Der Seele tiefer Grund. Beate Berghoff

Der Seele tiefer Grund - Beate Berghoff


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Blut in den Adern erfrieren. Die sogenannten Christen hatten übel gewütet im Heiligen Land. Sie hatten gemordet, geschändet und sollen sogar Heidenkinder am Spieß gebraten und gegessen haben.

      Heinrich war nie ein hochgläubiger Mann gewesen, aber sogar ihm war klar, dass solche Grausamkeiten nicht von Gott gewollt sein konnten. Der Papst hatte Ablässe gewährt, damit die Leute ins Heilige Land zum Kämpfen gingen, aber Heinrich hatte sich nicht einfangen lassen. Den Erzählungen nach war das Heilige Land furchtbar weit weg, man war Jahre unterwegs und musste schlimme Entbehrungen hinnehmen, um dann dort blindwütig Leute abzuschlachten.

      Man hatte ihm erzählt, dass es sogar mal einen Kreuzzug gegen andere Christen in Frankreich gegeben hatte. Einen Kreuzzug gegen die Heiden im Heiligen Land konnte man vielleicht sogar noch hinnehmen. Aber einen Kreuzzug gegen Christen in seinem geliebten Frankreich, das ging für Heinrich gar nicht. Die meisten Kämpfer hatten sich wohl keine Gedanken gemacht und hatten geglaubt, was der Papst ihnen gesagt hatte, aber Heinrich hatte sich immer seiner Zweifel bewahrt. Seine Mutter hatte ihm vor vielen Jahren die 10 Gebote beigebracht, und das 5. Gebot war: „Du sollst nicht töten.“ Und trotzdem taten es alle. Es wurde getötet in Kriegen, in Streitereien, in der Gerichtsbarkeit.

      Heinrich kam einfach zu keinem Ergebnis. Niemand, auch er nicht, nahm die Gebote ernst. Aber er wollte doch ein besserer Mensch werden? Und er wollte so gerne in den Himmel kommen, was sollte er nur tun? Heinrich fühlte sich so unglaublich einsam und verloren. Mit wem sollte er über diese Dinge sprechen? Er selbst hatte getötet, und zwar nicht nur einmal. Er hatte gelogen, gestohlen und etliche Male auch gegen das 9. Gebot verstoßen und das Weib seines Nächsten begehrt und einfach genommen (auch wenn das Weib gar nicht wollte). Wenn Heinrich drüber nachdachte, so hatte er eigentlich gegen fast alle Gebote verstoßen. Gerade mal zwei Gebote, die er eingehalten hatte, fielen ihm ein, das erste und das vierte. Er hatte keine anderen Götter neben Gott, und er hatte Vater und Mutter geehrt. Bis vor Kurzem.

      Er vergrub das Gesicht in den Händen. Den Vater konnte er nun auch nicht mehr ehren. Was blieb noch übrig? Heinrich seufzte. Er hatte einfach zu viel Zeit zum Denken. Er musste unbedingt aus diesem Bett herauskommen. Wieder Reiten gehen, tätig werden, Besuche machen und sich endlich um sein Gut kümmern.

      Mühsam schob er sich hoch und angelte nach seinem Stock. Der Stock fiel um und Heinrich kam nicht dran. Er war so frustriert. Nichts ging so, wie er das wollte.

      Hilflos blieb er im Bett liegen, er musste wohl warten, bis die Magd kam und ihm den Stock aufhob. Nachdenklich sah Heinrich sein Mittagessen an. Es gab Pasteten, die mit Pilzen und Kalbfleisch gefüllt waren. Er seufzte. Sicherlich aß sein Gesinde das nicht, für die Leute gab es wohl Suppe.

      Heinrich nahm eine der Pasteten und biss hinein. Er spürte seinen Hunger im Bauch, aber der Appetit wollte trotzdem nicht kommen. Was er da gestern erfahren hatte, verschloss ihm den Magen. Aber der Verwalter hatte Recht. Es würde niemandem nutzen, wenn er sich kasteite. Heinrich aß sein Mittagessen auf und sank dann erschöpft in sein Bett zurück. Zum Aufstehen war er jetzt zu müde.

      Noch nie in seinem Leben war Heinrich so ungeschützt und lange seinen Gedanken und seinem Gewissen ausgesetzt gewesen. Immer hatte es irgendeine Art von Ablenkung gegeben. Es waren immer Leute dagewesen und wenn das nicht half, viel Wein. Heinrich hatte es auch mit Brandwein versucht, was aber eigentlich nur immer Kopfschmerzen und ein schales Gefühl zur Folge hatte. Heinrich schloss die Augen und seine Gedanken überfielen ihn wieder. Die Grübeleien drehten sich im Kreis und fanden einfach kein Ende, keinen Ausweg. Immer wieder kam er an der Tatsache an, dass sein Vater, sein Onkel und er selbst alles falsch gemacht hatten, was nur ging. Wollte er so weiterleben? Er konnte einfach warten, bis das Bein wieder heil war und dann so weitermachen wie vorher auch. Aber wollte er das?

      Die Antwort war klar. Nein, das wollte er nicht, er würde sonst in die Hölle kommen.

      Irgendwas musste anders werden, aber was nur?

      Heinrich war ein lausiger Gutsherr. Er hatte keine Geduld für den ganzen Verwaltungskram, das Planen, das Rechnen. Ihm graute immer, wenn er Gericht sitzen und sich das Gejammere und die Beschwerden der Leute anhören musste. Ulrichs Arbeit war nichts für ihn. Aber immer nur Jagen gehen und Besuche machen wollte er auch nicht mehr. Heinrich bemerkte plötzlich, dass er etwas Nützliches tun wollte. Etwas, das Sinn machte. Etwas, dass er konnte und gerne tat.

      Langsam formte sich in seinem Kopf eine Idee. Es war nur eine vage Idee, eigentlich mehr eine Träumerei, aber Heinrich hatte viel Zeit, und der Traum bekam Farbe und Form. Vielleicht konnte er den Traum tatsächlich umsetzen? Doch erst musste er wieder ganz gesund werden.

       Kapitel 4: Das „Opfer“: Martin

      Er grübelte einige Tage darüber nach, wie es jetzt weitergehen würde, dann schickte er nach Martin. Der kam, verbeugte sich stumm und blieb mit gesenktem Kopf vor Heinrichs Bett stehen. Heinrich musterte ihn. Er war dürr, das Hungern hatte Spuren hinterlassen.

      Er wusste nicht recht, wie er anfangen sollte. Vielleicht erst einmal mit dem Naheliegendsten? Heinrich zwang sich, freundlich zu sein: „Vielen Dank, dass Du mich gerettet hast.“

      Erstaunt blickte Martin auf, senkte den Kopf aber schnell wieder. Er sagte nichts, er war ja nichts gefragt worden. Der Mann dort im Bett war gefährlich und er wollte nichts riskieren. Heinrich war es nicht gewohnt, freundlich zu seinen Knechten zu sein. Aber jetzt wollte er freundlich sein, freundlich und auch dankbar.

      Er meinte: „Du hast mein Bein wieder eingerenkt. Der Mönch hat gemeint, Du hast das gut gemacht. Woher kannst Du das?“

      Martin schaute weiter auf den Boden, als er antwortete: „Meine Mutter war die Heilerin bei uns im Dorf. Sie hat mir und meiner Schwester viel gezeigt und uns oft mitgenommen, wenn sie die Kranken besucht hat.“

      In Heinrichs Herz zog es. Seine Pflegemutter war für ihn die Mutter gewesen. Alles hätte so gut sein können, für jeden von ihnen, wenn sein Vater nicht…

      Aber Heinrich verbot sich, daran zu denken. Er wäre Martin und damit seine Schuld einfach gerne losgewesen, aber das ging nicht. Irgendwie musste er einen Weg finden, das Unrecht gutzumachen. Heinrich stutzte. Konnte man so etwas überhaupt gutmachen? Er zwang sich zu lächeln und meinte: „Du musst ja jetzt sonntags nicht mehr arbeiten und kannst mit den Anderen essen. Geht es Dir gut? Erholst Du Dich?“

      In Gedanken fluchte Heinrich. Er redete Unfug. Aber ihm fiel nichts Gescheiteres ein.

      Ja, Heinrich redete Unfug, und Martin wunderte sich. Und doch, es waren die ersten freundlichen Worte, die er je vom Herrn Heinrich bekommen hatte. Freundliche Worte waren Mangelware in Martins Leben. Die Leute am Gut waren zwar voll Mitgefühl für ihn, niemand drangsalierte ihn, wie sie es mit Veit taten. Und trotzdem hielten sie sich von ihm fern, weil er in Ungnade stand. Niemand wollte riskieren, vom Gutsherrn beim freundlichen Umgang mit Martin gesehen zu werden.

      Niemand außer dem Verwalter. Martin verehrte diesen Mann. Ulrich setztes zwar grundsätzlich immer um, was der jeweilige Herr befahl, aber persönlich hatte er immer nur Güte und Freundlichkeit von Ulrich erfahren. Er schlief sogar in Ulrichs Schreibstube, weil er dort sicher war und es warm hatte. Im Winter wärmten sich die Leute gegenseitig, doch die Ausgestoßenen, wie Veit und er, die hatten niemanden, der sie wärmte. In Ulrichs Schreibstube war es warm, und er war sicher dort. Niemand verging sich an ihm, niemand fügte ihm Leid zu. Es waren die paar friedlichen Stunden in der Nacht, die es Martin ermöglicht hatten, zu überleben. Und so manches Mal fand er abends, wenn er sich hinlegte, Brot, Käse, Äpfel, hartgekochte Eier oder etwas anderes zu Essen an seinem Schlafplatz. Nicht am Sonntag, Ulrich hielt sich an Heinrichs Verbot, aber halt dann am Montag oder Dienstag, oder an beiden Tagen. Ohne Worte, ohne Aufhebens, hatte Ulrich dafür gesorgt, dass er nicht verhungert war. Nicht, dass es Martin etwas ausgemacht hätte, zu sterben. Oft, wenn der Wundbrand durch ihn tobte, oder wenn er nach den Schlägen von Heinrichs Racheaktionen zusammenbrach und liegenblieb, dachte er wie wunderbar es wäre, einfach zu sterben. Doch irgendetwas hielt ihn hartnäckig am Leben. Und verhungern wollte Martin auch nicht, das war ein übler Tod.

      Heinrich und Martin schwiegen beide. Heinrich wusste nicht, was er sagen sollte, und für Martin kam es


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