Der Schreckenswald des Hoia Baciu. Marie Kastner
hilf mir! Du musst meine Mama suchen gehen«, rief Marta ihr schon von weitem zu. Dann begann sie zu laufen, so schnell es ihre zerschundenen Füße zuließen. Die Frau drehte sich erstaunt um. Um diese frühe Tageszeit hatte sie wohl nicht damit gerechnet, auf einen Spaziergänger zu treffen – schon gar nicht auf einen dermaßen jungen, der mutterseelenalleine unterwegs war.
Die rassige Kräuterfrau mochte vielleicht dreißig Jahre alt sein. Sie war barfuß unterwegs, trug einen knöchellangen Stufenrock, eine großmaschige grüne Strickjacke und darunter eine mehrfarbige Bluse. Das kräftige, fast hüftlange Haar hatte sie mit einem bunten Tuch zurückgebunden. Kaum hatte sie Marta aus der Nähe gesehen, fuhr sie zusammen. Sie ließ ihr Körbchen fallen, raffte ihren Rock zusammen und rannte panisch davon.
»Warum rennst du denn weg? Ich bin’s doch nur, die Marta Ionescu!«, schrie sie der Flüchtenden hinterher. Vergebens. Die Frau drehte sich nicht einmal mehr um, gab nur einen kreischenden Ton von sich. Dem Kind blieb nichts anderes übrig, als in dieselbe Richtung weiterzugehen.
Es dauerte noch zehn Minuten, dann kam endlich eine kleine Siedlung in Sicht. Von neuer Hoffnung beseelt, beschleunigte Marta ihren Schritt. Sie kannte diesen Weiler, es handelte sich um die Nachbarssiedlung. Marta hatte ihre Mutter schon des Öfteren dorthin begleiten dürfen, weil diese für einige der Frauen bei Bedarf Nähund Stopfarbeiten erledigte. Erleichtert ging sie auf eines der Häuser zu, in denen ihre Mutter bekannt war. Die darin lebende Witwe hatte ihr erst vor kurzem einen Apfel geschenkt.
Die Tür war fest verrammelt, kein Licht erhellte die schmutzigen Fenster. Die hübsche himmelblaue Farbe, die Marta erst vor kurzem so bewundert hatte, schien in Windeseile verblichen zu sein. Sie blätterte bereits in großen Stücken ab. Sooft sie auch an der Tür klopfte und rief, es drang keinerlei Lebenszeichen nach draußen. Also musste sie weitergehen.
In der angrenzenden Hofeinfahrt stand jene flinke Frau, welche gerade vor ihr weggelaufen war. Atemlos und wild gestikulierend, erzählte sie den Bewohnern des Hofes etwas über einen schlimmen Fluch, der über die Gegend gekommen sei. Kaum sahen die Bauersleute Marta, liefen sie in ihre Häuser und schlugen die Türen zu.
Dieselbe Prozedur wiederholte sich an den Häusern drei und vier und Marta begann bereits wieder bitterlich zu weinen. Die Leute verhielten sich komisch, schienen alle Angst vor ihr zu haben. Warum nur?
Zum Glück entdeckte sie jenen schmalen Trampelpfad, welcher zwischen zwei Scheunen hindurch zu ihrem eigenen Dorf führte. Sie erkannte ihn an einem kleinen Holzkreuz, das zur Erinnerung an den Sterbeort eines Dorfjungen an der Gabelung aufgestellt worden war. Er war im vergangenen Sommer unglücklich gestürzt, mit dem Kopf auf einen Stein geprallt. Mama hatte ihr die Geschichte immer dann zur Warnung erzählt, wenn sie zu wild umhersprang. Heute waren im Gegensatz zu sonst aber keine Blumen unter dem Kreuz niedergelegt.
Die Sonne schien jetzt intensiver, wärmte die bloßen Beine des Mädchens. Marta fühlte sich gelenkiger, begann zu laufen. Hinter der nächsten Wegbiegung musste ihr Elternhaus liegen! Sie brach vor Freude in Tränen aus, als sie Mutter und Vater mit einer dritten Person im Garten stehen sah und versuchte, noch etwas schneller zu laufen.
Aber was war das? Ihre Mama stieß einen schrillen Schrei aus, fiel einfach um. Papa wurde blass, bekreuzigte sich und wich in Richtung des Hauses zurück. Jemand lief über die Hügelwiese davon. Der farbenfrohen Kleidung nach zu schließen, handelte es sich um jene Frau, die Marta zuerst erblickt und total überreagiert hatte.
Trotz alledem fasste sich die Kleine ein Herz und ging auf das Wohnhaus zu. Was hätte sie auch sonst tun sollen? Ihr Papa saß in der Stube, zitterte wie Espenlaub. Er schien zu beten.
Sie ging auf ihn zu, wollte ihn umarmen. »Freut ihr euch denn gar nicht, dass ich wieder da bin? Ich hatte heute Nacht solche Angst im Wald, habe großen Hunger. Mir ist eiskalt. Und Mama scheint es nicht gut zu gehen. Sie liegt still da draußen und rührt sich nicht«, sagte sie vorwurfsvoll.
»Du … du … nein, das kann nicht sein! Du warst fünf Jahre lang verschollen!«, stieß ihr Vater hervor, entzog sich ihr.
»Fünf Jahre? Nein, bloß heute Nacht!«, schluchzte Marta, der die Situation immer unheimlicher wurde. Sie blieb stehen, starrte ihren Vater an. Warum verhielt er sich nur so komisch?
»Und du trägst dasselbe Kleid wie damals, als du verschwunden bist. Wie könnte es möglich sein, dass du in der langen Zeit keinen einzigen Zentimeter gewachsen, nicht gealtert bist? Nein, dies muss ein Blendwerk des Teufels sein! Geh weg!«, brüllte der tief gläubige Eugen Ionescu.
»Marta!«, krächzte Anna, die wieder zu sich gekommen war und ihren zitternden Körper gegen den Türrahmen lehnte.
»Mama!« Das Kind lief freudig zu ihr, umarmte die ausgemergelte Frau. »Wenigstens du hast mich noch lieb!«
Mutter und Töchterlein umarmten sich und allmählich bereute auch Eugen seine panische Reaktion. Er kam langsam näher, befühlte Martas Kleid, dasjenige mit den weißen Margeriten am Saum. Es war schlammverschmiert, sah ansonsten aber genauso aus wie am Tag, als Anna es fertig genäht und der Kleinen stolz präsentiert hatte.
Dann schlugen die Gefühlswogen urplötzlich auch über ihm zusammen, er herzte und küsste seine kleine Tochter, die eigentlich inzwischen zehn Jahre alt hätte sein sollen. Ihre zarte Haut fühlte sich immer noch ein wenig kühl an, erwärmte sich jedoch bei Berührung schnell. Nun war er vollends davon überzeugt, dass dies tatsächlich sein quicklebendiges kleines Mädchen war, kein böser Geist.
Es dauerte noch Monate, bis auch die Dorfgemeinschaft willens war, an ein Wunder des Herrn zu glauben und Marta wieder zu akzeptieren. Manche Nachbarn, die Anna Unrecht getan hatten, leisteten beschämt Abbitte – andere nicht. Diese, zumeist alten, Weiber gingen davon aus, dass die gesamte Familie verflucht sei und blieben skeptisch auf Abstand. Zwei Jahre nach dem Vorfall gelang es den Ionescus endlich, ihr Haus samt Grundstück zu einem Spottpreis an einen Ungarn zu verkaufen. Sie verzogen ans Schwarze Meer.
Vom Tage ihrer Wiederkehr an wuchs das Mädchen Marta Ionescu ganz normal weiter und alterte wie jeder andere Mensch. Sie konnte sich zeitlebens nicht mehr daran erinnern, was in der Nacht ihres Verschwindens geschehen, wo sie gewesen war. Für sie waren in jenem unheimlichen Waldstück nur wenige Stunden verstrichen.
Sie wagte es nie wieder, auch nur in die Nähe dieses Ortes zu gehen, fühlte sich jedoch zeitlebens auf unbeschreibliche Weise mit ihm verbunden. Als Erwachsene zog sie nach Cluj-Napoca und verdiente ihren Lebensunterhalt als Fremdenführerin.
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