Mordnacht. Dieter Weißbach

Mordnacht - Dieter Weißbach


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ihre Polizeimarke entgegen. Als er nicht sofort reagierte, deutete sie auf Sabine. »Oder meinen Sie, wir laufen zum Spaß so rum.«

      »Aha.« Es klang nicht so, als wollte er sich damit zufriedengeben. »Sind das dann alle, oder kommen da noch mehr?«

      Vielleicht wollte er aber auch einfach nur alles richtig machen.

      »Fünf Mann, reicht Ihnen das nicht?«

      Schon wieder so ein Komiker, dachte Paulig. Das kann ja heiter werden.

      »Entschuldigung, ich hab nur …«

      »Sind wir bald da?«, schnaufte Tilman von hinten.

      »Ja, da oben.« Sein brummiges Auftreten schien den Beamten zu überzeugen. »Ich geh voraus.«

      »Dann wollen wir mal«, murmelte Paulig und setzte sich an die Spitze des Zugs.

      »Ganze Arbeit«, fasste Würfel zusammen. »Sabine, wo machen wir die Gasse?«

      »Ich denke, am besten gleich da, wo du stehst. Obwohl das nicht mehr viel bringen wird, so wie das hier ausschaut. Als wäre eine Horde Trampeltiere durchgezogen. Nimmst du mal das Band?«

      Paulig machte Platz für die Kollegen. Sie war die mit dem Überblick. Nach ein paar Metern blieb sie stehen und begann, sich einmal langsam um die eigene Achse zu drehen. Am Ende der Bewegung fiel ihr ein Baum auf, der sich schüttelte.

      »Hallo! Hallo!«

      Tilman folgte ihrem Blick.

      »Ist das nicht dieses Einheimischenmodell?«

      »Schaut ganz so aus. Hallo!«, rief sie erneut. »Würden Sie bitte zu uns kommen!«

      Lufti Häusler hatte sich hundert Meter weiter oben in die Büsche geschlagen und sich dann langsam nach unten gearbeitet. Genau in dem Moment war er auf die Lichtung getreten.

      »Scheißpelerine«, fluchte er und versuchte vergebens, den rauen Stoff vom Schnee zu befreien. »Ich schau ja aus. Und der Hut erst. Total verbogen.«

      Bereits beim ersten Schritt versank er hüfttief. Mühsam kämpfte er sich voran. Das Gelände war nicht steil, aber bucklig, jede einzelne Senke angefüllt mit Schnee. Völlig außer Atem kam er an. Schuldbewusst senkte er sogleich den Blick.

      Wie am Ende eines Konzerts, wenn nicht die Intensität des Beifalls das Maß aller Dinge ist, sondern der Zeitraum, der zwischen beiden Ereignissen liegt, bemaß auch Kommissarin Paulig gerne die Zeit, denn sie schien ihr weniger leicht manipulierbar. Bei Karl-Friedrich Häusler war sie beträchtlich.

      »Sie kennen den Mann …? Hallo …? Herr …?«

      Dann wartete sie, und die Kollegen mit ihr.

      »Was …? Mein Gott … Was? Ja freilich. Das ist der Wolfram. Mein Gott, der Wolfram, unser Wolfram … Das ist unser Wolfram«, wiederholte er in ungläubigem Entsetzen.

      Ehe die Beamten reagieren konnten, war er auf die Knie gesunken.

      »Wolfi«, flüsterte er, »mein Gott, Wolfi, wer hat denn dich so zugerichtet? Mein Gott, was machst denn da …?«

      Er machte Anstalten, den Kopf des Toten zu berühren, doch Paulig hielt ihn sanft davon ab. Eine ganze Weile kauerte Häusler neben seinem toten Freund und hielt Pauligs Hand. Dann schaute er sie mit großen Augen an. Dicke Tränen kullerten über sein Gesicht. Er machte keine Anstalten, sie wegzuwischen. Wie ein Kind, dachte Paulig verwundert.

      »Aber sagen Sie, wo ist eigentlich der Joseph, der Herr Neuner, meine ich? Müsste der nicht …? Ist der nicht da?«

      »Nein, der ist nicht mehr da.«

      Der Mann schien regelrecht weggetreten zu sein.

      »Sie waren wohl gute Freunde, Sie und der Tote?«, fasste Paulig behutsam nach.

      »Ja. Erst gestern sind wir hier oben zusammengestanden. Also da unten, beim Kreuz … Mein Gott, der Wolfi … Aber wer macht denn so was? Wolfi … Wolfram …«

      »Wir wissen es noch nicht.« Paulig blieb bei ihrem freundlichen Ton. »Wir stehen erst am Anfang. Es wäre schön, wenn Sie uns helfen könnten … Geht’s wieder einigermaßen? Können wir?«

      Der erste Eindruck. Alles, was danach kam, war verändert, mit Wertungen versehen, Urteilen unterworfen, Einflüssen ausgesetzt, relativiert. Es war immer eine Heidenarbeit, ihn wieder freizulegen. Sie neigte zu Überraschungsangriffen. Kollege Tilman Würfel setzte auf Beharrlichkeit. Eigentlich hätte es umgekehrt sein müssen, Paulig war schließlich die Ältere von beiden. Eine große Frau, Anfang fünfzig, sportbegeistert, ihre schwarzen Haare und die scharf geschnittenen Gesichtszüge erinnerten an Cher, eine amerikanische Schauspielerin und Sängerin, der sie auch in anderer Hinsicht nachzueifern begann. Unbemerkt von ihrer Umwelt hatte sie sich im Urlaub eine kleine Korrektur der Augenlider gegönnt. Würfel, Mitte dreißig, Oberkommissar, zu mehr fehlte der Ehrgeiz, war das glatte Gegenteil. Einen Kopf kleiner und nur schwer dazu zu bewegen, freiwillig das Büro zu verlassen, mit einer Veranlagung zum Dickwerden. Das eine nährte das andere. Dafür war er der geborene Familienmensch. Seit seine zweite Tochter auf der Welt war, arbeiteten er und seine Frau schon wieder am nächsten Kind. Sollte es diesmal ein Junge werden, wollten sie aufhören.

      Es folgte die Aufnahme der Personalien und eine erste Einvernahme. Mit der Bitte, wenn möglich noch heute in die Dienststelle zu kommen, wurde Karl-Friedrich Häusler nach Hause geschickt. Sichtlich erschüttert, wie Würfel notierte.

      Währenddessen hatte Christine Paulig begonnen, den Weg zu untersuchen. Aber die einzigen Spuren waren die der Joggerin, die den Toten gefunden hatte. Unglaublich, dachte sie, wie man bei dem Schnee überhaupt laufen kann, sie muss verdammt fit sein. Alles andere hatte der Schnee unter sich begraben, den Tatort selbst hatten die Kollegen vor Ort von brauchbaren Spuren befreit.

      »Christine, kommst du wieder? Ich glaub, ich bin so weit.«

      Langsam näherte sie sich erneut der Leiche. Der Mann hieß Wolfram Summer, war siebenundsechzig Jahre alt, verheiratet, wohnhaft in Garmisch-Partenkirchen, Facharzt für Orthopädie, schlank, mittelgroß, kurze grau melierte Haare, braune Augen, kein sichtbares Blut. Die Druckstellen auf der Nasenwurzel wiesen ihn als Brillenträger aus.

      »Hat wer eine Brille gesehen?«

      »Hier«, antwortete Özokan und hielt einen Frischhaltebeutel in die Luft. »Kenn ich. Coole Marke.«

      »Okay.« Paulig wandte sich an Sabine Englmacher. »Und? Schon eine Idee?«

      »Genickbruch.« Ihre Kollegin schob den Mundschutz nach unten und stellte sich in Positur. »Ich denke, der Täter hat ihn hier abgepasst. Also, ich stell mir das so vor, er hat hinter dem Baum auf ihn gewartet, dann ein Schlag in den Bauch.« Sie vollführte eine Bewegung, die an Golf erinnerte. »Er geht in die Knie, und dann von oben nach unten mit voller Wucht. Der zweite Schlag hat ihm definitiv das Genick gebrochen. Deshalb hängt sein Kopf auch so schief. Die Halswirbelsäule ist komplett durch. Dafür muss man schon ordentlich hinlangen. Ich weiß noch nicht, mit was. Eisen, Hartholz oder etwas in der Art. Aber eher Eisen. Ein Stahlrohr vielleicht. So etwas wie ein Golfschläger. Wir haben einen perfekten Abdruck am Bauch. Also, wenn du mich fragst, war da jemand ernsthaft sauer, oder er wollte auf Nummer sicher gehen. Auf jeden Fall eine saubere Arbeit, kein unnötiges Gemetzel. Tja, und dann hat er ihn hierhin geschleppt und von hinten an den Baum gelehnt. Siehst du die Kuhle zwischen den Wurzeln? Schau, wie schön er ihn hingesetzt hat. Da hat sich jemand wirklich Mühe gegeben. Würd mich also nicht wundern, wenn der sich hier ausgekannt hat.«

      »Ja, ein wirklich gutes Versteck, zumindest im Winter, wenn keiner den Weg verlassen kann, ohne dass er im Schnee ersäuft.«

      »Und solange keiner eine Stelle zum Pinkeln sucht.«

      »Irgendwelche Anhaftungen an der Rinde?«

      »Nein.«

      »Erich, hast du noch was?«

      »Nein, nichts. Alles da. Schlüssel. Geldbeutel. Mit Papieren, Geld und Kreditkarten.«


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