Mordnacht. Dieter Weißbach

Mordnacht - Dieter Weißbach


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weiß«, sagte er und kratzte sich am Kopf, »es ist nichts Besonderes.«

      Sie hätte lachen können. Stattdessen sagte sie: »Na ja, versuchen kann ich es ja mal.«

      Er zeigte ihr den Hof, der von innen kaum besser aussah als von außen, den Stall, den Gemüsegarten und die Obstbäume. Anschließend führte er sie hinauf auf die Alm, die ebenfalls in einem bedauernswerten Zustand war. Das Dach musste ausgebessert werden, eine bergseitig gelegene Stalltür hatte dem Druck des Schnees nachgegeben und hing mitsamt Türstock und einem Teil der Mauer in der Stallgasse, zwei aus den Angeln gerissene Fensterläden und ein eingestürzter Außenkamin lagen verstreut im Hof. Bis er seine Kühe wieder hinauftreiben konnte, war noch viel zu tun. Aber noch war Zeit, noch lag der Schnee in fetten Wogen auf den Wiesen und Matten, Bäumen und Dächern, noch schlug der Frost seine eisigen Krallen in jeden Baum, jeden Strauch, jedes Tier, das es wagte, ihm zu trotzen.

      Im letzten Licht der untergehenden Sonne waren sie wieder zurück.

      »Bleibst?«

      Sie hörte ein Zittern in seiner Stimme.

      Bevor sie antworten konnte, nestelte er ein Feuerzeug aus der Joppe und bückte sich zum Herd. Kaum hatte er die Flamme entzündet, heulte ein Luftzug durch den Ofen, riss ihm das brennende Papierknäuel aus der Hand und jagte es durch den Schornstein. In einem einzigen Moment, am Ende eines langen Tages, in einer Welt, die ihr als Kulisse bestens vertraut, in ihrer Tiefe und Eindringlichkeit jedoch gänzlich unbekannt war, von der sie nicht einmal gewusst hatte, dass es sie überhaupt noch gab, verwandelte sich die Ruine zur Heimat und ein unscheinbares Ofentürl zum Tor in ein neues Leben.

      Er war fünfunddreißig, als sie sich kennenlernten, und einundsiebzig, als er in ihren Armen starb. Sie verkaufte die Alm an eine Weidegenossenschaft und den Hof an einen Geschäftsmann aus Mailand. Ihre Verbindung war kinderlos geblieben. Für wen sollte sie sich weiter plagen.

      Als sie einmal darüber redeten, hatte er nur gemeint: »So, wie es ist, ist es gut. Das Schicksal macht eh, was es will. Warum ihm unnötig Steine in den Weg legen.« Es war eine seiner Standardantworten.

      Sie selbst verfügte nicht über diese Gabe, Dinge einfach hinzunehmen. So sehr sie sich auch bemühte, es ihrem Lehrmeister gleichzutun, sie wollte immer wissen, warum etwas geschah. Und zu ihrer Kinderlosigkeit hatte sie längst eine ganz eigene Theorie, die sie allerdings für sich behielt. Sie wusste, was er sagen würde. »Wozu meinst, hat der Herrgott das Vergessen erfunden.« Sie kannte alle seine Sprüche, wie die Berge, den Hof, die Alm, wie die Sprache, die er für sie übersetzt hatte, bis sie sie beherrschte. Ladinisch. Sie hatte es geliebt. Jetzt, da er tot war, konnte sie es nicht mehr hören.

      Er starb, wie er gelebt hatte. Als er fühlte, dass es zu Ende ging, als der Husten immer schlimmer wurde, legte er dem Schicksal keine Steine in den Weg und erlosch. Und sie ging zurück.

      2

      P aulig?«

       »Hauptkommissarin Paulig? Grüß Gott, Neuner hier. Polizei Garmisch. Wir haben hier einen Mord.«

      »Guten Morgen, Herr Kollege. Wann?«

      »Wahrscheinlich heut Nacht.«

      »Mann, Frau, Kind?«

      »Männlich.«

      »Wie?«

      »Erschlagen.«

      »Hat ihn jemand berührt?«

      »Ja. Aber wir haben ihn nicht bewegt, wenn Sie das meinen.«

      »Sehr gut. Wir sind in einer Stunde da. Wo müssen wir hin?«

      »Kennen Sie Farchant?«

      »Ja. Kenn ich.«

      »Auch den kleinen Skihügel?«

      »Meinen Sie den hinten am Freibad?«

      »Ja, genau den.« Der Mann klang verwundert. »Ja dann – ein Kollege erwartet Sie am Parkplatz.«

      »Gut. Wir fahren gleich los. Rufen Sie mich bitte in zehn Minuten auf meinem Handy an? Dann können wir weiterreden. Nein, ich ruf Sie an. Geben Sie mir Ihre Nummer? Und können Sie bitte weiter dafür sorgen, dass keiner was anfasst?«

      Mit der freien Hand gab sie Oberkommissar Tilman Würfel ein Zeichen, die Kollegen zu informieren. Beinahe gleichzeitig griffen sie sich Jacke und Mütze, Kollege Würfel, der schon in der Schule nie etwas anderes werden wollte als Kommissar – die Kombination aus Abenteuer und Pensionsanspruch –, zusätzlich Handschuhe und einen riesigen Schal.

      Auf dem Gang lief ihnen Staatsanwältin Yasmin Schäfer-Kaan über den Weg, eine Deutschtürkin, immer in Eile, gut zwanzig Jahre jünger als sie, verheiratet, keine Kinder.

      »Na, wohin so eilig?«

      »Nach Farchant. Die haben da eine Leiche.«

      »Farchant? Ist das nicht da unten bei Garmisch, da, wo deine Eltern zu Hause sind? Aber bevor du gehst, was ist eigentlich mit dem toten Ehepaar? Gibt’s da was Neues?«

      »Wollte sich nicht der Manzoni um den Fall kümmern?«

      »Eigentlich schon, aber …«

      »Versteh schon«, sagte Paulig rasch. Sie wusste, dass die beiden nicht miteinander konnten. »Also kurz gesagt, wir gehen davon aus, dass es der Eigentümer war. Die beiden Alten waren die letzten Mieter im Haus. Die hätte der nie im Leben hinaus bekommen. Du hast ja die Protokolle gelesen. Die waren fit.«

      »Aber deshalb bringt man keinen um.«

      »Und warum hat er dann den Kamin zubetonieren lassen?«

      »Schon, aber doch nicht mit der Absicht, sie zu töten. Der wollte die fertigmachen. Totschlag meinetwegen. Aber nicht einmal das können wir ihm nachweisen. Wir haben nichts in der Hand. Er behauptet nach wie vor, dass er nichts damit zu tun hat.«

      »Das würde ich an seiner Stelle auch behaupten. Yasmin, hier geht’s um Millionen. Lad doch noch mal die beiden Arbeiter vor, am besten gleich heute, damit die nicht zu viel Zeit zum Nachdenken haben. Bei denen müssen wir ansetzen. Wirst sehen, die knicken schon noch ein.«

      »Aber die behaupten auch steif und fest, dass sie von nichts wissen.«

      »Jaja, sag ich ja, Druck aufbauen. Die geben schneller auf, als du denkst. Oder glaubst du, dass die ewig den Kopf hinhalten für ihren Chef. Lass die mal eine Nacht … Wer hat die eigentlich so schnell wieder heimgeschickt?«

      »Der Erich hat mit denen geredet.«

      »Der Erich. So … Ich muss jetzt leider. Kann er mir ja unterwegs erzählen. Aber tust du mir schon mal den Gefallen und fängst sie wieder ein? Aber diesmal nicht als Zeugen, die sollen ruhig Angst bekommen.«

      »Das sagst du so einfach. Der Erich hat die ja nicht einfach so wieder gehen lassen. Die hatten einen Anwalt dabei, dreimal darfst du raten, wen.«

      »Den von ihrem Chef? Den, wie heißt er gleich noch mal …?«

      »Erraten.«

      »Tja, was tut man nicht alles für verdienstvolle Mitarbeiter. Aber da haben wir es doch schon. Welcher Zeuge kommt gleich mit einem Anwalt. Das stinkt doch. So, jetzt muss ich aber wirklich, die anderen warten schon. Und halt mich auf dem Laufenden.«

      »Mach ich. Und viel Glück. Was ist das eigentlich für eine Leiche da unten in Farchant?«

      »Männlich, vermutlich erschlagen. Mehr weiß ich auch noch nicht. Ciao, Yasmin.«

      »Äh, Christine …?«

      Während ihre Mutter noch davon träumte, einmal eine Oberärztin als Tochter zu haben, war Yasmin Schäfer-Kaan längst klar, dass, zumindest in diesem Leben, daraus wohl nichts werden würde. Sie war zwar gut in der Schule, und sie hätte sich ein Medizinstudium auch vorstellen können, aber der erforderliche Notendurchschnitt schien ihr dann doch etwas zu ambitioniert. Dem heiteren Beruferaten ihrer Mutter begegnete sie weiter leidenschaftslos. Deren Vorstellungen von der Zukunft ihrer


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