Der Seele tiefer Grund. Beate Berghoff
Kopf gesenkt, und doch schweiften seine Blicke geübt umher. Sie blieben an dem langen Strick an Heinrichs Fußgelenk hängen. Neugierig hob er den Kopf leicht und musterte das verbundene Bein und den Strick daran. Heinrich sah ihm kurz zu und meinte dann: „Ich soll mit den Stricken üben. Damit ich das Bein wieder gut nutzen kann.“ Martin nickte. Das war eine gute Idee.
Heinrich war froh, dass er etwas gefunden hatte, worüber sie ohne peinliches Schweigen sprechen konnten. Er erklärte die Übungen, die Bruder Humbert ihm gezeigt hatte und führte sie vor.
Martin wurde etwas ruhiger. Anscheinend hatte der Herr Heinrich heute nicht vor, ihm irgendetwas anzutun. Er schwieg einfach, hörte zu und beobachtete. So wie er es immer tat. Heinrich war irritiert. Warum sagte Martin nichts, das hätte alles leichter gemacht. Er versuchte es erneut: „Der Arzt hat gesagt, es war gut, dass Du es gleich eingerenkt hast. Später wäre es viel schmerzhafter geworden, oder das Bein wäre schief geblieben.“ Martin knetete nervös seine Hände. Er wusste nicht, ob der Herr Heinrich eine Antwort erwartete oder nicht. Sollte er reden, oder lieber schweigen? Besser schweigen, da konnte man nichts falsch machen. Martin hatte die letzten Tage genug zu essen bekommen, weniger gearbeitet und war das Halseisen losgeworden, er wollte das alles nicht mit unbedachten Worten in Gefahr bringen.
Heinrich war ratlos. Er wollte freundlich sein zu Martin, doch irgendwie ging der gar nicht darauf ein. Heinrich hatte sich vorgenommen, gütiger zu seinen Dienstboten und den leibeigenen Bauern zu sein. Da er jetzt viel Zeit hatte, malte er sich oft aus, wie sie dankbar sein würden. Sie würden ihm die Hand küssen, Gottes Segen auf ihn herabrufen, ihn hochleben lassen. So stellte er sich das oft vor. Natürlich würde Gott sehen, wie gütig und großartig er war und es ihm anrechnen. In der Vorstellung war das alles wunderbar. Wunderbar einfach, wunderbar schnell, so würde er seine Schuld loswerden und ein neues Leben beginnen. Aber irgendwie verhielt Martin sich ganz anders, als Heinrich gedacht hatte. Er sollte sich einfach über die bessere Behandlung freuen und sich normal verhalten und keine Schwierigkeiten machen.
Doch Martin stand immer noch mit gesenktem Kopf da. Heinrich seufzte. Am liebsten hätte er ihn einfach rausgeworfen, doch das ging nicht nach allem, was passiert war.
Da Martin nicht sprach, schaute Heinrich im Raum umher, und sein Blick blieb am Würfelbecher auf dem Tisch hängen. Manchmal blieb der Verwalter etwas bei ihm und sie spielten zusammen Schach oder andere Brettspiele wie Alquerque, und natürlich würfelten sie. Leider hatte Ulrich als Verwalter selten Zeit übrig und überließ Heinrich immer viel zu schnell wieder der Langeweile. Heinrich hatte eine Idee: „Schau mich an!“
Martin hob den Kopf und tat, was ihm gesagt worden war. Sein Gesicht glich einer Maske aus Stein, nichts verriet, wie er sich fühlte. Heinrich fragte: „Kannst Du Alquerque spielen?“ Martins Augen wurden groß. Er schüttelte den Kopf und meinte: „Nein, Herr.“
„Ich werde es Dir beibringen.“
Und das tat Heinrich dann auch. Zu Martins großer Verwunderung hieß er ihn den Tisch und einen Stuhl ans Bett schieben und sich hinsetzen. Zuerst würfelten sie, und als Martin einigermaßen entspannt schien, trug Heinrich ihm auf, das Brett und die Steine für das Alquerque- Spiel aus der Truhe zu holen. Er erklärte es und sie spielten. Heinrich versuchte, ruhig die Regeln zu erklären, und Martin begriff schnell. Erstaunlich schnell.
Martins Leben war sehr hart gewesen die letzten zehn Jahre. Es war ihm alles genommen worden außer seine Gedanken. Martin hatte früher gerne nachgedacht. Er konnte mit einem Blick Situationen und Zusammenhänge erfassen. Die letzten Jahre war diese Gabe nach und nach verloren gegangen, weil Denken schwer ist, wenn man langsam verhungert und ständig in Angst lebt. Die letzten Tage hatte er genug zu essen bekommen, und niemand hatte ihn schlecht behandelt. Der Nebel in seinem Kopf lichtete sich langsam und Martin konnte wieder klar denken.
Martin war immer schon sehr wissbegierig gewesen und hatte sich über alles Mögliche Gedanken gemacht. Sein Vater war der Müller im Ort gewesen und hatte ihm viel erklärt, z.B. über die Funktionsweise einer Mühle, über den Lauf des Mühlbaches, über Zusammenhänge von Wasser und Hochwasser. Er hatte den Sohn mitgenommen, wenn er Reparaturen zu tun hatte und so hatte Martin gelernt, logisch und ruhig an eine Sache heranzugehen. Denken vor Handeln, das hatte ihm der Vater immer wieder eingeschärft. Denken vor Handeln konnte vor Unfällen und Tod bewahren.
Martins Mutter war die Heilerin des Dorfes gewesen. Das war nicht verwunderlich, denn seit jeder betrachteten die Leute Mühlen als magische und übernatürliche Orte, vermutlich weil sie etwas außerhalb des Dorfes, nahe am Wald lag. Der Müller, der oft nachts arbeitete, wurde argwöhnisch beäugt. Martins Vater hatte oft darüber gelacht, weil er schlicht und einfach vom Lauf des Wassers abhängig war, und manchmal machte es einfach mehr Sinn, eine Mühle nachts laufen zu lassen. Aber die Leute hatten ihren Aberglauben, und auch wenn es niemand zugeben mochte: Kräuter von einer Müllerin hatten noch mehr Heilkraft, weil ihnen etwas Mystisches anhing.
Viele Leute übten klammheimlich noch ihre heidnischen Bräuche aus, und Pflanzen, die zur richtigen Zeit mit den richtigen Gebeten ausgegraben oder abgeschnitten wurden, wirkten einfach besser. Außerdem konnte die Müllerin Knochen einrichten, Blutungen stillen, Zähne reißen und bei schwangeren Frauen spüren, wie das Kind im Bauch lag.
Martin war immer mitgegangen auf ihre Besuche bei den Leuten und hatte ihr geholfen. Er hatte Wissen aufgesaugt wie ein Schwamm. Gerne wäre er ein gelehrter Mönch geworden. Er hätte Lesen und Schreiben gelernt, vielleicht sogar Latein. Er hätte über andere Länder gelesen und über andere Ansichten. Aber der Weg als Mönch in einem Kloster stand ihm nicht offen als leibeigener Müllersohn. Auch wenn der Grundherr zugestimmt hätte: genommen hätte ihn nur ein armes Bettelkloster, und dann wäre er vor lauter Arbeit und dem Einsammeln von Almosen auch nicht zum Studieren gekommen. Eventuell hätte er Laienbruder werden können, aber die wurden eigentlich auch nur für die ganze körperliche Arbeit in den Klöstern ausgenutzt. Nein, Martin war nicht zu einem Leben als Mönch bestimmt gewesen. Vielleicht wäre er Heiler geworden, wie die Mutter, oder auch Müller, wenn nicht damals seine Familie und sein Leben so jäh zerstört worden wären.
Er war jetzt nur ein einfacher Stallknecht, Studieren und Lernen waren so weit weg wie der Mond. Und doch, seine Gedanken konnte ihm niemand verbieten.
Martin hatte mit wenigen Blicken die Situation erfasst. Er hatte den alten Verband an Heinrichs Bein gesehen, der viel zu locker war. Die eingewachsenen Zehennägel an seinem Fuß, die sicher Schmerzen bereiteten und, wenn er Pech hatte, zu einer Entzündung bis hin zur Blutvergiftung führen konnte. Er hatte die Schwellung in Heinrichs Füßen gesehen, und sie darauf zurückgeführt, dass der Herr zu viel im Bett lag. Er hatte den verbrauchten Geruch in der Kammer gerochen und auch den seltsamen Trank am Bett. Der Trank war vermutlich Theriak, ein Gebräu aus Honig, verschiedenen Kräutern und viel Mohnsaft. Martins Erfahrung nach machte der Trank nur müde und nicht gesund. Heinrichs Vater, der alte Gutsherr, hatte den Theriak jeden Tag getrunken, er konnte nicht ohne den Trank. Martin vermutete, dass er deswegen immer wieder Wahnvorstellungen, Ängste, Kopfschmerzen und Verstopfung gehabt hatte. Er wusste nicht so recht, warum, aber der Theriak, der vom Arzt aus dem Kloster so reichlich verabreicht wurde, tat nicht gut.
Doch jetzt war Heinrich klar, und er war gut gelaunt. Martin lernte schnell, vielleicht hatte er ja jetzt jemanden gefunden, der ihm die Langeweile vertreiben konnte. Heinrich würde zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: er konnte pflichtschuldig Zeit mit dem neu entdeckten, ungeliebten Halbbruder verbringen, und zusätzlich keine Langeweile mehr haben.
Sie spielten also Alquerque, und Martin lernte schnell. Sie spielten immer wieder und Heinrich bemerkte nach einiger Zeit, dass Martin begann, absichtlich zu verlieren. Martin spielte gut, war aber noch nicht geschickt genug, um sein absichtliches Verlieren zu vertuschen. Heinrich sah sich das einige Zeit an, sogar den ganzen Nachmittag lang.
Dann, irgendwann, reichte es ihm. Er seufzte laut und fragte: „Warum verlierst Du absichtlich, meinst Du, ich sehe das nicht?“ Seine Worte taten ihm recht schnell wieder leid, weil Martin sich verkrampfte und ganz offensichtlich Angst hatte.
Heinrich atmete tief durch. Er startete einen neuen Versuch: „Weißt Du, ich liege hier den ganzen Tag im Bett. Für mich ist es schön, wenn jemand mit mir