gewandert. Auch der örtliche Polizeiposten fahndete nach dem Verbleib von Hoia Baciu – oder gegebenenfalls seiner Leiche. Vergeblich, der Schäfer war und blieb spurlos verschollen.

      Nach einem Jahr wurde für die Polizei ein ungeklärter Vermisstenfall aus der Sache. Für die abergläubischen Einwohner der Dörfer rund um den Wald stand hingegen fest, dass sich die Mächte der Finsternis Hoias bemächtigt hatten und sie ihn niemals wiedersehen würden. Sicher … es kam durchaus vor, dass Personen Verbrechen zum Opfer fielen und man sie beseitigte. Leichname wurden, soweit sie nicht begraben waren, meist von wilden Tieren gefressen. Aber mitsamt einer kompletten Herde? Das war mehr als mysteriös, da mussten einfach Dämonen am Werk gewesen sein – oder gar der Leibhaftige selbst!

      Hoias untröstliche Ehefrau Mirela nahm sich vor Einbruch des folgenden Winters das Leben. Sie erhängte sich der Überlieferung nach in einer stürmischen Nacht am Rande des Teufelswaldes.

      Valeriu und Radu warnten ihren Kinder und Kindeskinder eindringlich von jenem Waldstück, das Lebewesen spurlos verschwinden ließ. Genau wie die restlichen Bewohner des Landstrichs im Kreis Cluj. Und dennoch kam es vor, dass sich, über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg, immer wieder törichte Menschen in die Nähe dieses verhexten Ortes wagten. Insbesondere Ausländer trieb die pure Neugierde, welche nicht selten als Forschergeist deklariert wurde, dorthin.

      

       Kapitel 2

      Der Nabel des Wahnsinns?

       Popeşti/Pfaffendorf, Kreis Cluj, Spätherbst 1954

      Das beschauliche Dörfchen Popeşti bestand gerade mal aus fünf bescheidenen Wohnhäusern und einer aus Holz erbauten Kirche, vor welcher ein vergleichsweise riesiges Kruzifix aufgestellt war. Es sollte alle bösen Einflüsse von den Bewohnern fernhalten und das schien auch bitter nötig zu sein.

      Im Jahr 1848 hatten sich rumänische Bauern aus dem Landkreis Cluj in der nahen Kleinstadt Luna versammelt, um gegen die Einberufung in die ungarische Revolutionsarmee zu protestieren. Am 12. September desselben Jahres verübte diese Armee, der Geschichtsschreibung nach, unter den Aufständischen ein Massaker. Es forderte dreißig Todesopfer. Unter den Opfern dieser Bluttat war auch ein Bauernsohn aus Popeşti gewesen und seither hielt sich hartnäckig die Mär, dass es in der Gegend spuke.

      Aus dieser geschichtlich belegten Begebenheit hatte sich mit der Zeit ein regelrechter Volksglauben entwickelt. Man erzählte sich über Generationen hinweg mit einem gehörigen Schaudern, dass die Seelen der Ermordeten zwischen den Bäumen des nahe gelegenen Baciu-Waldes gefangen seien, dort bis in alle Ewigkeit ruhelos umhergehen müssten. Mit giftgrün schillernden Augen, die aus schwarzen Nebelschwaden leuchteten, machten sie angeblich die Lebenden auf ihre Qual aufmerksam.

      Wann immer überlieferte Geschichten lange genug von Mund zu Ohr weitergegeben werden, gelten sie schon nach wenigen Jahrzehnten und Generationen als Legenden. Fakten und subjektive Erinnerungen


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