Mordnacht. Dieter Weißbach
drei Serien, die die Blaupausen für ihre Zukunft lieferten. Die letzte Staffel einer himmelschreienden Klinikserie, eine Winzerserie, aus der sie die Rolle der Gutsherrin übernehmen sollte, und »Richterin Holm«. Der Numerus clausus für Jura war machbar, das Studium anspruchsvoll, die Richterserie zwar auf unterstem Niveau, aber die Richterin echt und sogar richtig gut. Also beschloss sie, ihrer Mutter eine Freude zu machen, und studierte Jura. Zumindest machte es Spaß, die Geschichte so zu erzählen. Richtig war, dass der Beruf ihr entsprach, dass es Yasmin Kaan – der Schäfer kam erst später hinzu – lag, etwas zu durchdringen, an etwas dran zu bleiben, wenn es kompliziert wurde, sich hineinzufuchsen, all das, was man gemeinhin unter Ehrgeiz versteht. Waren es die Gene, wie ihr Vater meinte? Oder lag es an der konsequenten und vorausschauenden Erziehung ihrer Mutter, wie diese nicht müde wurde zu betonen? Oder doch eher am Nachnamen, was auch immer der im Konkreten heißen mochte, auf jeden Fall Verpflichtung, Erwartungen erfüllen, Stärke zeigen. Sie hatte ihn gehasst. Ein Mädchen, das von seiner Mutter Kaan gerufen wurde. Eine Kaan tut das nicht, eine Kaan tut jenes nicht. Wenn sie etwas gut gemacht hatte, eine echte Kaan eben, Kaan als Lob und Kaan als Tadel, Kaan in allen Lebenslagen. Aber als sie heiratete und ihn problemlos hätte loswerden können, behielt sie ihn.
Auf Staatsanwältin kam sie, weil ihr das Konkrete gefiel, die Möglichkeit, für etwas zu kämpfen, Stellung zu beziehen, auf der richtigen Seite zu stehen und nicht zuletzt wegen der lebendigen Vorlesungen des Oberstaatsanwalts Bernhauer. In einem seiner Vorträge hörte sie auch von Christine Paulig, der Hauptkommissarin mit der höchsten Aufklärungsquote im Freistaat. Legendär, wie sie aus Protest über das skandalös milde Urteil für einen von ihr überführten Doppelmörder ihren Job schmiss und erst Jahre später zurückkam. In der Zwischenzeit hatte sie eine Security-Firma gegründet, wieder verkauft und eine Zeit lang auf Mallorca gelebt.
Als Yasmin Schäfer-Kaan quasi bei ihr anfing, merkte sie eines sehr schnell: dass es eine feine Sache war, ein abgeschlossenes Jurastudium in der Tasche zu haben, aber etwas ganz anderes, ein Gespür zu entwickeln. Beinahe bestürzend war die Erkenntnis, dass da noch etwas anderes sein musste als Fleiß, etwas, das man nicht studieren konnte, das keiner Logik folgte, sich auf nichts stützte. Der Begriff »Instinkt« griff zu kurz, gefiel ihr aber noch am besten, passte er doch zu einem anderen der wegen ihrer Alleingänge gefürchteten – der Jagdlust. Vielleicht bedingte das eine ja das andere. Sie selbst blieb, trotz ihres martialischen Nachnamens, lieber auf der sicheren Seite, jener der Paragrafen.
3
L ufti Häusler war es gewohnt, früh aufzustehen. Nicht einfach mal schnell im Jogginganzug, sondern korrekt mit Mantel, Hut und Schal holte er seine Frühstückssemmeln, die Zeitung und einmal in der Woche eine große Tüte Knödelbrot (Brot nicht, das kaufte seine Frau). Den kleinen Zeitungsstand gleich links neben der Tür hatte der Bäcker ihm zuliebe extra eingerichtet. Vorher hatte er seine Frühstückslektüre immer im Supermarkt gekauft, aber der war vor einigen Jahren an den Ortsrand gezogen, Richtung Garmisch, ins äußerste Eck. Er hätte sie natürlich auch einfach abonnieren können. Doch da wäre er sich nie sicher gewesen, ob und wann, und wenn, in welchem Zustand er sie bekommen würde.
Er saß bei seiner zweiten Tasse Tee, als zwei Polizeiautos auf der Partenkirchner Straße kurz hintereinander ihre Sirenen abschalteten. Er dachte an das Nächstliegende – einen Unfall am Bahnübergang.
»Weißt du, was da los ist?«, fragte Elvira aus der Küche.
»Ein Unfall wahrscheinlich«, antwortete er ohne aufzusehen.
»Bitte sei so gut und schau auf die Eier, nicht, dass die hart werden.«
»Interessiert dich gar nicht, was da los ist?«
»Morgen steht’s eh in der Zeitung. Aber wenn’s dich beruhigt, ich geh sowieso gleich ins Holz.«
Wieder war nur das feine Ticken der Stubenuhr zu hören und das Umblättern der Zeitung, für Elvira ein sicherer Gradmesser für die Stimmung im Haus.
»Du, Karl-Friedrich?«
»Elvira?«
»Es sind heut übrigens weiße Eier, die mit den braunen Schalen waren aus. Macht das was?«
»Solange ich sie nicht mitessen muss.«
»Ich hab nur gemeint, nicht dass du dich wunderst.«
»Keine Sorge, ich wundere mich schon nicht. Hab gar nicht gewusst, dass es die überhaupt noch gibt.«
»Doch, doch, die gibt’s schon noch. Aber schon mehr die braunen.«
Nach den beiden Eiern, die er etwas schneller löffelte als sonst, marschierte er los. Die Zeitung hatte er entgegen seiner Gewohnheit noch vor den Sterbeanzeigen zusammengefaltet.
Am Bahnübergang war nichts Auffälliges zu sehen, nichts, das auf einen Unfall deutete, aber auch kein Rabe, der sich ihm vertraulich näherte und dann aufflog, oder etwa ein Bild, das ihm ohne zu fragen in den Sinn gekommen wäre, nichts, was ihn darauf vorbereitet hätte.
Er schaute sich noch einmal um und ging weiter Richtung Berg. Er mochte den Gedanken, Angenehmes mit Sinnvollem zu verbinden, es gab ihm ein gutes Gefühl und seinem Schritt Kraft. Einfach spazieren zu gehen wie andere in seinem Alter, war nicht seine Art und wäre auch kaum möglich gewesen. Sein Leben, obwohl es lange nicht danach ausgesehen hatte, war der Baum. Am liebsten sauber gestapelt, in Ruhe gereift und bereit zum Verkauf. Den Umschwung bewirkt hatte ein Artikel im Fachblatt für holzverarbeitende Betriebe. Es war um Tonholz gegangen, diesem wunderbaren Element, ohne das es keine Geigen gäbe, keine Cellos, Kontrabässe und Gitarren, nicht einmal vernünftige Holzblasinstrumente. Und gerade da, wo er lebte, wuchs es. Außerdem war es ein lohnendes Geschäft. Erst vor Kurzem war ein Ahornstamm auf einer Auktion, bei der er Gast war, für knapp sechzehntausend Euro über den Tisch gegangen. Er ging gerne auf Auktionen. Auktionen und Messen boten willkommene Gelegenheiten, ganz offiziell und ohne sich vor übler Nachrede fürchten zu müssen, aus der Enge des Tals herauszukommen und unauffällig ein verlängertes Wochenende in der Stadt zu verbringen. Das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden, dachte er vergnügt und erhöhte sein Tempo.
Er mochte diese frühe Kälte, wenn die Augen tränten und er sich nicht sicher war, ob die Möglichkeit, dass sie in ihren Höhlen festfroren, vielleicht mehr war als nur eine theoretische Möglichkeit, wenn er schnell sein musste mit dem Anzünden der ersten Zigarette des Tages, bevor die Finger sich steif machten. Er mochte den Anblick der Berge, die wirkten wie eingeklebt ins schmerzhaft eintönige Blau des Himmels, das kein Zeichenlehrer akzeptieren würde, verbunden mit dieser unglaublichen Kälte, die es in der Stadt nicht gab, besonders, wenn sie mit diesem unerhörten Glitzern daherkam, ohne das sie nicht zu haben war. Er bemerkte nicht, dass es umgekehrt war, und vielleicht war das das Zeichen.
Eben passierte er das letzte Haus am Lift. Ein Zugereister wohnte hier, der Einzige vom Stammtisch, der kein gebürtiger Farchanter war. Waldemar Perchtold, ein wilder Hund aus Schweinfurt, der nach dem Krieg als Dreizehnjähriger bedürftige GIs mit Mädchen versorgt hatte und damit sein erstes Geld verdiente. Lufti bewunderte ihn. Ein freier Mann, frei von jeglicher Angst, nicht einmal die Diagnose Herzinfarkt hatte ihn erschüttern können. Als Lufti ihn im Krankenhaus besuchte – sieben Stents hatten sie ihm gesetzt, wie Perchtold stolz verkündete –, lagen ein Dutzend Golfprospekte über die Bettdecke verteilt. An seiner Seite stand der Küchenchef der Klinik und diskutierte mit ihm die Menüfolge für die nächste Woche. Seine Gattin war ebenfalls anwesend. Eine attraktive Frau, die ihm zuliebe eine hoffnungsvolle Karriere als Geigenvirtuosin aufgegeben hatte und ohne die er, wie er offen zugab, bestimmt schon längst abgeschmiert wäre. Einsicht ist der erste Weg zu Besserung, dachte Lufti und schaute auf die Uhr. Zu früh für einen Besuch. Gestern war es wieder spät geworden. Und feucht. Nicht für ihn, er wusste immer, wann Schluss war. Aber bestimmt für Waldemar, zu dessen herausragenden Eigenschaften sein enormes Fassungsvermögen zählte. Am liebsten schmeckten ihm Obstbrände. Wenn Lufti in der Stadt war, vergaß er nie, ihm einen besonderen Tropfen mitzubringen. Außerdem war Waldemar ein Meister im Schafkopfen und einer der besten Stockschützen im Tal – also in jeder Hinsicht eine Bereicherung.
Ein rotweiß gestreiftes Flatterband erregte seine Aufmerksamkeit. Eine Baustelle? Mitten