Der Schreckenswald des Hoia Baciu. Marie Kastner

Der Schreckenswald des Hoia Baciu - Marie Kastner


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Schäfer benannt war, jagte ihr auch nach acht Jahren noch eiskalte Schauer über den Rücken. Aber sie hatte damals ihm zuliebe zugestimmt. Er hatte im Grunde ja recht – man brauchte nur den merkwürdigen Wald zu meiden. Der Boden dieser Gegend war fruchtbar, das Haus in einem noch annehmbaren Zustand. Was wollte man mehr? Nun ja, sie konnte und wollte das Kind nicht einsperren. Marta musste wie alle anderen Kinder lernen, dass der Wald tabu war. Dann wäre dieser Wohnort so sicher wie jeder andere auch.

      Und doch … immer wieder tauchten haarsträubende Geschichten auf. Mal war in der Nachbarschaft die Rede von verwirrten Wanderern, die jede Orientierung verloren hatten, mal wurden nachts grüne Lichter beobachtet, die geisterhaft zwischen den Bäumen zu schweben schienen. Im vergangenen Herbst gar hatte der alte Ciprian beim Pilze suchen am Waldrand angeblich fünf metallische Zylinder entdeckt, die kreisförmig aufgestellt gewesen waren. Realität oder Einbildung? Wie auch immer … diese Entdeckung musste den Achtundsiebzigjährigen so sehr aufgeregt haben, dass er einen Tag später an einem Schlaganfall verstarb.

      Während Anna nachdenklich jätete, übte sich ihre kleine Tochter im Weitwerfen. Sie stellte sich dazu auf einen Felsblock, hob den Ball über den Kopf und versuchte, ihn über die mit einem Stock gekennzeichnete Markierung zu befördern. Hurra, wieder ein neuer Rekord!

      Ein wenig außer Atem gekommen, legte Marta ihren Stock gut einen halben Meter weiter in Richtung des Waldrandes. Immer wieder schielte sie mutig dorthin. Zwischen den Bäumen sah es doch eigentlich ganz normal aus, überhaupt nicht gefährlich. Jetzt, am späten Nachmittag, war der verhexte Ort in ein warmes goldgelbes Licht getaucht, das ließ ihn wunderschön aussehen. Zartgrüne Blätter knospten an den Bäumen, Vögel sangen.

      Marta stellte sich wieder auf ihrem Felsen in Position, holte tief Luft und strengte sich ganz besonders an. Weit flog der Ball, viel weiter, als sie es für möglich gehalten hätte. Sie jauchzte vor Freude, beschirmte ihre Augen gegen die tief stehende Sonne und suchte aufmerksam die Wiese ab. Verflixt – wo war der knallrote Ball mit den weißen Punkten bloß gelandet? Wenn er im Gras lag, sah er immer wie ein großer Fliegenpilz aus. Aber sie konnte nichts dergleichen erkennen.

      Zehn Minuten später standen dem Mädchen Tränen in den großen Augen. Ihr geliebtes Spielzeug war beim besten Willen nicht auffindbar, obwohl sie die Umgebung sorgfältig abgesucht hatte. Tante Baba hatte ihn ihr zu Weihnachten geschenkt. Ob sie vielleicht lieber nach ihrer Mutter rufen sollte? Aber Mama hatte doch schon so viel Arbeit und musste nachher noch kochen …

      Wieder ein großer Schritt Richtung Waldrand. Nichts geschah, auch der Ball blieb verschwunden. Mittlerweile grummelte Martas Magen. Sie blieb stehen, drehte grübelnd ein Zopfende um ihren rechten Zeigefinger.

      Da, was war denn das? Sie kannte diesen wunderschönen Anblick seit dem letzten Sommer, als die Familie Oma Ionescu in den Bergen besucht hatte. Ein Strauch mit dicken, roten Himbeeren leuchtete zwischen zwei schlanken Birkenbäumen hervor! ›Hmmm … diese Beeren schmecken sooo lecker … man muss nur aufpassen, dass kein Würmchen darin wohnt, bevor man sie in den Mund steckt‹, erinnerte sich das Kind.

      Marta lief beim Gedanken an die fruchtigen Köstlichkeiten augenblicklich das Wasser im Mund zusammen. Ihr Bäuchlein zwickte, als wolle es sie zum Naschen auffordern.

      Ach, was sollte da schon passieren? Von hier aus konnte sie schließlich den kleinen Hügel noch sehen, der direkt gegenüber ihrem Elternhaus lag. Wenn sie kurz dorthin ginge, wäre sie ja eigentlich noch nicht im Wald, sondern nur an dessen Rand … und da – genau vor dem Himbeerstrauch lag auch der gesuchte Ball! Martas Entschluss stand fest. Sie würde ihn holen gehen, schnell ein paar der saftigen Beeren pflücken und dann wie der Wind zurück nach Hause laufen.

      Dass Waldhimbeeren normalerweise erst Ende Juli/Anfang August reif werden, konnte die Kleine natürlich nicht wissen. Und genau diese kindliche Sorglosigkeit wurde ihr jetzt zum Verhängnis.

      *

      Anna Ionescu trat aus dem Gartentürchen, formte ihre Hände zu einem Trichter. »Marta! Komm endlich, es gibt heute deine Lieblingsnudeln!«

      Keine Antwort.

      ›Ach, dass dieses lebhafte Kind über dem Spielen aber auch immer völlig die Zeit vergessen muss!‹, dachte die junge Mutter schmunzelnd. Die Sonne ging schon unter, schickte die letzten Strahlen über den kleinen Hügel. Es wurde allmählich höchste Zeit, dass Marta zurückkehrte. Kopfschüttelnd erklomm Anna die sanfte Anhöhe, die einen weiten Rundumblick zuließ. Ein kühles Lüftchen ließ sie frösteln.

      Sie erwartete eigentlich, ihre Tochter inmitten der Wiese sitzen zu sehen, versunken einen bunten Blumenkranz flechtend. Das Mädchen war geschickt in solchen Dingen. Manchmal suchte sie nach vierblättrigen Kleeblättern, die sie hinterher in einem dicken Buch presste um das Glück für die Ewigkeit zu konservieren. Oder sie rupfte mit Feuereifer einen Strauß Wiesenblumen, verschenkte ihn mit einem Küsschen. Besonders die dottergelben Schlüsselblumen hatten es ihr schwer angetan.

      Anna erstarrte vor Schreck. Die Wiese lag still und verlassen in der hereinbrechenden Dämmerung, kein Kind war weit und breit zu sehen! Sie schrie, so laut sie nur konnte. »Martha! Bitte mein Schatz, tu mir das nicht an. Komm heraus, zum Versteckspielen ist es zu spät. Es wird bald dunkel!«

      Doch kein schokoladenbrauner Haarschopf tauchte zwischen den Gräsern auf, kein Kinderlachen erklang. Immer hysterischer rief die Näherin nach ihrer Kleinen – vergebens. Ein Schwarm Krähen ließ sich lärmend am Waldrand nieder, als wäre es ein böses Omen.

      Die letzten Sonnenstrahlen verblassten gerade am Horizont, als die besorgte Mutter wie von Sinnen Richtung Wald hastete. Erste Nebelschwaden quollen daraus hervor. Sie färbten sich im Zwielicht graugelblich, was der Szenerie einen schaurigen Anstrich verlieh.

      Anna schickte in Gedanken ein Stoßgebet zum Himmel, obwohl sie nur pro forma dem katholischen Glauben angehörte.

      ›Oh Gott, lieber Gott, bitte hilf uns! Mach, dass sie nicht da drin ist!‹ Aber wo hätte sie sonst nach ihrer Marta suchen sollen? Sie verspürte keine Angst um ihr eigenes Leben, wollte einfach nur ihr geliebtes Kind wieder in die Arme schließen. So betrat Anna das vermaledeite Waldstück, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern.

      »Marta, bist du da irgendwo? Hast du dich verirrt, mein Liebling? Falls du mich hören kannst, bleib bitte stehen und antworte mir. Dann weiß ich, wo du bist und kann dich sofort holen kommen. Du musst keine Angst haben, ich werde nicht mit dir schimpfen! Wir gehen heim und essen Nudeln mit Tomatensoße«, schrie die aufgelöste Mutter zwischen die Bäume.

      Nichts. Keuchend bahnte sich Anna einen Weg durch Sträucher, über moosige Wurzeln und am Boden liegendes Totholz. Da sich niemand freiwillig in diesem Waldstück aufhielt, gab es darin natürlich keine angelegten Spazierwege. Mehrfach schlug die Fünfundzwanzigjährige hin, riss sich dabei die Knie auf, zerkratzte sich Gesicht, Arme und Beine. Sie bemerkte es kaum. Schluchzend arbeitete sie sich Meter für Meter voran, ziellos und verzweifelt.

      Da! Ein helles Kinderlachen … nein, mehr ein Kichern! Anna stoppte abrupt, ihr blieb schier die Luft weg. »Marta!!! Wo bist du? So sag doch was!«

      Es kam keine Antwort. Immer wieder rief Anna den Namen ihrer Tochter in die grauschwarze Dunkelheit, doch der Wald schien ihre Stimme zu dämpfen. Es war vollkommen windstill, ein fahler Vollmond ging über den Baumwipfeln auf; außer dem Knistern und Knacken der Zweige, auf die Anna beim Gehen trat, war überhaupt kein Geräusch mehr zu hören. Längst hatte sie die Orientierung verloren.

      Jäh schoss der jungen Frau ein schrecklicher Gedanke durchs Gehirn. Ihr Ehemann musste inzwischen zu Hause eingetroffen sein und sie hatte es vor dem Losgehen versäumt, einen Zettel zu hinterlegen! Anstatt sie beide zu suchen oder die Polizei zu alarmieren, würde er bestimmt annehmen, dass sie mit Marta irgendwo hingefahren sei und lediglich vergessen hätte, ihn zu informieren. Außerdem hatte sie vorhin in der Annahme, gleich zurückzukehren, die Herdplatte angelassen … wie lange mochte das her sein? Zwei Stunden vielleicht? Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren. Himmel, hoffentlich brannte das Haus nicht ab!

      Weinend irrte sie weiter durch die Dunkelheit. Ihre Stimme wurde heiser, das stetige Rufen nach


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