Mordnacht. Dieter Weißbach

Mordnacht - Dieter Weißbach


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      Dieter Weißbach

      Mordnacht

      Oberbayern-Krimi

      Für den Maremma Peter,

       meinen Begleiter auf seltsamen Wegen.

      Peter Bechmann (1946–2012)

      April 2014

       Allitera Verlag

      Ein Verlag der Buch&media GmbH, München

       © 2014 Buch&media GmbH, München

       Umschlaggestaltung: Alexander Strathern, München

       Titelbilder Klaus Doblmann (www.dokla.net);

       Printed in Europe

       ISBN 978-3-86906-628-8

      Alles Glück dieser Welt entsteht aus dem Wunsch,

      dass andere glücklich sind.

      Und alles Leiden dieser Welt aus dem Wunsch,

      dass wir selbst glücklich sind.

      Sinnspruch von Shantideva, 8. Jahrhundert

      1

      I hr Treffen hatte später begonnen als geplant. Joseph Neuner, Leiter der Polizeiinspektion Garmisch-Partenkirchen, hatte zum Dienstschluss noch einen Unfall auf den Tisch bekommen, und Oscar Vincenti, Notar, ebenfalls aus Garmisch und auf dem Rückweg von einem Termin, war hinter Mittenwald in einen Stau geraten. Immer dichter fiel der Schnee auf die Häupter der drei Wartenden, Dr. Wolfram Summer, Orthopäde und DSV-Mannschaftsarzt, Karl-Friedrich Häusler, genannt Lufti, Farchanter Bürger, Mitglied der bayerischen Gebirgsschützen, der größte Sägewerksbesitzer im Tal, und Erwin Zimmerl, Vertreter für Skibekleidung, ebenfalls aus Farchant.

      Eine Stunde später gingen die fünf wieder auseinander. Wolfram Summer drehte an seiner Stirnlampe, fummelte noch ein wenig an den Schlaufen seiner Walkingstecken und verschwand Richtung Wald. Bis Partenkirchen rechnete er mit einer guten Stunde, heute wohl eher anderthalb. Vincenti, Neuner und Zimmerl stapften am Rand der Skipiste hinunter zum Parkplatz, wünschten sich noch einmal einen angenehmen Abend, Vincenti und Neuner bestiegen ihre Wägen, Erwin Zimmerl ging weiter Richtung Uferweg. Lufti Häusler, sogar im Dunkeln und bei Schneetreiben leicht zu erkennen an seinem altmodischen Pelerinenmantel und dem handgearbeiteten Trachtenhut, steckte sich erst einmal eine an. Das hölzerne Wegkreuz und der Kastanienbaum an seiner Seite blieben wie immer unbeachtet zurück. Der Baum kannte es nicht anders, er war noch jung und erst vor wenigen Jahren hier gepflanzt worden. Das Marterl, ungebeugt, trotz der Jahrzehnte, die es schon hier stand, mochte dagegen wirklich eine Art Erinnerung haben an vergangene, an bessere Zeiten, als die Menschen, die es schließlich errichtet hatten, noch nicht achtlos an ihm vorübergingen, sondern stehen blieben, kurz innehielten, ein kleines Gebet verrichteten, sich bedankten für ein gesund geborenes Kind, eine glücklich überstandene Operation, den Tod der reichen Erbtante oder einfach nur für einen schönen Tag. Aber nicht einmal für ein hastig geschlagenes Kreuzzeichen schien es heutzutage zu reichen. Nur die alte Martha Bruckmeier mit ihrem Rucksack, in den sie alles stopfte, was sie meinte, gebrauchen zu können, sei es für die Küche, zur Verschönerung ihres Heims oder einfach nur zum Verheizen, kam regelmäßig vorbei und murmelte von vergangenen Geschichten, die keiner hören wollte, von begangenem Unrecht, diejenigen würden schon wissen, von einem bemalten Haus, das nicht mehr stand, Gottes Zorn und ewiger Verdammnis und anderem verworrenen Zeug. Und natürlich die Kinder, die hier, zur Freude ihrer jeweiligen Erziehungsberechtigten, erste hoffnungsvolle Bögen in den Schnee stemmten.

      Karl-Friedrich Häusler war ein Mann von Achtung gebietendem Äußeren, ein echter Werdenfelser, Ende sechzig, mit einem gepflegten Schnauzbart, eisblauen Augen und vollem, grauem Haar. Wenn man ihn so sah, gerade hatte er das Kuhgitter überquert und wieder festen Boden unter den Stiefeln, mochte man kaum glauben, dass er in frühen Jahren als rechter Treibauf und Schürzenjäger verschrien war. Einer, zu dem der Name Lufti wirklich passte, aber auch einer, der aus nichtigstem Anlass Schlägereien anzettelte, der regelrecht außer Rand und Band geraten konnte, der tat, als müsse er nie erwachsen werden, und der dann, als nur noch er und Erwin übrig waren, gerade noch so die Kurve kratzte. Er war fast vierzig, als er zu Elvira ging, eine Straße weiter, ebenfalls eine übrig Gebliebene, und sie fragte, ob sie ihn haben wolle.

      Von Bekannten angeblinkt oder durch beschlagene Seitenscheiben gegrüßt, stapfte er die Esterbergstraße entlang Richtung Ort und überquerte die Loisach, die hier, wie meist um diese Jahreszeit, mehr Eis und Schnee als Wasser führte, musste am Bahnübergang einige Minuten warten – was ihm unangenehm war, denn er hatte keine Lust, geschlossenen Autofenstern zuzuwinken und dabei den Mund zu bewegen, was ja keinen Sinn machte, außer jemand drehte sein Fenster herunter, was ihm noch unangenehmer wäre, denn dann käme er um eine Konversation nicht herum. Er wartete dann noch einmal an der großen Kreuzung und war schließlich in dem Teil des Ortes, den die Zugezogenen respektvoll Altfarchant nennen. Hier steht das Rathaus, die Kirche, die Schule, hier hat der Metzger seinen Laden und der Bäcker, hier wohnen Bauer und Vieh noch unter einem Dach, Hühner gibt es auch und echte Misthaufen mit Odelrinne. Hier wohnen die, die immer schon hier wohnen, die niemandem eine Erklärung schuldig sind, die tun, was zu tun ist, und alles andere so lange vor sich herschieben, bis es sich am besten von selbst erledigt. Ein Indiz für dieses Gerücht sind ihre Häuser. Mögen ihre Bewohner von Generation zu Generation immer größer werden, sie selbst unter der Last der Jahrhunderte langsam in Grund und Boden versinken, kaum einer ihrer Besitzer käme deshalb auf die Idee, es abzureißen und ein neues dafür hinzustellen. Auch wenn die Balkone zum Teil schon so niedrig hängen, dass man sich bücken muss, um unter ihnen durchzugehen. Zumindest soll es Leute geben, die das behaupten.

      »Und wie war’s?«, fragte Elvira aus der Küche.

      »Wie soll’s schon g’wesen sein«, brummte er aus der Garderobe und schob betont beiläufig nach: »Ich geh dann noch mal.«

      »Ich hab gedacht, du kommst gerade.«

      »Ich schau noch ins Stüberl. Ich zieh mich nur schnell um.«

      »Übrigens, die Regine hat angerufen.«

      »Und?« Er nahm Geldbeutel und Handy aus dem Überwurf und steckte beides in seine schwarze Bogner-Jacke. »Was sagt sie?«

      »Nichts Besonderes, das Übliche, dass es ihr gut gefällt im neuen Job. Besonders, dass die Kollegen sie so freundlich aufgenommen haben, richtig befreit hat sie geklungen am Telefon. Und ob wir am Wochenende schon was vorhaben. Ich hab gesagt, dass wir da sind. Ich hab mir gedacht, ich mach uns eine Linzer Torte oder vielleicht einen Aprikosenkuchen. Ich weiß noch nicht genau. Mal schaun.«

      »Brauchst nicht auf mich zu warten«, antwortete er fürsorglich. »Also dann, bis später.«

      »Ist schon recht. Und sei leise, wenn du kommst. Soll ich dir was warmhalten?«

      »Nein, ich ess im Stüberl.«

      Er zog die Tür ins Schloss und griff nach der Schneeschaufel. Langsam wusste er wirklich nicht mehr, wo er den Schnee noch hinwerfen sollte. Am liebsten hätte er ihn einfach auf die Straße geschoben, war sich aber nicht sicher, ob es da nicht eine Verwaltungsvorschrift gab, die das untersagte. Er war Gemeinderat, er konnte nicht einfach tun, was er wollte. Er würde sich erkundigen.

      Zehn Minuten später saß er am Stammtisch des Georgistüberls und wartete auf das Einsetzen der Gemütlichkeit. Es roch nach Küche. Marthas Küche, präzisierte er, wischte sich den Schweiß von der Stirn und kam zurück zu dem, was sie eben am Marterl besprochen hatten. Wie immer landete er ziemlich schnell bei der Frage, warum er sich das eigentlich immer noch antat. Nichts hinderte ihn daran, einfach auszusteigen. Es gab keinerlei Verträge, nichts, was ihn band. Aus. Vorbei. Ein für alle Mal. Nie mehr diese blöde Angst, dass doch noch was rauskommen würde. Nie mehr Kitzbühel, Serfaus, Ladis, Ischgl oder wie auch immer die Skigebiete hießen, die sie in bald dreißig Jahren abgegrast hatten. Obwohl, diese Orte waren weit weg. Auch mit Garmisch hatte er kein Problem. Aber hier war er daheim. Der größte Sägewerksbesitzer im Tal, Mitglied des Gemeinderats, ein angesehener Bürger. Er war heilfroh gewesen, als sie die Anlage endlich beschlossen hatten. Jetzt schon an eine


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