Der Schreckenswald des Hoia Baciu. Marie Kastner

Der Schreckenswald des Hoia Baciu - Marie Kastner


Скачать книгу
ab, die seelischen jedoch nicht. Sie konnte seit jenem schicksalsschweren Tag im Frühling 1975 als menschenscheu, verschroben und depressiv gelten.

      »Meine Tochter ist im Teufelswald gefangen, wartet dort auf uns … wir müssen sie endlich befreien. Sie lebt noch!«, insistierte Anna stereotyp. Niemand nahm das für bare Münze, obwohl oder gerade weil sich etliche Legenden um diesen Ort spannen. Viele gingen davon aus, dass sie mit ihren Schauergeschichten lediglich von ihrer eigenen Gräueltat ablenken wollte. Alle paar Tage irrte sie kreuz und quer durch das Waldstück und kam kreidebleich zurück.

      Nahezu der Einzige, der weiterhin felsenfest an Annas Unschuld glaubte, war ihr liebender Ehemann. Er war wild entschlossen, den mutmaßlichen Mädchenhändler, der seine Tochter mitgenommen und seine Frau als seelisches Wrack zurückgelassen hatte, eines Tages auf bestialische Weise zur Verantwortung zu ziehen.

      Die Zigeunerclans der Umgebung suchten die Schuld für Martas geheimnisvolles Verschwinden eher in den finsteren Mysterien eines heimtückischen Waldes, über welchen man sich schon an den Lagerfeuern ihrer Vorfahren so allerlei Haarsträubendes erzählt hatte.

      *

       Kreis Cluj, 29. April 1980

      Es regnete in Strömen. Ein böiger Wind trieb faserige Wolkenfetzen in rasender Geschwindigkeit über den grauen Himmel. Die Luft war für die Jahreszeit zu kühl, roch nach feuchter Erde und den Abgasen der nahen Stadt. Das nordostrumänische ClujNapoca wuchs unaufhörlich, Industrie siedelte sich an und die Fahrzeugdichte nahm zu. Wann immer eine undurchdringliche Wolkenschicht über der Landschaft hing, drückte diese den braungrauen Rauch von stinkenden Fabrikschloten und Autoauspuffen nach unten.

      Auf einer kreisrunden Waldlichtung nahe der Ortschaft Baciu stand verdutzt ein kleines, etwa fünfjähriges Mädchen im Sommerkleid, das fröstelnd einen knallroten Ball mit weißen Punkten umklammert hielt.

      ›Wie bin ich nur hierhergekommen? Gerade schien doch noch die Sonne und ich habe am Waldrand ein paar Himbeeren gepflückt … ich muss sogleich nach Hause, sonst wird es dunkel. Mama macht sich bestimmt schon Sorgen‹, dachte das Kind.

      Die Kleine drehte sich mehrmals um die eigene Achse, konnte jedoch den Waldrand nirgends entdecken. Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie war unschlüssig, in welche Richtung sie gehen sollte. Schließlich fasste sie sich ein Herz und tapste einfach los.

      Nach wenigen Schritten hatte sie den Rand der Lichtung erreicht. Mit einem schmatzenden Geräusch versank ihr rechter Fuß mitsamt der leichten Sandale bis zum Knöchel im morastigen Boden. Erschrocken zog sie ihn heraus, hüpfte instinktiv einen Schritt zurück. Wieso war der Boden dort vorne matschig und hier auf der kleinen Lichtung nicht?

      Sie versuchte an mehreren Seiten, die Stelle trockenen Fußes zu verlassen, erzielte aber überall dasselbe Ergebnis. Schließlich zog sie Sandalen und Söckchen aus, nahm beides in die freie Hand und quälte sich dort weiter über den Waldboden, wo ihr der zähflüssige Dreck am seichtesten schien. Nach etwa einhundert Metern erreichte sie festeren Grund. Hier war der Boden von Fichtennadeln und Blaubeersträuchern bedeckt. Das Mädchen blieb stehen, sah sich ängstlich um. Es dämmerte.

      »Mama, kannst du mich bitte abholen kommen? Ich fürchte mich«, rief sie mit ihrer silberhellen Stimme. Natürlich hörte sie niemand. Der Ort, an dem sie sich gerade befand, erinnerte sie allzu stark an schreckliche Szenen aus einigen Märchen, die sie eigentlich sehr liebte. Jetzt allerdings wäre sie gerne zu Hause in der warmen Stube gewesen und hätte von einem düsteren Wald nichts hören oder sehen müssen. Immer wieder sah sie beunruhigt über ihre linke Schulter zurück.

      Während sie weinend weiterging, verwandelte sich der gleichmäßige Regenguss in einen Wolkenbruch. Die Tropfen verbanden sich miteinander, prasselten wie silbrige Bindfäden vom Himmel herab. Nach wenigen Schritten blieb das Kind irritiert stehen. Etwas war völlig anders als sonst … genau, man hörte das Rauschen des Regens gar nicht! Normalerweise klatschten Tropfen auf Blätter und Äste, zerschellten anschließend auf dem Boden. Plitsch – platsch … Oft hatte sie diesen gleichmäßigen Geräuschen gelauscht und es bedauert, wenn sie bei schlechtem Wetter nicht draußen spielen durfte.

      Mittlerweile war es stockdunkel geworden. Das Sommerkleid schlotterte ihr klitschnass um die Beine, der Regen schien also echt zu sein. Doch es war trotzdem still hier, totenstill. Da kamen ihr plötzlich die warnenden Worte ihrer Mutter wieder in den Sinn.

      ›Der Wald ist verhext, Marta. Geh niemals dort hinein!‹

      Und nun war sie wegen ihrem Appetit auf Himbeeren doch irgendwie in den Wald gelangt. In einen finsteren Wald, in dem es sogar verhexten Regen gab. Hätte sie ihren Fehler doch rückgängig machen können!

      *

      Den Rest der Nacht verbrachte Marta zusammengekauert in einer kleinen Bodenmulde, unter dem schützenden Blätterdach einer Buche. Nachdem sie ein paarmal hingefallen war, hatte sie verstanden, dass weiteres Herumirren in der totalen Dunkelheit keinen Sinn machte. Frierend schlang sie ihre dünnen Ärmchen um den kleinen Körper. Das dünne, total durchnässte Sommerkleid wärmte ihren Körper überhaupt nicht, ganz im Gegenteil. Ihre Füße fühlten sich wie taube Eisklumpen an.

      Das Mädchen wagte kaum die Augen zu schließen, obwohl es todmüde war. Es hatte in der Ferne etwas wie Wolfsgeheul vernommen, fürchtete sich sehr. In Martas heißgeliebten Märchen kamen schließlich immer wieder böse Wölfe vor, die Arges im Schilde führten. Jedes Geräusch ließ sie zusammenfahren, vor Angst wimmern. Die Zeit schien stehengeblieben zu sein. Warum wurde es immer noch nicht hell?

      Oh je … sie glaubte den Grund zu kennen, erinnerte sich plötzlich an jedes einzelne Wort einer überlieferten Geschichte, die ihr Mama erst vor einigen Tagen zum x-ten Mal beim Zubettgehen wieder erzählt hatte. Wie ging die noch gleich?

      »Einst war die Sonne als junges Fräulein auf die Erde herabgestiegen. Sie blieb aber nicht lange hier, denn ein böser Drache erfasste sie und schloss sie in seiner Burg ein. Die ganze Welt verfiel in Dunkelheit. Die Menschen waren traurig und die Kinder vergaßen das Spielen. Ein tapferer junger Mann beobachtete, was ohne Sonnenschein auf der Erde los war. Er beschloss, den Drachen zu bekämpfen und das Mädchen zu befreien. Das tat er dann auch. Er schaffte es, den bösen Drachen zu bezwingen und die Sonne wieder in Freiheit zu setzen«, murmelte Marta verstört vor sich hin.

      War der gefräßige Drache zurückgekehrt, hatte er erneut die Sonne eingesperrt? Dann würde es nie wieder hell werden – und sie wäre verloren.

      »Mami, bitte komm mich doch holen! Ich fürchte mich, halte es nicht mehr aus«, wisperte sie und barg ihren Kopf zwischen den Knien. Sie fror inzwischen dermaßen, dass ihre Zähne aufeinander klapperten.

      Als Marta den Kopf wieder hob, um sich mit dem Unterarm das tränennasse Gesicht zu trocknen, stutzte sie. Der Drache konnte offenbar die Sonne doch nicht gefressen haben! Ganz zaghaft stahlen sich die ersten Strahlen der Morgendämmerung zwischen den Bäumen hindurch. Lichtreflexe tanzten auf ihrer geröteten Stupsnase, streichelten die Haut mit noch kaum spürbarer Wärme.

      Wenige Minuten später wollte sie sich erheben, weil sich allmählich die Silhouetten von Bäumen, Gräben und Büschen aus der Dunkelheit schälten, immer deutlicher sichtbar wurden. Sie musste weitergehen, endlich einen Ausgang aus dem verhexten Waldstück finden. Aber ihre Glieder waren so steif und klamm, dass ihr das Aufstehen erst nach mehreren Anläufen gelang.

      Wieder stolperte das kleine Mädchen ziellos durch jenen kühlfeuchten Wald, welcher so feindselig wirkte. Da plötzlich – die goldene Sonne brach vollends durch den milchig weißen Morgennebel, ließ die Tautropfen auf den Gräsern glitzern und funkeln. Zahllose Spinnennetze wirkten wie kostbare Spitze, in die jemand Diamanten gewoben hatte.

      Marta schirmte ihre Augen mit der Hand gegen die grelle Helligkeit ab, schaute so weit wie möglich in die Ferne. Zu ihrer Linken standen die Bäume in größerem Abstand auseinander, der Wald wirkte dort licht und freundlich. Sie beschleunigte ihre Schritte, schlug diese Richtung ein – und stand nur Minuten später am Waldrand, blickte über eine saftig grüne Hügelwiese. Sie kam ihr bekannt vor. Nun weinte


Скачать книгу