Die Buchwanderer. Britta Röder

Die Buchwanderer - Britta Röder


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Freundschaft sein sollte, und um die auf einmal schwer auf ihm lastende Sprachlosigkeit zu bannen, besann er sich der gemeinsamen familiären Bande.

      Nichts wusste er über den Verbleib der weitverzweigten Familie mütterlicherseits, die er mit Magus teilte. Ihre Mütter waren Schwestern gewesen. Seine eigene Mutter, Teresa, war die jüngste von drei Mädchen, Magus’ jung verstorbene Mutter Sofia war die Mittlere und Tante Hilda, bei der Magus schließlich aufgewachsen war, die Älteste. Seine Mutter war damals gerade erst offiziell verlobt und inoffiziell schwanger gewesen, also viel zu jung, um die Bürde eines Waisenkindes aufzunehmen. Ron, der ohne Geschwister aufgewachsen war, hatte sich oft ausgemalt, wie viel beständiger seine Kindheit hätte verlaufen können, wenn er mit Magus einen großen Bruder bekommen hätte. Doch im Laufe der Jahre, in denen seine Mutter zuerst frischverheiratet mit ihrem amerikanischen Ehemann, seinem Vater, in die Staaten und anschließend quer durch den Rest der Welt gezogen war, rückte diese Vorstellung immer mehr in Vergessenheit.

      „Sag mal, wie geht es eigentlich der alten Großtante Agathe, auf deren Geburtstag wir uns das letzte Mal getroffen haben?“ Agathe war die kaum jüngere Schwester der gemeinsamen Großmutter.

      Magus hob mit Kennermiene sein Glas Pinot Grigio gegen das Licht und atmete verliebt das blumig duftende Bukett ein.

      „Sie verstarb vor etwa fünf Jahren“, bemerkte er ruhig und ließ sich einen Schluck auf der Zunge zergehen.

      Ron, der das Gefühl hatte, die Familiengeschichte an der falschen Stelle aufgerollt zu haben, beeilte sich, an weniger verfänglicher Stelle einzuhaken.

      „Und Tante Guste? Ich erinnere mich, dass sie ein kleines Sümmchen im Lotto gewonnen hatte und auf Weltreise gehen wollte.“

      „Gestorben bei einem Verkehrsunfall.“ Seelenruhig degustierte Magus weiter seinen Wein. „Sie geriet unter einen Bus.“

      „Wie entsetzlich. Vor allem für ihren Mann.“

      „Keineswegs. Er starb kurz zuvor an einem Herzinfarkt. Könntest du mir bitte das Brot reichen?“, bat Magus ungerührt.

      Ron wusste nicht, worüber er schockierter sein sollte. Über das tragische Ausmaß an Todesfällen in seiner Familie oder über die unbeteiligte Kaltblütigkeit seines Cousins.

      „Was ist aus den beiden Söhnen von Guste geworden, die nach Berlin gegangen sind, um zu studieren?“ Ron wagte eine letzte verzweifelte Anstrengung auf der Suche nach Überlebenden.

      „Meinst du die zwei Lausebengel in unserem Alter, die wir heimlich Max und Moritz nannten?“ Magus schnalzte lachend mit der Zunge, da ein Kellner nun gerade ihre Vorspeise, eine extragroße Portion Austern, servierte. „Mmh, ich liebe Austern sehr. Habe ich dir das schon erzählt?“

      „Nein“, unterbrach ihn Ron ungeduldig. „Und?“

      Magus schlürfte genießerisch mit geschlossenen Augen.

      „Ah, köstlich, sage ich dir.“

      „Was wurde aus ihnen?“, fragte Ron nervös.

      „Ach so.“ Mit wahrer Mordlust zerquetschte Magus eine Zitrone über seiner Meeresfrucht. „Tot. Alle beide.“ So langsam geriet er richtig in Fahrt. „Stefan, der Ältere, ist beim Eislaufen auf einem See ins Eis eingebrochen und ertrunken.“

      „Und Dieter, der Jüngere der beiden?“, wollte Ron mit wachsendem Misstrauen wissen.

      „Opfer eines Raubüberfalls.“ Abgebrüht setzte Magus sein blutiges Gemetzel fort.

      „Was ist mit Tante Annemarie?“

      „Flugzeugabsturz.“

      „Onkel Wilhelm?“

      „Vom Blitz erschlagen.“

      „Cousin Jörg?“

      „Ein tödlicher Schlangenbiss.“

      „Magus“, unterbrach Ron den Amoklauf seines Cousins, „es gibt keinen Onkel Wilhelm und keinen Cousin Jörg.“

      „Stimmt.“

      Erleichtert konnte Ron auflachen.

      „Bist du immer so morbide?“

      „Nur wenn ich Austern esse.“

      „Gut, ich werde versuchen, es mir zu merken und beim nächsten Austernessen das Gespräch auf Leute lenken, deren Ableben mir weniger am Herzen liegt.“

      „Das wäre eine große Verantwortung, die du da auf deine Schultern laden willst“, gab Magus ernst zu bedenken und schenkte ihm brüderlich nach.

      Unbeschwert setzten sie ihr Mahl fort. Der Kellner kam erneut und überließ ihnen die Weinkarte, damit sie den richtigen Begleiter für den nächsten Gang auswählen konnten.

      „Ohne unter Mordverdacht zu geraten, aber was ist nun wirklich aus ihnen geworden?“, fragte Ron, als ihnen die Goldbrasse serviert wurde, und sie immer noch diskutierten, ob es besser sei für den nächsten Gang, das Lamm, beim Pinot zu bleiben oder zu Magus’ Lieblingswein, den Montepulciano, zu wechseln.

      „Tante Agathe wird dieses Jahr 92 und als ich sie das letzte Mal vor einer guten Woche sah, drohte sie mir wie immer mit Enterbung, wenn ich nicht bald solide werde und mit Ehefrau und Kindern aufwarte. Da sie im gleichen Maße starrköpfig wie verarmt ist, gelingt es mir, ihre Drohungen ungerührt entgegenzunehmen, obwohl ich weder Ehefrau noch legitime Kinder vorzuweisen habe. Ansonsten ist sie mir mit ihrem sarkastischen, wenig rücksichtsvollen Humor die am wenigsten langweilige Verwandte. Wir sollten ein Glas Montepulciano auf ihr Wohl trinken, finde ich.“

      Dies wurde heiterer Auftakt eines ausführlichen Austausches von Familienanekdoten. Das gemeinsame Lachen über die gleichen Geschichten erwärmte wohltuend Magus’ Herz. Beim Digestif – der Kellner hatte ihnen mit den Worten „Geht aufs Haus“ einen großzügig eingeschenkten Grappa serviert – wurde Ron seltsam still. Ernst starrte er in sein Glas.

      „Weißt du, eigentlich war ich nie wirklich in dieser Familie zu Hause. Meine Eltern sind ständig um die Welt gezogen, mit mir im Schlepptau. Ich hatte nie die Gelegenheit die Verwandtschaft mehr als vom Hörensagen kennenzulernen. Diese Personen sind für mich im Grunde nur blasse Kindheitserinnerungen und überzeichnete Geschichten, die mir meine Mutter erzählt hat.“

      Magus verstand sofort, was sein Cousin meinte. Obwohl er inmitten einer großen Familie aufgewachsen war, hatte auch er sich den anderen nie wirklich zugehörig gefühlt. Er war ebenso ein Fremdkörper wie Ron. Melancholisch beschwert durch das üppige Mahl, den reichhaltigen Genuss von Wein und die wärmende Nähe eines Seelenverwandten, spürte Magus auf einmal die Einsamkeit seines ganzen bisherigen Lebens in sich aufwallen. Seine Sehnsucht nach Nähe wuchs ins Unermessliche. Versunken in sich selbst nickte er.

      „Ja, und auch wenn man regelmäßig Kontakt zu ihnen hat, dann bleibt da trotzdem noch immer diese Distanz. Ihr Leben bleibt dir fremd. Sie könnten ebenso gut Fiktionen sein. Fiktionen wie die Figuren aus deinem Buch – und dann stünden sie dir vielleicht sogar näher.“

      „Moment mal“, unterbrach ihn Ron leicht aufgebracht. „Worauf spielst du an? Das war keine Fiktion. Ich habe diese Frau gesehen. Ich bin ihr gefolgt. Sie war für mich genauso real, wie ich es jetzt hier für dich bin.“

      Lustvoll sog Magus den blumigen Duft des Grappas ein, nippte selbstvergessen an seinem Glas und ließ sich abrundend als Antwort auf die gelungene Komposition des bisher Erzählten den wohllautenden Klang Shakespearescher Worte auf der Zunge zergehen.

      „Verliebte und Verrückte sind beide von so berauschendem Gehirn, so bildungsreicher Phantasie, die wahrnimmt, was nie die kühlere Vernunft begreift.“ Hoch befriedigt lehnte er sich zurück und wandte seine Aufmerksamkeit wieder Ron zu.

      „Also gut, mein Junge, dann kommen wir jetzt mal zum eigentlichen Punkt unseres Treffens: Wie bekommen wir dich zum Happy End der Geschichte? Wie sollen wir deine Traumfrau finden?“

      „Wir? Also glaubst du mir und willst mir helfen?“

      „Verliebt


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