Der Seele tiefer Grund. Beate Berghoff
zögerte kurz und meinte dann: „Ja, Herr.“
Heinrich wartete, aber da kam nichts mehr.
Also hakte er nach: „Gut. Also wirst Du versuchen zu gewinnen?“ „Ja, Herr.“ Martin starrte angespannt auf die Tischplatte. Heinrich war nicht so ganz überzeugt. Er hatte eine Idee: „Nun denn: Wenn Du das erste Mal gewinnst, dann lasse ich uns Früchtebrot und süße Wecken bringen, die essen wir dann zusammen.“ Martin sah nicht auf. Er war verwirrt. Warum nur wollte der Herr, dass er gewann? War Martin nicht einfach nur geholt worden, um ihm die Zeit zu vertreiben? Würde der Herr wütend werden, wenn er gegen seinen Stallknecht verlor? Heinrich hatte ihm aufgetragen, zu gewinnen. Er hatte sogar Früchtebrot und süße Wecken versprochen. Martin glaubte ihm kein Wort, und trotzdem: der Herr wollte, dass er gewann, warum auch immer, also würde er gewinnen.
Bereits bei der übernächsten Runde schlug Martin den Herrn haushoch. Er schwieg angespannt, doch Heinrich lachte: „Gut gemacht! So soll das sein! Geh doch bitte und ruf die Hauserin!“ Martin verstand die Welt nicht mehr. Der Herr hatte „Bitte“ gesagt. Was ging hier vor?
Folgsam stand er auf, verbeugte sich und ging, um die Wirtschafterin zu holen. Er kehrte mit ihr zusammen zurück, und Heinrich trug ihr auf, warmen gewässerten Würzwein, Früchtebrot, süße Wecken oder sonstige Leckereien zu bringen, die gerade da waren.
Martin stand verwundert da. Was war los mit dem Mann dort im Bett? Hatte er sich beim Sturz am Kopf verletzt? Dass er einfach nur dankbar war für die Rettung aus dem kalten Bach, das glaubte Martin nicht. Dankbarkeit und Heinrich, das konnte er nicht zusammenbringen. Irgendetwas war. Der Herr Heinrich tat Dinge eigentlich nur, wenn sie ihm nutzten. Sicherlich sollte Martin ihm nur die Langeweile vertreiben und dann wieder gehen.
Heinrich lud ihn ein, sich zu setzten, und sie spielten noch eine Runde Alquerque zusammen.
Das Essen wurde gebracht und Martin gingen die Augen über. Es gab Früchtebrot und Butter, Wecken mit Weinbeeren und Rahm. Martin wurde nervös. So gute Sachen bekam nur sehr selten, nur an hohen Feiertagen. Heinrich wollte seinen Gast freundlich anlächeln, der aber hielt den Kopf gesenkt, also sagte er laut und deutlich: „Bitte, greif zu!“
Langsam hob Martin den Kopf und sah sein Gegenüber an. Sollte er wirklich einfach hinlangen und essen? Heinrich schob gerade den ersten mit Rahm gefüllten Rosinenwecken hin sich hinein und nickte Martin freundlich zu. Ergeben streckte Martin die Hand aus und nahm sich auch einen. Er war nervös und würgte den Wecken so schnell wie möglich hinunter, bevor der Herr Heinrich es sich anders überlegen konnte. Doch nichts passierte. Martin leckte seine Lippen. Der Wecken war wirklich gut gewesen. Den zweiten würde er genießen. Vorsichtig nahm er sich noch einen, bereit ihn jederzeit wieder fallen zu lassen, und biss hinein. Es war ein Genuss! Er aß ihn dann doch viel zu schnell, wahrscheinlich war das einfach der Zeit geschuldet, in der er so schwer gehungert hatte.
Heinrich nahm sich jetzt ein Stück Früchtebrot und strich ganz dünn Butter drauf. Die Butter musste dünn sein, sonst würde man den feinen Geschmack der Früchte und der Nüsse nicht bemerken. Wieder nickte er Martin aufmunternd zu, und Martin nahm sich auch ein Stück. Er verstand nicht wirklich, warum sie hier zusammen aßen, aber die süßen Speisen waren unglaublich gut.
Nach dem Essen schoben sie die Teller auf einer Seite des Tisches zusammen und tranken einen Becher warmen, gewässerten Würzwein. Martin seufzte heimlich. Die Kälte des Winters, die ihm normalerweise bis auf die Knochen ging, wich zurück. Es wurde warm. Warm im Bauch, warm in seinen Muskeln, warm in der Seele. Er saß hier in der warmen Kammer und durfte sich ausruhen. Sein Alltag war normalerweise hart und gerade im Winter ziemlich kalt.
Nachdem der Becher geleert war, spielten sie noch ein paar Runden. Manchmal gewann Heinrich, manchmal Martin. Heinrich hatte einen schönen Nachmittag ohne die üblichen Grübeleien, ohne den Theriak, der ihm den Schlaf brachte.
Als Martin zur Stallarbeit aufbrach, fragte Heinrich: „Kommst Du morgen wieder?“
Verwundert blickte Martin auf und sah den Herrn an. „Wenn Ihr das wünscht, komme ich wieder, natürlich. Wann soll ich kommen?“ Darüber hatte Heinrich sich noch keine Gedanken gemacht, und so antwortete er: „Na, so wie heute, oder?“
Martin nickte, verbeugte sich und ging. Heinrich freute sich, dass er ab morgen Gesellschaft haben würde. Er würde Martin all die Brettspiele beibringen, die er kannte. Langeweile gab es nicht mehr.
So kam Martin am nächsten Tag, und am darauffolgenden Tag und auch die Tage danach. Heinrich brachte ihm bei, Tric Trac zu spielen, Mühle und dann die Königsdisziplin: Schach. Er war erstaunt, wie geschickt Martin sich anstellte. Martin verstand die Regeln recht schnell und schlug Heinrich bald in allen Spielen außer Schach. Schach war schwierig, man brauchte Erfahrung, und so vergingen etliche Tage, bevor Martin das erste Mal gewann. Heinrich wunderte sich. Er selbst hatte als Jüngling ein Jahr gebraucht, bevor er seinen Lehrmeister, seinen Vater, das erste Mal besiegen konnte.
Die Zeit, die Martin im Krankenzimmer verbrachte, wurde immer länger. Oft kam er zu spät zur Stallarbeit oder war furchtbar müde, weil er am Abend spät ins Bett kam, weil Heinrich unbedingt die Partie Schach noch zu Ende spielen wollte. Irgendwann teilte Heinrich dann seinem Verwalter mit, dass Martin nur noch bei ihm sein sollte.
Der Einfachheit halber übernahm Martin auch die Krankenpflege. Es war ihm aufgetragen worden, und so tat er es. Er kam morgens in Heinrichs Kammer, brachte Waschwasser mit, half ihm beim Waschen, und versorgte dann das Bein. Er machte dem Herrn zweimal am Tag Auflagen mit Beinwellsud und sorgte dafür, dass der Verband täglich gewechselt wurde und fest ansaß. Er schnitt seine Fußnägel und als er roch, wie sehr die Füße stanken, überredete den Verwalter, einen Badezuber in Heinrichs Zimmer zu bringen. Der Badezuber wurde mit heißem Wasser und Kräutersud gefüllt und Heinrich versank wohlig darin. Derweil wechselte Martin schweigend die Bettwäsche und wusch dem Herrn dann die Haare und den Rücken. Er lüftete regelmäßig und nahm heimlich den Theriak mit raus. Theriak hatte bei Heinrichs Vater zu Wahnvorstellungen geführt, und es wäre schlimm, wenn sein Sohn auch damit anfangen würde. Heinrichs Vater war ein übler Mensch gewesen, grob, rachsüchtig, gewalttätig, und anscheinend hatte er sich nie Gedanken über sein Verhalten gemacht. Martin wusste nicht, ob der alte Herr immer schon so gewesen oder nur durch den Theriak so geworden war, aber anscheinend war sein Sohn doch ein bisschen anders.
Vielleicht wäre es möglich, so dachte Martin, hier ein Leben ohne Leid und Angst zu führen. Momentan sah es danach aus, allerdings fragte er sich oft, wie es werden würde, wenn Heinrich wieder völlig gesund war. Aber der Theriak half ihm bestimmt nicht dabei, ein besserer Mensch zu werden, also nahm Martin ihn heimlich weg. Falls Heinrich ihn ansprechen würde, könnte er behaupten, dass es ein Versehen gewesen war.
Doch Heinrich fragte nicht nach dem Theriak. Ihm ging es gut. Durch Martins Pflege heilte sein Bein immer besser. Die Schmerzen verschwanden fast völlig und durch die Brettspiele verging die Langeweile. Er hätte es nie geglaubt, aber mittlerweile war er wirklich froh um Martins Anwesenheit. Nur eins störte ihn: Martin sprach nicht, jedenfalls nicht unaufgefordert. Martin versorgte ihn wirklich gut, er pflegte ihn und spielte jedes Brettspiel, auf das Heinrich gerade Lust hatte, aber eine Unterhaltung mit ihm schien nicht möglich zu sein.
Am Anfang hatte Heinrich das nicht weiter bekümmert, aber nachdem Martin irgendwann von früh bis spät in seiner Kammer war, wäre eine Unterhaltung doch ganz nett gewesen. Heinrich versuchte ab und zu, ein Gespräch in Gang zu bringen, aber Martin antwortete nur auf seine Fragen und war dann wieder still, ganz konzentriert auf das jeweilige Brettspiel oder die Krankenpflege. Heinrich überlegte, was wohl passieren würde, wenn er gar nichts mehr sagte. Würde Martin den Wink verstehen und sprechen? Er versuchte es, ganze vier Tage lang. Doch es kam nichts, nur Stille.
Martin blieb stumm, er schien immer noch Angst vor ihm zu haben. Vielleicht, so überlegte Heinrich, sollte er ihm sagen, warum er jetzt so freundlich war. Aber er zögerte es immer wieder hinaus. Gefühlsduselei, und noch schlimmer: Gefühlsduselei verbunden mit dem Eingestehen von Schuld, das war doch ziemlich schwer.
Das Schweigen wurde ihm schon sehr arg und schwer zu ertragen, zumal er mittlerweile alle seine Mahlzeiten