als die wahrheit noch männlich und katholisch war. Franziska Maria Papst
Mädchen nicht unbedingt einfach zu denen zu gehören, deren Aussehen schlichtweg negativ kommentiert wurde. Eines Tages nahm mich Michaela zur Seite und sagte mir im Vertrauen:
„Weißt du eigentlich, dass ausgestellte Hosen überhaupt nicht mehr in sind. Kennst du nicht jemanden, der sie enger nähen könnte?“ Im ersten Augenblick war ich verletzt. Wie konnte sie es wagen mich zu kritisieren? Dann aber fühlte ich so etwas wie weibliche Verbundenheit und einen Anfall von Dankbarkeit. Sie versuchte mir die Augen zu öffnen. Ich begann die anderen Mädchen in der Schule zu beobachten. Tatsächlich. Keine der Schönen trug ausgestellte Hosen. Die waren etwas für die 1970er Jahre. Jetzt, in den 1980ern, waren hautenge Jeans angesagt. Je anliegender, desto besser. Es dauerte nicht lange und ich hatte mit Hilfe meiner Schwester meine Hosen enger genäht. Meine Mutter bemerkte das und war alles andere als begeistert. Aber anstatt mir eine Ohrfeige zu geben und mich zu fragen, wie ich es wagen könne meine Kleidung zu verunstalten, war sie seltsam freundlich.
„Warum hast du denn deine Hosen umgenäht?“, fragte sie mit liebevoller Stimme. Ich war überrascht über ihr Verständnis für meine Notlage und platzte heraus, dass ich in der Schule ausgelacht werden würde, weil ich so komisch angezogen sei.
„Aber Babette“, säuselte sie, „hör doch nicht auf das, was die anderen sagen. Du hast es doch nicht nötig mit der Mode zu gehen. Mode, das ist nur was für Angepasste, für Dumme, du bist doch etwas Besonderes.“
Es funktionierte. Meine Gedanken begannen zu kreisen. Ja richtig, ich brauchte mich nicht über Kleidung definieren. Ich gehörte schließlich zu den Besseren. Schönheit war nicht so wichtig. Und in meiner Naivität dachte ich, dass ich klug und intelligent sei. Die anderen, die sich modisch anzogen, waren dumm, denn sie hatten nichts im Kopf als Kleider. Dass Mode nicht mit klug oder dumm gleichgesetzt werden konnte, sondern auch ganz andere Aspekte des Lebens beinhaltete, kam mir damals nicht in den Sinn.
Trotzdem hatte Michaela etwas in mir ausgelöst. Sie hatte eine Sehnsucht in mir erweckt. Es war eine Sehnsucht nach Ästhetik. Ich begann zu spüren, dass es Dinge gab, die mir gefielen, einfach deshalb, weil sie mir gefielen, und nicht, weil jemand sagte: die sind schön oder die sind modern.
Ich begann, mir Gedanken zur Schönheit zu machen. Das erste Mal in meinem Leben war es mir möglich Kunst aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, nämlich mit der Frage in meinem Inneren, ob i c h es schön fand.
Von da an beurteilte ich Kunst nicht mehr danach, ob dies der eine oder der andere berühmte Künstler gemacht hatte. Ich verstand, dass Schönheit im Auge des Betrachters lag. Mit Michaela verband mich von dem Moment an so etwas wie Dankbarkeit. Sie hatte mir mit einer Direktheit gezeigt, dass man Dinge auch von außen sehen kann. So fand ich den Mut, mich vor den Spiegel zu stellen und mich mit einem kritischen Blick mit mir selbst auseinanderzusetzen.
Zumindest in Sachen Mode lernte ich Entscheidungen aus mir heraus zu treffen. Eines Tages stolperte ich über eine lilafarbene Wolljacke. Ich weiß nicht, ob sie modern oder unmodern war. Tatsache war: sie gefiel mir und ich fand, die Farbe passte zu mir. Ich kaufte sie und war stolz auf meine selbst getätigte Auswahl. In den Wochen darauf wurde die Jacke nicht nur zu meinem Lieblingsstück, sondern gleichzeitig zu einem Experiment. Die Reaktionen reichten von „wunderschöne Jacke“ bis zu „ist das ein hässlicher Fetzen“.
In der banalen Modewelt lernte ich: Schönheit und Wahrheit (Richtigkeit) sind relativ und Schönheit hat schon gar nichts mit gut oder Bessersein zu tun. Es war mein Umfeld, dass gleichzeitig etwas Schönes als gut suggerierte und etwas Hässliches zu einer negativen Eigenschaft machte. (Oder etwas Gutes als schön, und etwas Schlechtes als hässlich darstellte.) Aber kann eine lila Jacke schlecht sein? Sie kann bestenfalls hässlich sein.
Ausgrenzung mit gleichzeitig moralischer Bewertung sollte etwas sein, was ich erst sehr spät reflektierte und als gefährlich wahrnahm. Damals hat es mein Unterbewusstsein geprägt. Die Polarisierung der Katholischen gegen die Evangelischen hinterließ in mir ein moralisches Gefühl des Besser-Seins. Ausgrenzung durch moralische Bewertung erzeugt ein Wir-Gefühl. Das hat immer funktioniert und es funktionierte auch bei mir.
1 Vgl.1Kön 17,8-24
2 Vgl. Lk 19,1-10
3 Vgl. Mk 10,17-27
2. LEBEN UND LEBEN LASSEN
Noch ehe ich dich im Mutterleib formte, habe ich dich ausersehen, noch ehe du aus dem Mutterschoß hervorkamst, habe ich dich geheiligt, zum Propheten für die Völker habe ich dich bestimmt. (Jer 1,5)
großtante maria
Jedes Jahr im Sommer tauchte ich in eine andere Welt. Meine Eltern schickten uns Kinder zu Großtante Maria aufs Land. Ich liebte meine Tante. Sie war unverheiratet und hatte keine eigenen Kinder. Ihr gehörte das Lebensmittelgeschäft im Ort. Dort gab es alles zu kaufen. Es war wie im Paradies. Ich liebte es dort zu sitzen und die vollen Regale zu bestaunen. Ich fühlte so etwas wie Ehrfurcht vor den Sachen. Sie hatten den Duft meiner Tante – feucht, frisch und irgendwie heilig. Nach meiner Tante zu riechen, war etwas Besonderes. Es wäre mir nie eingefallen irgendetwas davon ungefragt auch nur in die Hand zu nehmen. Ähnliches fühlte ich im Haus von Tante Maria.
Das alte Handwerkerhaus mit seinen zwei Stockwerken lag im Schatten direkt unter einem Berghang und hatte trotz seiner modrigen Feuchte etwas Heimeliges und gleichzeitig Ehrfürchtiges. Wir Kinder hatten unser eigenes Reich, direkt unter dem Dach. Es war mehr als nur ein Schlafzimmer. Es war ein eigenes Reich mit Dachbodentüren, alten Möbeln und Winkeln, in denen man sich wunderbar verstecken und über das Leben nachsinnen konnte. Es gab ein Zimmer voller Bücher und einen Fernseher. Ich sah mir im Fernsehen alles an, was ich durfte. (Das war damals noch nicht viel. Es gab ja nur zwei Programme und die nur am späten Nachmittag und am Abend).
Doch da waren die Bücher. Zwei riesengroße prallgefüllte Wandregale voll. Eine richtige Bibliothek. Von Goethes Faust bis zu Johannes Maria Simmel las ich der Reihe nach was mir unter die Finger kam und so hatte ich bald ein ziemlich umfangreiches Wissen über Literatur und Kunst. Wenn ich abends im Bett lag, machte ich Weltreisen im Kopf. Tante Marias Haus erschien mir wie ein Flugticket in die große, weite Welt.
Das Dorf meiner Tante war ein abgelegenes, architektonisch unscheinbares Dorf in den Bergen, das wenig Sonnenschein und viel Regen abbekam. Aus irgendeinem Grund gab es dort ein Luxushotel, das sich auf Kurgäste mit Atembeschwerden spezialisiert hatte. So frisch und klar und unverbraucht sei die Luft, schwärmten die Besucher. So kam es, dass dort immer wieder die schrägsten Vögel abstiegen, die dann in den Sommermonaten das bescheidene Dorf bevölkerten. Ich liebte es, um das Hotel herumzuschleichen und die verschiedensten Leute zu beobachten.
Diese fremde Welt faszinierte mich jedes Mal aufs Neue. Sie lag außerhalb meines bisherigen Erfahrungshorizontes und machte mich neugierig. Was gab es nicht alles zu entdecken! Stundenlang konnte ich auf dem kleinen Abhang sitzen, der dem Haupteingang schräg gegenüberlag. Still und ruhig saß ich im Schatten eines Busches und bemühte mich nicht aufzufallen. Wenn ich das Luxushotel auch nur von außen betrachten konnte, so inspirierten mich schon alleine die Düfte fremder Menschen, die wie Mücken eines heißen Sommertages über meinen Kopf schwirrten. Ich fragte mich, womit die Menschen ihr Geld verdienten, was sie dachten und was sie glaubten. Schon bald hatte ich zu jedem Besucher eine Geschichte erfunden. Ich glaubte zu wissen woher er kam und was er am liebsten tat.
Trotz der Ferien war die Zeit bei unserer Tante ganz normaler Alltag. Die Tagesstruktur erschien uns selbstverständlich und doch war es anders. Wir verbrachten unsere Zeit mit Spielen oder Lesen, trafen uns mit den Kindern aus dem Ort und halfen mit, wo wir konnten. Vor dem Essen wurde ein Tischgebet gesprochen und es wurde darauf geachtet, dass wir uns sauber anzogen, uns ordentlich benahmen und Danke und Bitte sagten. Es war streng. Aber es war nicht verdreht. Es war eine Welt voller Riten und nicht voller Regeln. Das, was wir zu tun hatten, machte Sinn. Ich denke, es war authentisch und nicht aufgesetzt. Tante Maria sagte und lebte was sie dachte.
Die Zeit bei Tante Maria inspirierte mich und machte mich neugierig auf etwas, das ich von daheim nicht kannte. Es war die Frage nach dem Sinn von Wissen und