Mordnacht. Dieter Weißbach

Mordnacht - Dieter Weißbach


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Schusslinie begibt? »Milch und Zucker?«

      »Bitte nur Zucker.«

      »Wissen Sie, Frau Kollegin«, Neuner räusperte sich endgültig zurück zu einem aufgeräumten Ton, »wir stehen öfter herum da oben. Das ist sozusagen unser Treffpunkt. Der Notar Oscar Vincenti gehört auch dazu. Immer nur wir fünf. Schon seit unserer Schulzeit. Deswegen ist es ja auch so unfassbar. Wissen Sie, wir fünf …«

      4

      E in Blick in den Spiegel der Herrentoilette bestätigte Lufti Häuslers Vermutung. Er sah furchtbar aus. Die Augen gerötet, der Bart zerzaust, das Gesicht verschmiert von Rotz und Tränen. Über zwei Stunden war er nur gelaufen. Am Fricken entlang, über die Ursprünge, am Golfplatz vorbei Richtung Oberau und wieder zurück. Erneut wogte das Ungeheuerliche durch sein Gehirn. Wolfram war tot. Sein bester Freund, so lange er denken konnte. Klug, freundlich, maßvoll in allem, was er tat und sagte, bescheiden geblieben trotz seiner vielen Prominentenfreunde, mit einer Frau, um die man ihn beneidete, und zwei wohlgeratenen Kindern. Und als wäre das nicht genug, hatte es auch noch Erwin erwischt. Nicht unbedingt ein bester Freund, aber doch ständiger Begleiter seit Kindertagen. Einer, den sich keiner als Freund aussucht, der aber trotzdem immer dabei ist, der nur auffällt, wenn er fehlt. Den sie nur mitlaufen haben lassen, weil es keiner gewagt hat, ihn auszuschließen. Sonst hätte es sofort geheißen, es wäre nur wegen seiner Behinderung. Zumindest hätte er das behauptet. Was heißt, hätte. Hat. Aber das war Ewigkeiten her. Nein, eigentlich war er schon ein Freund gewesen, bereits allein durch die Dauer, die sie sich kannten. Ein ganzes Leben. Und er war zuverlässig. Stimmt. Das war er wirklich … Erschlagen, einfach totgeschlagen, wie die Welpen aus einem schlechten Wurf.

      Das Gesicht gewaschen, Frisur und Schnauzer wieder in Form gebracht, ging er auf seinen Platz.

      »Ist was?«

      »Ach, Vroni«, stöhnte er, dann schaute er sie groß an. »Mein Gott, du weißt ja noch von gar nichts. Der Wolfram ist tot. Und der Erwin. Erschlagen. Oben, am Philosophenweg.«

      Der Wolfram? Der Summer? Und der Erwin?« Äußerlich unbewegt, schenkte sie ihm sein Weißbier ein. Dann fragte sie noch einmal nach: »Du meinst schon …?«

      »Bitte sei so gut, schenk mir einen Grappa ein, einen doppelten.«

      »Auch schon was zum Essen?«

      »Zum Essen? Ist schon Mittag?«

      »Nein, noch nicht. Aber ich könnt dir eine Brotzeit machen. Außer du willst warten, bis die Martha da ist. Die macht dir dann was Richtiges.«

      »Wie, was Richtiges. Du meinst doch nicht im Ernst, dass ich jetzt was essen kann.«

      Mit zwei Zügen leerte er sein Bier. Aber erst der Grappa beruhigte ihn so weit, dass er sich in der Lage fühlte, zu telefonieren.

      »Doktor Vincenti?«

      »Nein.«

      »Darf ich durchstellen?«

      »Nein … Wer ist es denn?«

      »Herr Häusler.«

      »Stellen Sie durch …«

      Kein Knacken in den Schaltkreisen, kein Getute, kein Sekretärinnengetuschel bereitete einen heute noch darauf vor. Es konnte schnell gehen, es konnte aber auch dauern, Warteschleifenmusik lehnte er ab. Lieber nichts, auch wenn es sich dann noch mehr wie ein Überfall anfühlte, wenn eine kühle Frauenstimme plötzlich »Einen Moment noch« sagte und man sich unwillkürlich fragte, wie lange die Frau einem eigentlich schon beim Schnaufen zuhörte.

      »Oscar?«

      »Ja.«

      »Weißt du’s schon?«

      »Ja. Der Wolfram und der Erwin.« Normalerweise bellte er ins Telefon, doch mehr als ein Knurren war heute nicht drin. »Ich hab schon ein paarmal versucht, dich anzurufen, aber du bist nicht rangegangen. Der Joseph hat mich informiert. Woher weißt du es?«

      »Ich war da.«

      »Du warst da? Oben? Da, wo …? Wann?«

      »Vorhin. Nach dem Frühstück. Ich hab ihn gesehn. Also den Wolfram.«

      »Du hast ihn gesehn? Und? Schlimm?«

      Während Oscar darauf wartete, dass Lufti weiterreden würde, suchte er nach seinen Gefühlen.

      »Ob’s schlimm war?«, fragte Lufti verstört. »Was meinst denn du? Meinst … meinst … Ich mein … Ist das alles, was du …?«

      Ja, ich weiß. Ja, ist schon schlimm, natürlich, furchtbar. Mein Gott, was soll ich sagen … Bist du im Stüberl?«

      »Ja.«

      »Ich komm rüber. Bis gleich. Ich fahr sofort los … Frau Gstattenbauer? Ich bin dann mal schnell eine Stunde weg. Können auch zwei werden.«

      »Aber …«

      »Nix aber. Sie machen das schon. Machen‘s einfach einen neuen Termin.«

      Die durchschnittliche Lebensdauer eines Haares liegt bei drei bis sieben Jahren. Dann fällt es aus und macht einem neuen Platz. Das kürzeste Leben haben die Haare an den Schläfen und die Barthaare. Deshalb beginnt das Grau hier zuerst.

      Einer der wenigen Menschen, dessen Haar auch mit beinahe siebzig noch ausnahmslos in der Farbe glänzte, die die Natur einst für ihn ausgewählt hatte, war der Notar Oscar Vincenti. Ein tiefes, dunkles Braun, das man zwar ebenso gut für schwarz halten konnte, doch er bestand darauf, dass es ein zwar dunkles, aber doch eindeutig zu identifizierendes Braun war. Die Vehemenz, mit der er diese Auffassung vertrat, war nicht mehr als eine lieb gewonnene Tradition, ein übrig gebliebener Spaß aus qualvoll erlebten Kinder- und Jugendtagen, wobei die Farbe eigentlich nur einen Nebenaspekt darstellte. Das Problem, das ihm Kindheit und frühe Jugend verleidet hatte, daran vermochte auch die schönfärberische Macht der Erinnerung nichts zu ändern, war ihre Beschaffenheit – sie kräuselten sich. Zu allem Überfluss litt er auch noch unter dunkler Haut. Aber auch hier setzte er früh seinen Willen durch und bestand auf der selbst gestellten Diagnose Pigmentstörung. Mit seinen Augen hatte er es nicht viel besser getroffen. Sie schimmerten in einem sanften Kastanienbraun. Mit Beginn der Pubertät, die bei ihm früher einsetzte als bei seinen Mitschülern, trat der nächste Horror in sein Leben, eine ausgeprägte Körperbehaarung. Außerdem war er dick. Vor zweihundert Jahren, bei den Buschmännern Afrikas oder bei den Aborigines, hätte man ihn wahrscheinlich für einen Menschen gehalten, der mit einem besonders starken Totemtier gesegnet war, einer, der ausersehen war, Großes zu vollbringen. Aber Oscar Vincenti war in Farchant geboren und in Garmisch-Partenkirchen aufs Gymnasium gegangen, und hier wie da hieß es nur: »Schau hi, der schaut grod aus wia a Aff.«

      Wahrscheinlich hat er sich deshalb schon in jungen Jahren eine Ruppigkeit angewöhnt, die ihn nicht unbedingt sympathisch machte, aber bei seinen Klienten gut ankam.

      Oscar und Lufti waren anders als die anderen. Der eine war etwas zu dunkel geraten, woher, das wusste kein Mensch, Lufti neigte zu Extremen. Oscar, der Grobe, hatte früh gelernt, mit seiner offensichtlichen Andersartigkeit fertig zu werden, Lufti hingegen hatte lange nicht einmal gewusst, gegen was er ankämpfte. Als er es erkannte, brachte es ihn fast um.

      Mitten im Schuljahr hatten sie einen neuen Religionslehrer bekommen. Ein junger Pfarrer, von dem ihm nur sein holländischer Akzent und seine wässrigen Augen in Erinnerung geblieben waren − und dass seine Vorträge, die nur mehr am Rande mit Religion zu tun hatten, keiner verstand und dass er sie gerne mit einem Zitat beendete. Zum Beispiel mit dem von der Spreu und dem Weizen, der Lufti jedes Mal einen unerklärlichen Schauer über den Rücken jagte. Eines Tages wählte der Pfarrer eine Stelle, die er nie vergessen würde. Von da an wusste er immer, um was es ging, und auch, wer gemeint war.

      »Desgleichen gaben die Männer den natürlichen Umgang mit der Frau auf und entbrannten in ihrer Gier zueinander, sodass Männer mit Männern Unzucht trieben und den gebührenden Lohn für ihre Verirrung erhielten. Wer hat das gesagt?« Der Lehrer warf einen Blick ins Schülerrund, das seine Unterrichtsstunden hinnahm wie das Wetter und so gut es eben ging


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