Der Schreckenswald des Hoia Baciu. Marie Kastner

Der Schreckenswald des Hoia Baciu - Marie Kastner


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orientieren können. Womöglich ging sie im Kreis.

      Nach einer weiteren halben Stunde rutschte Anna auf morastigem Boden aus, klatschte rücklings in den eiskalten Schlamm.

      Für einige Minuten blieb sie dort entkräftet liegen, lauschte in die bleierne Dunkelheit. Falls dieser verfluchte Wald ihre Tochter geholt hatte, konnte sie ebenso gut gleich hier liegen bleiben und allmählich im Boden versinken, dachte sie resigniert. Sie fühlte es mit jeder Faser ihres Körpers – hier stimmte etwas nicht! Falls es so etwas wie eine Hölle tatsächlich gab, so war sie sicher hier zu finden.

      Gerade als sie sich wieder aufrappeln wollte, bemerkte sie ein schwaches, grünliches Glimmen, in etwa hundert Metern Entfernung. Das Leuchten irisierte zwischen einem zarten Lindgrün, mehreren Weißund Graustufen sowie einem kräftigeren Apfelgrün. Worum konnte es sich dabei handeln – Sumpfgase, die an die Oberfläche stiegen? Oder spielte ihr jemand einen üblen Streich?

      Anna rann Schlamm in die Augen, während sie sich japsend in Richtung des Phänomens voran arbeitete. Der Wald schien sie mit aller Macht zurückhalten zu wollen. Ständig verfing sich ihre Kleidung in Ästen und Zweigen. Dornige Schlingpflanzen griffen nach ihren Fesseln, rissen tiefe, blutende Wunden. Sie spürte es nicht.

      »Marta, bist du dort vorne?« Es war mehr ein Röcheln, das der Geschundenen über die trockenen Lippen kam. Die letzten Meter kroch sie bäuchlings über den Boden, immer auf die kleine, illuminierte Stelle zu. Eine kreisrunde Lichtung! Kaum hatte Anna sie entdeckt, erstarb das mysteriöse Leuchten so plötzlich wie es aufgetaucht war. Zurück blieb nichts als undurchdringliche Schwärze, denn der Vollmond wurde zur Gänze von einer anthrazitfarbenen Wolkenbank verdeckt.

      Anna schrie panisch auf, trommelte mit beiden Fäusten auf den Waldboden ein und weinte hemmungslos. Ihr Kind hatte sie nicht finden können und nun verschluckte dieser grausame Moloch sie ebenfalls mit Haut und Haar. Sie bibberte vor Kälte, die schlammverschmierte Kleidung klebte ihr eng am Körper.

      Endlich lugte das blasse Mondlicht wieder hinter den Wolken hervor. Es verbesserte die Sichtverhältnisse allerdings nur unwesentlich, weil mausgraue Nebelschwaden zäh über den Waldboden krochen. Sie verhüllten Bäume, Gräser und Blaubeersträucher, hinterließen ein kühlfeuchtes Nichts.

      Anna hockte sich mitten auf der Lichtung hin, umschlang ihre Knie mit beiden Armen, barg ihr nasses Gesicht dazwischen. Hier gab es keinerlei Bewuchs, der Boden fühlte sich eben und ein wenig wärmer an als die Umgebung. Nur festgetretene Erde schien diese Stelle zu bedecken. Jetzt verspürte Anna auf einmal starke Schmerzen, die im Rhythmus ihres Herzschlags in Fußgelenken, Schläfen und im unteren Rücken pochten. Ihre Zähne klapperten, die Kopfhaut fühlte sich taub an.

      Noch erheblich schlimmer als Annas beklagenswerter körperlicher Zustand war gleichwohl der psychische. Sie glaubte, jeden Augenblick wahnsinnig zu werden. Die Tränen waren allesamt vergossen, sie starrte nur noch mit weit aufgerissenen Augen vor sich hin. Des rationalen Denkens nicht mehr fähig, jagten wirre Gedankenfetzen einander wie kopflose Rinder in einer Stampede. Hatte sie vor einer Ewigkeit wirklich Kinderlachen gehört – oder war das Einbildung gewesen? Unzusammenhängende Bilder von Margeriten, grinsenden Unholden und einem grünlichen Höllenschlund zogen in unsinniger Abfolge vor Annas geistigem Auge vorbei.

      Die Kopfhaut prickelte. Dann setzte unversehens ein nahezu unerträglicher Juckreiz ein. Unwillkürlich riss die junge Mutter ihre Arme nach oben, kratzte sich ausgiebig an Kopf und Hals. Das machte die Sache jedoch nur schlimmer. Es fühlte sich an, als würden Ameisenkolonnen über ihren ganzen Körper laufen.

      »Geht weg, lasst mich gefälligst in Frieden«, wimmerte Anna, schlug mit fahrigen Bewegungen auf die eigenen Gliedmaßen ein und scharrte sich blutige Striemen in beide Wangen. Nach einer gefühlten Ewigkeit verirrte sich ein silbriger Mondstrahl auf ihre Hände. Voller Entsetzen erkannte sie, dass ihre gesamte Haut von zahllosen Bläschen übersät war. An den Stellen, wo sie diese bereits aufgekratzt hatte, lief Flüssigkeit heraus.

      »Wo bist du, wenn man in Not ist und dich braucht? Warum hast du mein kleines Mädchen nicht beschützt?«, krächzte Anna mit letzter Kraft. Sie richtete ihren glasigen Blick gen Himmel und verlor das Bewusstsein.

       *

      

      Man fand Anna Ionescu am nächsten Morgen gegen 9 Uhr. Sie kauerte immer noch ängstlich auf der kleinen Lichtung, obwohl bereits die Sonne ihre wärmenden Strahlen in den Wald schickte. Dass eine Polizistin sie vorsichtig ansprach, schien sie nicht einmal zu bemerken. Sie saß nur statisch da, stierte mit blutunterlaufenen Augen geradeaus und wiegte ihren Oberkörper vor und zurück.

      Eugen Ionescu war von einem Verbrechen ausgegangen, hatte am Vorabend gegen 22 Uhr die Polizei alarmiert. Beim Betreten des Hauses waren ihm nämlich schwarze Rauchwolken entgegen gewabert, die aus der Küche kamen. Zwei Herdplatten waren auf höchster Stufe eingeschaltet gewesen. In einem der beiden Töpfe verkochte eine Portion Spaghetti zu einer breiigen Masse, im anderen, kleineren befand sich ein undefinierbares schwarzes Etwas. Wahrscheinlich verkohlte Nudelsoße.

      Eugen hatte sich hustend ein Tuch vor den Mund gepresst, die Drehknöpfe auf null gestellt, die Töpfe vom Herd gezogen, durchgelüftet und im ganzen Haus nach Frau und Tochter gesucht. Mit einer Rauchgasvergiftung durfte man schließlich nicht spaßen. Ganz zum Schluss hatte er im Garten nachgesehen und entsetzt festgestellt, dass das Türchen zur Wiese sperrangelweit offen stand.

      In diesem Moment war dem Familienvater schlagartig bewusst geworden, dass an der Sache irgendetwas faul sein musste. Seine Frau konnte als ordentlich, fast schon pedantisch gelten. Niemals hätte sie die Gartenharke einfach mitten im Gemüsebeet liegen lassen, geschweige denn, dass Anna jemals das Absperren oder das Abdrehen der Herdplatten vergessen hätte.

      Nein … irgendjemand musste sie bei der Gartenarbeit hinterrücks überrascht haben, vielleicht war sie sogar mitsamt der Tochter verschleppt worden. So hatte der besorgte Eugen keine Zeit mehr verloren, war auf dem schnellsten Wege zur Polizeistation im Nachbarort gefahren und hatte seine Familie als vermisst gemeldet. Schweren Herzens hatte er sich bis zum Morgengrauen gedulden müssen, denn für den Rest der Nacht hätten die Polizisten keine Möglichkeit für eine Suchaktion gesehen.

      Und nun saß seine schöne, kluge Anna reglos auf einer Waldlichtung im Sonnenschein, war trotz aller Bemühungen nicht ansprechbar. Das Haar stand in schlammverkrusteten Strähnen wirr vom Kopf ab, die Haut starrte vor gelblichen Pusteln und war blutverschmiert. Die attraktive Frau war kaum wiederzuerkennen, schien die Sprachfähigkeit verloren zu haben. Von Marta fehlte bislang jede Spur.

      Man lieferte Anna Ionescu in die Psychiatrie der Nervenheilanstalt Cluj-Napoca ein, wo sie zwei Monate lang stationär behandelt wurde. Die Entlassung erfolgte unter Vorbehalt, denn die junge Frau behauptete immer noch steif und fest, der Wald sei böse und habe ihre Tochter geholt.

      Ihre behandelnden Psychiater waren sich indes unsicher, ob Anna das tatsächlich glaubte und somit an Wahnvorstellungen litt. Oder ob ihre Psyche womöglich eine furchtbare Bluttat aus dem bewussten Erleben ausblendete, in Wirklichkeit sie selbst für das Verschwinden ihrer Tochter verantwortlich sein könnte. So etwas kam leider immer wieder vor.

      »Vielleicht hat Ihre Frau dem Mädchen eine schallende Ohrfeige verpasst … dieses fiel unglücklich, zum Beispiel mit dem Kopf gegen eine Tischkante oder auf einen Stein, und kam dabei zu Tode. Das wiederum hätte der Mutter einen gewaltigen Schock versetzt, erst recht, wenn sie das Kind abgöttisch geliebt hat. Wenn sie im geistig verwirrten Zustand ihr totes Kind im Wald verscharrt hätte, könnte sie sich hinterher tatsächlich nicht mehr daran erinnern«, hatte der Professor schulterzuckend behauptet. Eugen wäre ihm für diese ungeheuerliche Theorie am liebsten an die Gurgel gesprungen.

      Anna musste sich nach ihrer Entlassung monatelang in polizeilichen Befragungen rechtfertigen, bis das Ermittlungsverfahren gegen sie mangels neuer Erkenntnisse vorläufig eingestellt wurde. Im Wald fanden sich keinerlei Spuren, die darauf hingewiesen hätten, dass dort in jüngerer Zeit jemand gegraben hätte. Das Kind – oder gegebenenfalls dessen Leichnam – war und blieb spurlos verschwunden.

      Restzweifel blieben


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