Mordnacht. Dieter Weißbach
hatte, war er nur schwer wieder davon abzubringen. Das Beste würde wohl sein, erst einmal auszuloten, wer dagegen und wer dafür stimmen würde. Waren genügend Gemeinderäte dafür, könnte er seine Hände in Unschuld waschen und sogar dagegen stimmen. Wenn nicht? Wenn seine Stimme den Ausschlag geben würde? Eine blöde Situation. Aber warum, versuchte er das nutzlose Grübeln auf den Punkt zu bringen, sollte ihnen gerade Farchant mit seiner windigen Hundertfünfzigtausendeuroanlage zum Verhängnis werden. Auf jeden Fall nicht, wenn sie jetzt erst einmal Ruhe gäben. In ein, zwei Jahren vielleicht, warum nicht. Aber jetzt? Nicht auszudenken. Ihn schauderte. Spontan drückte er seinen verlängerten Rücken gegen den Kachelofen und dachte wieder einmal daran, wie alles angefangen hatte. Auch wenn es ewig her war, er erinnerte sich an jedes Detail.
Zum ersten Mal seit Jahren hatte einer der Freunde es für nötig gehalten, sich wieder einmal zu melden. Wolfram, wer sonst. Sie wollten sich treffen, am Marterl, logisch. Und ob er sich nicht manchmal langweilen würde dabei, immer nur den Sägewerksbesitzer zu spielen. Sie hätten da eine Idee, die ihm gefallen könnte. Er hatte nicht die geringste Vorstellung, was das wohl sein könnte. Er wusste ja nicht einmal, dass die vier noch Kontakt hielten. Alle fünf, mein Gott, wie lange war das her. Das war alles, was zählte, als er noch am selben Abend mit klopfendem Herzen, unverrückbarer Bestandteil seiner Erinnerung, an ihren alten Treffpunkt geeilt war. Sie hatten sich in die Arme genommen, zum ersten Mal in ihrem Leben, jeder mit Tränen in den Augen, und bis er kapiert hatte, um was es ging, hatte er bereits Ja gesagt. Erst viel später war ihm der Gedanke gekommen, dass sie ihn vielleicht absichtlich überrumpelt hatten. Aber warum sollten sie. Wahrscheinlich war es für die vier einfach selbstverständlich gewesen, dass er dabei wäre, nein, müsse. Sie hatten ihn gefragt, und er hatte Ja gesagt. Das war alles gewesen. Ein erfolgreicher Unternehmer und Mitglied der bayerischen Gebirgsschützen, ein Polizeioberrat auf dem Sprung zum Dienststellenleiter, ein Notar und Mitglied beim BUND, dazu ein Orthopäde und DSV-Mannschaftsarzt, und Erwin, den eine schwedische Nobelmarke eben zum Generalvertreter ernannt hatte. Eine beeindruckende Aufzählung, ein Beweis, dass sie es zu etwas gebracht hatten. Warum sich das nicht vergolden lassen? Und wer wäre wohl besser geeignet, hatten sie gelacht, einen Ort von der Notwendigkeit künstlicher Beschneiung zu überzeugen. Und gebaut würden sie sowieso, stellte Oscar unmissverständlich klar. So etwas konnte er, ein Fragezeichen durch ein Ausrufezeichen ersetzen, im richtigen Moment einen passenden Spruch aus dem Hut zaubern.
Und sie wären wieder zusammen, schwärmte Erwin, einer für alle, alle für einen, wie in alten Zeiten. Kein Wort, dass man da konspirativ vorgehen müsse, im Geheimen.
Einer ging voraus, die anderen folgten. Welle um Welle. Manchmal dauerte es Jahre, bis sie die jeweilige Gemeinde so weit hatten. Der Durchbruch erfolgte Ende der Achtzigerjahre, nach ein paar schneearmen Wintern, als die Wintersportorte erschrocken feststellten, dass ausreichend Schnee nicht gottgegeben war. Mit ihnen die mächtigen Seilbahngesellschaften, die plötzlich um ihre Existenz bangten. Im Schlepptau die Politiker, denen vielleicht in absehbarer Zeit die Austragungsorte regelrecht davonschwimmen würden, denen überhaupt der ganze Skizirkus komplett abzuwandern drohte. Von da an lohnte es sich. Sie verdienten ein Vermögen mit ihrer Beratertätigkeit. Lufti Häusler registrierte es, mehr nicht. Er hatte genug eigenes Geld. Ihm genügte es, herumzukommen, Menschen kennenzulernen, neue Gesichter zu sehen. Er hätte es auch getan, wenn er nichts dafür bekommen hätte. Irgendwie wäre es ihm sogar lieber gewesen.
Veronica Fischer, die sein Kommen mit einem knappen Nicken zur Kenntnis genommen hatte, gehörte zu den Frauen, die älter wirken, als sie sind. Nicht einmal die roten Haare, die sie am Morgen zu einem lockeren Pferdeschwanz band und erst am Abend wieder löste, hatten diesem Eindruck Entscheidendes entgegenzusetzen. Sie war von mittlerer Größe, schlank, aber nicht feingliedrig, und ihren Schritten sah man an, dass sie eher an ausdauerndes Gehen gewohnt waren, als zwischen Tischen und Stühlen wie zwischen zu eng gesteckten Slalomstangen herumzuwedeln.
Andererseits hatte sie kein Problem damit, vier Teller gleichzeitig und formvollendet durchs Lokal zu balancieren. Sie durfte dabei nur nicht an die Möglichkeit denken, dass ihr ein Gast an den Hintern fassen könnte. Und sie arbeitete alleine. Sie hatte keine Lust darauf, jede Saison eine neue Aushilfe anzulernen und ihr dann permanent auf die Finger zu sehen. Bargeld macht gierig, hatte sie deshalb gleich zu Anfang ihrer Köchin Martha erklärt und ihr damit sozusagen über Bande aufgezeigt, um was sie besser einen großen Bogen machen sollte. Sie wusste, dass es knapp hergehen würde, dass sie sich keinen launischen Teenager und schon gar keine diebische Elster leisten konnte. Von den paar Urlaubern im Sommer waren keine Reichtümer zu erwarten, und dass die paar Einheimischen die Heimkehrerin mit offenen Armen empfangen würden, war auch nicht ausgemacht. Man wusste nie, wie Gäste auf einen Wirtswechsel reagierten. Zum Glück war ihr Vorgänger mehr am eigenen Konsum interessiert gewesen als an der Zufriedenheit seiner zahlenden Kundschaft, sodass, bis auf eine Handvoll Schwerstalkoholiker, alle im Dorf der Meinung waren, dass es schlimmer wohl kaum werden könne. Ein nicht zu unterschätzender Vorteil war, dass sie eine von hier war. Im Ort geboren und aufgewachsen, in jungen Jahren hinausgezogen in die Welt und erst jetzt zurückgekehrt an einen Platz, der nur auf sie gewartet zu haben schien: das Georgistüberl. Ein Häuschen, nicht mehr ganz im Zentrum, mit einer stilvollen Malerei quer über die Front und einer kleineren zwischen Haustür und erstem Stock, daneben eine Schlosserei, umgeben von Bauernhöfen, bewirtschaftet oder zu Wohneinheiten umfunktioniert, gegenüber die einzige Tankstelle, ein paar Herbergsbetriebe, nichts Großes, nichts, über das man sich aufregen müsste. Für die, die es kennen, darunter wohl fast nur Einheimische, steht es stellvertretend für den gesamten Ort, Heimat von knapp viertausend Seelen, an einen Berg gelehnt, der ebenso harmlos daherkommt wie das Dorf selbst. Keine Sehenswürdigkeiten, keine groß zu feiernden Jahrestage, nicht einmal ein durchgereister Heiliger, der sich einmal im Jahr wichtig macht. Dafür an die zwanzig Vereine, vom Maschkerastammtisch über den Spar- und Stopselclub bis zu den Fingerhaklern ist alles vertreten. Wobei vom Fingerhakeln abzuraten ist, solange noch ein Briefmarkensammler unter den Familienmitgliedern weilt. Nicht dass man am End das ganze Glump erbt, es zu den vereinigten Briefmarkensammlern schleppt, die einen infizieren und einem dann seine Gelenksarthrose in die Quere kommt. Dreiviertel des Jahres ist Farchant von saftigen Wiesen und Weiden umzingelt, im Winter schneit es. Farchant hat auch einen eigenen Bahnhof. Der Spatenstich für den Bau der dazugehörigen Bahnlinie erfolgte etwa 1200 vor Christus, als durchreisende Bernsteinhändler eine erste Schneise durch diesen unwirtlichen Landstrich schlugen. Die feierliche Eröffnung der Linie Murnau−Garmisch-Partenkirchen fand allerdings erst dreitausend Jahre später statt, am 25. Juli 1889. Am Ende des Tals, in Sichtweite, liegt Garmisch-Partenkirchen, die Kreisstadt, die alles verschlingt, was an Farchant vorbeifährt, seit der Tunnel den Ort von der Welt abgeschnitten hat, zu der man aber ein entspanntes Verhältnis pflegt.
Abgesehen vom Tunnel hatte sich seit ihrem Weggang nicht viel verändert. Links und rechts der alten Straße, die während ihrer Abwesenheit in Kurven gelegt worden war, war ein Neubaugebiet entstanden, und wo in ihrer Jugend Kühe geweidet hatten, standen jetzt Einfamilienhäuser. In der anderen Richtung, zur Autobahn hin, hatte sich eine Handvoll Firmen angesiedelt, und der Friedhof war jetzt doppelt so groß, war aber immer noch mit diesem einzigartigen Bergblick gesegnet, der sie auch in der Fremde nie losgelassen hatte und den wohl auch Martha Bruckmeier genoss, wenn sie herüberschaute, im Winter vom Küchenfenster aus, im Sommer auf der kleinen Gartenbank neben der Haustür sitzend.
Martha Bruckmeier lebte alleine, vielleicht der Hauptgrund, warum sie nicht aufhörte zu arbeiten, dazu der Fortschritt in der Küche, all die Erleichterungen. Kein Vergleich zu früher. Die Pfannen, die sofort anbrannten, wenn man mal eine halbe Zigarettenlänge nicht aufpasste, das stundenlange Umrühren, die ewig sauertöpfischen Küchenmeister, die Schlepperei all die Jahre, besonders in den Großküchen, erst bei den Amerikanern, dann in der Bundeswehr. Und jetzt, wo es um so viel leichter geworden war, wollte sie das mitnehmen, so lange es noch irgendwie ging.
Ihre Eltern waren arme Kleinbauern gewesen. Einfache Leute von der Sorte, die nirgends dabei sind, die keiner kennt, die sterben, ohne dass es in ihrem Leben jemals etwas wirklich Schönes gegeben hätte, die Kinder haben, die ihnen egal sind, Hauptsache, sie funktionieren. Mittag heimgekommen, den Schulranzen achtlos in die Ecke gestellt, schnell etwas hinuntergeschlungen, dann ab in den Stall, auch am Sonntag, und immer auf der Hut vor dem Jähzorn des Vaters. Gleich