Mordnacht. Dieter Weißbach
hinten hatte sich ein silberfarbener BMW herangeschoben und war eben auf gleicher Höhe angekommen.
»Hallo«, wiederholte eine Frau aus dem halb geöffneten Autofenster.
»Ja, bitte?«
»Sind Sie von der Polizei?«
»Ich? Nein.«
»Dann darf ich Sie bitten, nicht weiterzugehen.«
»Aha. Und wer sind Sie?«
»Kriminalpolizei. Wenn Sie hier nichts zu tun haben, kehren Sie bitte wieder um.«
Sein Blick fiel auf das zweite Fahrzeug, einen weißen Kastenwagen.
»Jaja, schon recht«, reagierte er mit einer Mischung aus Überforderung und angeborener Dickfelligkeit. »Dann kehr ich eben wieder um.«
»Danke. Sehr freundlich.«
Er überlegte kurz, sich als Mitglied des Gemeinderats zu erkennen zu geben, entschied sich dann aber dagegen. Er hasste Wichtigtuer.
Die deutlichen Worte der Kriminalpolizistin hatten ihn zwar auf der Stelle umkehren lassen, aber schon nach wenigen Metern beschloss er, der Sache auf den Grund zu gehen. Er hätte nicht sagen können, was den Ausschlag gegeben hatte, der Ärger darüber, behandelt zu werden wie ein kleiner Junge, weggeschickt zu werden, ohne einen Grund genannt zu bekommen, die immerwährende Lust am Verbotenen oder einfach die Möglichkeit, es zu tun. Na wartet, ich kenn mich schließlich hier aus, ich find schon raus, was los ist, ich kann schließlich gehen, wohin ich will, ihr könnt nicht den ganzen Wald absperren. Der letzte Gedanke traf ein, da war er schon Richtung Berg, und jeder Schritt verursachte wunderschöne Glitzerwolken, die er aber nicht wahrnahm, jetzt, da er eine Aufgabe hatte.
»Was war das denn für ein komischer Kauz?«
Kommissar Tilman Würfel und seine alte Schiebermütze. Er hatte schon bemerkt, dass er nicht mehr der Einzige war, der mit so einem Ding durch die Gegend lief, besonders in der Stadt, wo die Leute schon bei null Grad herumrannten, als würde gleich die Arktis über sie hereinbrechen. Er zupfte noch einmal rechts und links an den Ohrenklappen – entweder war die Mütze eingegangen oder der Kopf über Nacht gewachsen –, atmete tief ein und musste prompt husten.
»Einheimischenmodell, Tilman. Aber jetzt komm. Sabine, habt ihr alles?«
»Ich denk schon«, antwortete Sabine Englmacher, Pauligs Spezialistin für Spurensuche. Ihr weißer Overall fügte sich perfekt in die Landschaft, ihre hennaroten Haare brannten. »Hoffentlich haben die nicht schon alles niedergetrampelt. Tilman«, sie drehte sich noch einmal um, »magst uns nicht beim Tragen helfen?«
»Oh, entschuldige«, schuldbewusst zog er die Hände aus den Hosentaschen, »aber meine Finger sind jetzt schon Eiszapfen.«
»Keine Angst, beim Tragen wird dir schon warm. Christine, hast du nicht gesagt, wir werden abgeholt?«
»Ja, eigentlich … Ah, ich glaub, da ist noch jemandem kalt.«
»Grüß Gott. Oberwachtmeister Schieder. Seid ihr die Kollegen aus München?« Auf halbem Weg drückte sich der junge Beamte die Dienstmütze in die Stirn und stellte den Jackenkragen auf. »Entschuldigen Sie, aber es ist dermaßen kalt heut früh. Und gestern ist es ziemlich spät geworden, wegen der Probe, also wegen unserem Faschingsball …« Er klatschte ein paarmal in die Hände und scharrte mit den Hufen, definitiv zu wenig, um sich aufzuwärmen. Sein Kollege stieg nun ebenfalls aus, blieb aber am Wagen stehen.
»Kein Problem«, sagte Christine Paulig. »Sagen Sie uns nur, wo wir hinmüssen, dann können Sie sich auch schon wieder reinsetzen. Ach ja, wer war denn der Mann da gerade eben?«
»Der? Keine Ahnung.« Schieder schaute in die angegebene Richtung und wandte sich dann nach rechts. »Sehen Sie das Marterl da oben?« Er wartete, bis Pauligs Blick dem seinen folgte. »Also, da oben ist ein Weg. Da rauf und dann rechts in den Wald bis zu so drei Fichten, oder Tannen, auf jeden Fall groß. Und vorher kommt noch ein Zaun. Zehn Minuten, würd ich sagen. Bei dem Schnee eher eine Viertelstunde, Frau …«
»Hauptkommissarin Paulig. Also dann. Und lassen Sie niemanden durch. Wenn Sie sich nicht sicher sind, rufen Sie mich an. Hier, meine Karte. Und jetzt gehen Sie lieber wieder in Ihren Wagen, bevor Ihnen noch was abfriert.«
»Jawohl, Frau Hauptkommissarin.« Er nahm kurz Haltung an, was aber nicht besonders glaubwürdig wirkte. »Und, äh, wär sehr freundlich, wenn Sie nicht verraten würden, wie Sie uns, also dass wir im Auto waren.«
»Lässt sich einrichten. Aber halten Sie ihre Augen offen. Man weiß nie, wen es an einen Tatort zieht. Haben Sie eine Kamera dabei? Halten Sie sie griffbereit. Wenn Ihnen was auffällt, dann filmen Sie das bitte. Aber unauffällig. Verstanden?«
»Jawohl, Frau Hauptkommissarin. Und … danke.«
»Keine Ursache.«
Sie sah ihm noch einen Moment hinterher und ging dann ebenfalls.
»Was hast du gerade gesagt, Christine?«, fragte Tilman über die Schulter.
»Dass er filmen soll. Das wird er doch wohl hinkriegen. Dafür muss er nicht mal aussteigen.«
»Nein, das andere.«
»Dass er aufpassen soll, dass ihm nichts abfriert?«
»Findest du das nicht ein bisschen zu, wie soll ich sagen, gewagt?«
»Ich hab ja nicht gesagt, was ihm nicht abfrieren soll.«
»Also, ich weiß nicht. Gegenüber einem Kollegen.«
»Tilman, du bist so ein Spießer«, lachte Paulig.
»Findest du? Nur weil ich …«
»Was ist denn bei euch schon wieder so lustig?«, fragte Englmacher und stapfte voran. »Wie man überhaupt noch reden will bei der Arschkälte.«
Ihr folgten Onur Özokan, genannt Ötzi, erst seit ein paar Jahren bei der Mordkommission, und Erich Veigl, Münchner Urgestein und seit Jahren an der gefühlten Pensionsgrenze – niemals wäre es jemandem eingefallen, einen ohne den anderen anzufordern –, beide mit unzureichendem Schuhwerk.
»Das hab ich auch schon lang nicht mehr gehabt, dass einem der Rotz in der Nase gefriert«, brummte Veigl.
»Sag ich doch.« Paulig war bester Laune. »Auf geht’s, Tilman. Ran an den Speck.«
»Soll das etwa eine Anspielung sein?«
»Aber Tilman, wie kommst du denn darauf. Übrigens, hat wer was zum Lutschen dabei? Immer noch das Beste, wenn man sich nicht erkälten will.«
»Ist das ein Hausrezept deiner Werdenfelser Vorfahren?«
»Tilman, nichts gegen meine Vorfahren, sonst setz ich dich hier aus.«
»Um Gottes willen. Ich sag ja eh schon nichts mehr.«
»Gib lieber Gas. Die Englmacherin läuft uns sonst noch davon.«
Paulig erhöhte ihre Schrittfrequenz. Dabei versuchte sie, abzuschätzen, wann sie die Kollegin ungefähr eingeholt haben würde.
»Was hat die denn gefrühstückt«, nuschelte sie in ihren Anorak.
»Ich hab gleich gesagt, lass mich daheim. Hättest halt den Manzoni mitgenommen.«
»Was will ich mit dem Manzoni, der ist ja noch verfrorener als du. Und außerdem, der soll sich um die beiden Alten kümmern. Jetzt komm schon, reiß dich zusammen, wir sind ja gleich da.«
»Wenn’s nur nicht so scheißsteil wär.«
»Tilman, was du steil nennst, ist ein Spazierweg für ältere Leute.«
»Im Sommer vielleicht.«
»Jetzt komm. Nur noch ein paar Meter.«
Ein erneutes Absperrband, an einem Weidezaun befestigt, schien ihr recht zu geben. Paulig kletterte drüber und öffnete das Gatter.
»Halt!«