Scheidung kann tödlich sein. Andrea Ross
Die Kinder hatten Geschenke für Attila gebastelt, er war sichtlich gerührt deswegen.
Außerdem erzählten sie uns, dass jeder von den Dreien seinen Weihnachtsbaum schön geschmückt habe. Jeder seinen Weihnachtsbaum? Ich fragte nach und erfuhr, dass Uschi und Attila den Kindern schon vor Jahren anstelle des Familienweihnachtsbaumes im Wohnzimmer jedem einen kleinen Plastikbaum für sein Zimmer gekauft hatten, damit es keinen Streit gebe und jeder den eigenen Baum nach seinem Geschmack in den Lieblingsfarben herrichten könne. Tja! Ich hatte immer geglaubt, Weihnachten sei ein Fest der Versammlung, der Gemeinsamkeit. Weswegen man sich auch einmal einigen konnte, weil Frieden herrschen sollte und alle zusammen sind. Und ausgerechnet da hatte man der Bequemlichkeit willen und um Streit zu vermeiden zu solch einer abartigen Lösung gegriffen?
Attila fand das heute noch gut und ich hielt lieber den Mund; ich machte mir aber so meine Gedanken darüber, warum die Kinder heute wohl so sind, wie sie sind. In diesem Moment taten sie mir leid. So jedenfalls ließ sich mühelos das Verhalten erklären, welches sie später an diesem Tag zeigten. Von den Eltern unterstützter Egoismus mit einer Prise Theatralik, die man unheimlich steigern konnte, falls nicht gleich einer darauf einging.
Wegen der glatten Straßen hatten wir beschlossen, mit dem Zug nach Nürnberg zu fahren. Wir wollten einen Indoor-Kletterpark besuchen, in welchem wir während eines Besuchswochenendes schon einmal mit Marco alleine gewesen waren. Das Schneechaos zeitigte aber leider auch Auswirkungen auf den Zugfahrplan, und so standen wir am Bahnhof eine Dreiviertelstunde lang auf dem zugigen Bahnsteig. Wir hatten jetzt vier Kinder dabei, denn ich hatte Fredi und Axel abholen können. Axel hatte uns verschmitzt ebenfalls Geschenke überreicht; für jeden eines, und noch eines für uns beide zusammen.
Die Letztgenannten rauften erst einmal fröhlich auf dem Bahnsteig vor sich hin, denn meine Söhne sahen sich seit meinem Umzug nach Spanien ja auch nur noch selten. Doch das war eigentlich mehr zum Spaß und nervte uns nicht weiter.
Endlich kam der Regionalzug, und wir besetzten einen Viererplatz mit Tisch und einen Zweierplatz.
Das ging nicht lange gut. Gleich am Anfang fingen Attilas Kinder in extremster Weise an, sich um die Rückwärtsfahr-Sitze zu streiten. Quengelnd, laut und provozierend. Lautstark und dramatisch wurden dem Vater die Gründe vorgetragen, warum wer wo sitzen durfte oder warum wer wo nicht. Hilflos und sanft versuchte Attila es auf der diplomatischen Schiene, was komplett misslang. Seine Vorschläge konnten und durften nur falsch sein, denn sonst hätte man das Spiel ja nicht fortsetzen können. Marco fing schon wieder an, vor sich hin zu greinen und den Märtyrer zu geben, während Ronja in leichte Hysterie verfiel. Mein Axel versuchte zu schlichten und die beiden abzulenken.
Ich nahm jetzt Attila beiseite und verklickerte ihm, dass er ein Machtwort sprechen müsse, nicht wieder darauf eingehen solle! Aber das konnte er nun mal nicht. Ich erntete bewundernde Blicke der fremden Leute in diesem Abteil, als ich halblaut anmerkte, dass Nerv tötende Kinder eigentlich aus dem Fenster gehängt gehören, anstatt noch verbal gestreichelt zu werden. Attila jedoch schien schon wieder sichtlich nervös zu sein, hatte Angst, es sich bei den Kindern zu verscherzen.
Aber musste man sich solches Verhalten von diesen Gören gefallen lassen, die genau das ausnutzten? Nein, ich denke nicht! Ich wartete eigentlich bloß noch darauf, dass auch hier die bewährte »Weihnachtsbaum-Methode« angewendet würde. So in die Richtung: jedem Kind seinen eigenen Waggon, damit es keinen Streit gibt. Vielleicht hätte man ihnen stattdessen einmal deutlich sagen müssen, dass man bald keinen Wert auf eine Abholung mehr lege, wenn sie das unbedingt provozieren möchten. Dann wäre bestimmt schnell Ruhe gewesen.
Mein Fredi blieb von alledem völlig unberührt. Der schmiegte sich an mich, als wolle er seine Seele auftanken. Legte sein Köpfchen an meine Brust und erzählte mir aus seinem kleinen Leben. Ich drückte ihn die ganze Fahrt über an mich, sagte ihm wieder einmal, dass ich ihn ganz arg liebhabe, aber dennoch wieder nach Spanien müsse, weil ich dort arbeite. Das verstand er und meinte, dann müssten wir unser Zusammensein halt jetzt genießen. Da stimmte ich meinem Jüngsten gerne zu.
In Nürnberg herrschte ekliges Schneematsch-Wetter. Zu sechst passten wir in kein handelsübliches Taxi, daher mussten wir ein Familientaxi anfordern. Die vier Kinder hatten nun Spaß miteinander, das war zunächst einmal auch im Freizeitpark so. Axel und Fredi erfreuten sich sehr an der Softball-Kanone, später fuhren alle mit den schnittigen Tretautos herum.
Ganz ohne Zwischenfälle ging es aber dennoch nicht. Stellenweise saß Ronja still in der Ecke und wirkte stinkig; warum, das wusste niemand. Und der weinerliche Marco konnte nicht verkraften, dass nicht in genau dem Moment, in welchem er es sich wünschte, ein Tretauto für ihn frei war. Er heulte dann wieder vor sich hin und bemitleidete sich lautstark selber.
Erneut dieselbe Verhaltensschiene!
Im Großen und Ganzen war der Tag aber trotzdem nett gewesen. Meine Buben hatten sich auch sehr gefreut, mich einmal wiederzuhaben. Als Attila die Kinder zurück in die Altstadt brachte, war weiterhin keine Uschi da, die sie in Empfang genommen hätte; diesmal wurde Heike, die Schwester der Delia Stohrer von Uschi beauftragt. Ich fragte mich wieder einmal, warum diese ganzen Leute sich derart vor ihren Wagen spannen ließen und zu jedwedem Gefallen bereit waren. Wer weiß, was für Horrorgeschichten sie denen über Attila erzählte!
Am Montagmorgen nahm Attila seinen Augenarzt-Termin wahr. Wie ich es befürchtet hatte, waren die Augeninnendruck-Werte viel schlechter als bei den Voruntersuchungen. Das war wohl die Quittung für den extremen Stress und die sehr langen Arbeitszeiten am Bildschirm während der Serverumstellung der letzten Wochen. In der Innenstadt kauften wir dann noch ein paar Weihnachtsgeschenke ein, um anschließend wegen der Bilanzbesprechung hinüber zur Steuerberaterin zu fahren.
Hier kristallisierte sich leider heraus, dass Attila in nächster Zeit 15.000 Euro an Steuern für die GmbH und die Ltd. zu bezahlen hatte. Das Finanzamt profitierte ganz schön an Attilas unbeugsamen Einsatzwillen, doch waren die Firmen noch immer nicht ansatzweise saniert. Wie lange einem doch Misswirtschaft nachhängen konnte!
Danach folgte dann der nächste, wenig angenehme Termin mit Attilas Anwalt. Es ging natürlich um das Gutachten zur Erziehungsfähigkeit. Das Gericht erwartete schließlich eine Stellungnahme der Parteien. Der Anwalt musste zugeben, dass Attila und ich mit unseren Einschätzungen absolut recht gehabt hatten; alle Befürchtungen, die wir im Laufe der Zeit seit April 2009 gehegt hatten, waren nach und nach in der Realität eingetroffen. Daher blieb nun nur noch, sich schweren Herzens wegen des halbherzigen Gutachtensergebnisses damit abzufinden, dass die Kinder bei Uschi bleiben wollten und das wohl auch mussten. Doch die Entscheidungen über schulische Laufbahn, Vermögen, Aufenthalte im Bezirkskrankenhaus oder sonstige Unterbringungen, durfte sie unserer Ansicht nach auf keinen Fall treffen. Man sah ja, wie verantwortungslos sie das handhabte! Somit regte Attila an, das Sorgerecht für die Kinder wenigstens auf das Jugendamt zu übertragen, wenn er selbst es aus unerfindlichen Gründen schon nicht übertragen bekam. Der Anwalt ging mit dieser Ansicht konform. Mittlerweile schneite es, so als ob Frau Holle ihr Lager einmal gründlich räumen müsste. Die Straßen waren komplett schneebedeckt, der Verkehr kam ziemlich zum Erliegen. Wir brauchten eine halbe Stunde, bis wir zurück in die Pension gelangten. Da es dort an diesem Tag kein Essen gab, mussten wir jedoch noch einmal aus der Bude, nachdem Attila seine Mails bearbeitet hatte, der Hunger trieb uns hinaus. Es dauerte eine ganze Weile, bis wir uns durch die Schneemassen bis zum Industriegebiet durchgekämpft hatten; in der Nähe der Pension gab es nämlich nichts, wo wir etwas essen hätten können. So blieb uns wieder nur die Schnellimbiss-Schiene zur Nahrungsaufnahme übrig.
Gleich nach dem Betreten der Filiale winkte jemand in unsere Richtung, eine fröhliche Dicke. Attila klärte mich auf, dass dies die Heike, die Schwester der Delia Stohrer sei. Die vernünftigere Schwester allemal, und nett sei sie auch noch. Das stimmte! Sie begrüßte auch mich ohne Vorbehalte und wirkte nicht, als wäre sie von Uschi beeinflusst. Wobei der Schein manchmal trügt, aber Heike war zumindest freundlich und ihr Verhalten somit voll in Ordnung. Vielleicht dachte auch sie sich ihren Teil über Delias und Uschis kranke Intrigen.
Am nächsten Tag stand meine eigene Scheidungsverhandlung an. Attila musste währenddessen nach Neuenstein zum Arbeiten. Schon in den Morgennachrichten wurde gemeldet, dass ausgerechnet