Der Seele tiefer Grund. Beate Berghoff
Morgen. Heinrich hievte sich hoch, zog sich notdürftig an und humpelte los. Er verließ seine Kammer und wollte hinaus, an der Treppe kam er jedoch nicht weiter. Ratlos setzte er sich auf eine Truhe und fluchte leise vor sich hin. Dann hatte er eine Idee. Mühsam setzte er sich auf die oberste Treppenstufe und glitt langsam mit seinem Hintern Stufe für Stufe hinunter. Sein Bein tat weh, aber das kümmerte Heinrich nicht. Als er endlich unten war, zog er sich mühsam hoch und hinkte Richtung Tür.
Er kam nach draußen, sog gierig die frische, kalte Luft ein. Dann stapfte er weiter. Der Weg bis zur Kapelle war gut ausgetreten, er hatte keine großen Probleme mit dem Schnee. Auf dem Friedhof allerdings lag Schnee, und Heinrich musste gut aufpassen. Er gelangte fast bis zum Grab seines Vaters, dann bemerkte er, dass er nicht mehr stehen konnte. Hinsetzen ging auch nicht, er wäre nicht mehr hochgekommen. Frustriert begann Heinrich, laut zu rufen, und es dauerte nicht lange, bis er gehört wurde. Ein paar Knechte trugen ihn wieder ins Haus, zurück in sein Bett. Heinrich war froh drum, sein Ausflug hatte ihn restlos erschöpft. Er lag im Bett und starrte die Decke an, in seiner Seele tobte ein erbitterter Kampf. Es war unglaublich schwer, sich einzugestehen, dass der eigene Vater ein übler Drecksack gewesen war. Er dachte an das 4. Gebot „Du sollst Vater und Mutter ehren.“ Was, wenn man seinen Vater nicht ehren konnte? In Heinrichs Kopf drehte sich alles und kam immer wieder zum Anfang zurück.
Nach und nach kam das volle Ausmaß dessen bei ihm an, was sein Vater getan hatte. Er hatte die Mutter gequält und getötet, und Heinrichs Kindheit traurig gemacht.
Und Martins Leben zerstört. 1000 heiße Messer stachen in Heinrichs Herz und Seele. Sein Vater hatte tatsächlich einem unschuldigen und unwissendem Kind die Eltern geraubt, um sich an ihm zu rächen. Warum nur? Warum? Diese Frage hatte er eigentlich am Grab seines Vaters herausschreien wollen, aber es war ihm ja nicht gelungen, dort hinzukommen. Heinrich hatte seinen Vater immer respektiert, sogar gefürchtet. Niemals, auch nicht später in der Zeit, in der der Vater immer mehr seinem Wahn verfiel, hatte Heinrich es gewagt, ihn zu kritisieren oder auch nur schlecht über ihn zu denken. Das war etwas, was man nicht tat. „Du sollst Vater und Mutter ehren.“ Ein göttliches Gebot.
Seine Erziehung durch die Eltern, die Lehrherren, die Priester hatte eine große Mauer vor jegliche Kritik an den Eltern gestellt. Sein Vater war der „Herr Vater“ gewesen, und er hatte immer Recht gehabt. Grundsätzlich immer. Manchmal hatte Heinrich sich selbst gegenüber verstohlen zugegeben, dass er froh war, als er zur Ritterausbildung wegdurfte. Offen ausgesprochen hätte er das niemals.
Nun bröckelte diese große, unüberwindbare Mauer zur Kritik am Vater. Der Schmerz und das Chaos in Heinrichs Herz waren kaum auszuhalten. Sein Vater war ein Mörder, ein Lügner und ein Schuft gewesen. Es kostete Heinrich unglaublich viel Kraft und Überwindung, sich das einzugestehen.
Er bekam Angst. Wenn diese Mauer bröckelte, was würde er wohl noch alles dahinter finden?
Die Magd kam wieder und brachte das Mittagsessen. Sie stutzte, als sie sah, dass der Herr auch das Frühstück nicht angerührt hatte, genauso wie das Abendessen gestern. Ihr stand es nicht zu, ihm das Essen zu befehlen, also ging sie zum Verwalter und berichtete ihm.
Ulrich kam kurze Zeit später. Er setzte sich zu Heinrich ans Bett und betrachtete ihn mitfühlend. Dann meinte er: „Ihr müsst etwas essen, Heinrich. Es nützt niemandem, wenn Ihr Euch kasteit.“
Heinrich starrte nur geradeaus. Irgendwann sagte er: „Es ist so viel Unrecht geschehen hier.“
Ulrich nickte nur. Der nächste Satz fiel Heinrich schwer: „Und ich habe mitgemacht.“
Wieder nickte Ulrich.
„Warum habt Ihr mir nie was gesagt?“
Diese Frage hatte Heinrich auf der Zunge gebrannt.
Sein Verwalter verzog keine Miene als er antwortete: „Ich dachte, Ihr wisst es.“
Heinrich schüttelte den Kopf. Dann fragte er verzagt: „Und jetzt? Sowas kann man doch nie im Leben wiedergutmachen?“
„Ihr könntet es versuchen. Es ist nie zu spät.“
Heinrich war mutlos. So etwas Furchtbares konnte man nicht wiedergutmachen. Wo sollte er anfangen? Zumal er ja selbst im großen Hass auf diesen Jungen aufgewachsen war. Er musste seinen eigenen Unwillen überwinden und zusätzlich die Schuld seiner Familie tilgen. Am liebsten hätte er sich irgendwo verkrochen.
Dann hatte er die rettende Idee: „Ich gebe ihn frei, sagt ihm das. Er ist frei und kann gehen, wohin er will.“
Ja, das war eine wunderbare Idee, Heinrich war stolz auf sich. Er würde Martin freigeben und ihm noch Reisegeld schenken, und dann würde der neugewonnene Halbbruder einfach verschwinden. Er wäre sicher glücklich drüber und Heinrich wäre ihn und die Schuld einfach los.
Aber Ulrich machte ihm einen Strich durch die Rechnung. „Es ist Januar und eiskalt. Wo soll er denn hin? Wo soll er mitten im Winter in Dienst treten? Außerdem ist er halbverhungert, so findet er nirgends eine Arbeit. Ihr müsst ihn mindestens bis Mai hierbehalten. Ihr könnt ihn nicht einfach wegschicken und ihm der Kälte und dem Hunger preisgeben.“
Heinrichs Mut sank wieder, Ulrich hatte Recht. Er konnte Martin frühestens Ende April rauswerfen, alles andere wäre sein Todesurteil. Ende April oder Anfang Mai, das waren noch fast vier Monate. Heinrich seufzte. Er würde Martin gut füttern und ihn dann mit einem gefüllten Geldbeutel wegschicken, und ihm bis Mai aus dem Weg gehen. Und wenn er ihm begegnete, würde er einfach freundlich zu ihm sein.
Der Verwalter dachte bei sich, dass es vermutlich wirklich das Beste sein würde, Martin gehen zu lassen. Allerdings mussten sie ihn vorher noch aufpäppeln und alles tun, damit ihn potenzielle Arbeitgeber nicht gleich wieder wegschickten oder, schlimmer noch, zurückbrachten. Ulrich blieb also sehr hartnäckig mit seinen Forderungen: „Was ist mit dem Halseisen, Heinrich? Soll er damit im Mai Rabenegg verlassen? Auf dem Eisen ist Euer Wappen drauf, die Leute werden ihn Euch immer wieder zurückbringen.“
Heinrich schluckte schwer. Das war das Letzte, was er wollte. Er gab nach: „Gut, dann lasst es ihm abnehmen. Ihr gebt ja eh keine Ruhe.“
Ulrich lächelte schwach, deutete eine Verbeugung an und ging.
Heinrich lehnte sich erschöpft zurück. Irgendwie wurde alles immer komplizierter. Er wollte einfach sein altes Leben zurück, aber er hatte die ungute Ahnung, dass das wohl nicht möglich sein würde. Zuviel war passiert. Zuviel hatte er erfahren, was sein Weltbild und seine Selbstgefälligkeit erschüttert hatte. Zuviel musste er nun durchdenken und wohl auch einfach hinnehmen. Sein Vater war ein Mörder, ein Lügner und ein Schuft gewesen. Heinrich fand keine Ruhe. Was, wenn alles, was sein Vater ihm beigebracht und gesagt hatte, auch nur Unwahrheit und dummes Zeug war?
Der Vater hatte ihm gesagt, dass ein echter Kerl nicht Streichpsalter spielte und sang. Warum eigentlich nicht? Der Vater hatte ihm auch gesagt, dass der Tod im Kampf ein erstrebenswerter Tod war. Warum war er selbst dann nicht im Kampf gestorben, sondern Zuhause am Wundbrand? Und sein Bruder Markwart, Heinrichs Onkel, war im Suff die Treppe hinuntergestürzt und hatte sich das Genick gebrochen. Wie heldenmütig.
Der Vater hatte ihm gesagt, dass Dienstboten faul und verlogen war und man hart mit ihnen umgehen musste. Was, wenn das auch nicht so war? Ja, was dann?
In Heinrichs Brust zog es. Was, wenn er selbst auch nur ein verlogener Drecksack war, und ein Mörder? Schließlich hatte er im Krieg genug Leute getötet. Aber das war ja Krieg, aus irgendeinem Grund schien das Töten im Krieg für die Kirche annehmbar, ja sogar gewünscht zu sein.
Sein Gehirn arbeitete pausenlos. Bruder Gernot, der frühere Pfaffe, der vor über vier Jahren an einem Blutsturz aus dem Schlund gestorben war, hatte ihm vom „Gerechten Krieg“ erzählt. Den gerechten Krieg hatte wohl vor vielen Jahren irgendein christlicher Denker erfunden, wie so viel anderen Unfug auch. Heinrich hatte noch nie einen gerechten Krieg gesehen. Es ging immer nur um Geld, um Macht und um Besitz. Gernot hatte ihm einreden wollen, dass die Kämpfe der Kreuzzüge, die bereits seit fast 200 Jahre andauerten, gerecht wären. „Deus lo vult“, Gott würde es angeblich wollen. Aber Heinrich hatte immer abgeblockt. Er hatte genug Männer