Die Buchwanderer. Britta Röder
aus der Küche ins Wohnzimmer, stellte sie vor sich auf den niedrigen Couchtisch und nahm im Schneidersitz auf dem breiten Polster Platz. Seufzend ergriff sie ihr Buch um zu lesen.
Mochte ihr eigenes Leben auch noch so banal und unbedeutend sein, wenn sie lesend in die Tiefen fremder Geschichten eintauchte, dann gelang es ihr, dies zeitweise zu vergessen. Völlig risikolos, wie sie fand, erlebte sie fremde Welten, die ihre eigene Realität niemals berührten. Denn anders als in ihrer Realität war in ihnen von Anfang bis zum Ende der Rahmen stets klar abgesteckt. Jedem Protagonisten war seine feste Rolle zugeschrieben, die er niemals verließ. Niemals fanden diese Figuren einen Weg zu ihr nach draußen. In der Sekunde, in der sie nach ihrer Lektüre den Buchdeckel schloss, hatten sie bereits ihre Bedeutung für sie verloren.
Charlotte erinnerte sich an eine Zeit in ihrem Leben, in der das anders gewesen war. Ja, früher, da war sie so tief in ihre jeweilige Lektüre eingetaucht, dass sich die Grenzen zwischen ihrer Welt und der ihres Buches aufzulösen begannen. So eng fühlte sie sich mit den Figuren in ihren Büchern verbunden, dass sie sie wie leibhaftige Menschen zu kennen glaubte – und sich nicht gewundert hätte, ihnen auch im realen Leben zu begegnen.
Bücher, das war ihre große Leidenschaft. Zu den schönsten Kindheitserinnerungen zählte Charlotte die weiche Stimme ihrer vorlesenden Mutter, die sie in ihre ersten Bücherwelten geführt hatte. Welten, in denen das Gute immer die Oberhand behielt und die sie darum freundlich aufnahmen. Und auch wenn sie als Heranwachsende schnell lernte, dass in der Literatur, die das Leben zum Vorbild hat, nicht alles nach Wunsch verläuft, so konnte sie selbst dem ungenügendsten Ende noch etwas abgewinnen, solange nur das Buch mit ihr sprach. Bücher bewegten sie, auch noch lange nachdem sie sie zur Seite gelegt hatte. Charlotte trug die Gedanken aus ihnen heraus in ihre eigene Realität und erfuhr dadurch nicht selten echte Inspiration in ihrem Alltag.
Erlebenswert war ihr alles erschienen, was in ihren Büchern passierte. Darin war so viel vom wahren Leben die Rede, dass sie beim Lesen kaum hinterher gekommen war, um ihre Sehnsucht nach dem Leben zu stillen. Ihre Ansprüche ans Leben waren hoch gewesen. Kaum eine Leidenschaft war ihr zu abwegig erschienen, um sie nicht selbst erfahren zu wollen. Und keine Frage, von allen Leidenschaften, die sie für sich begehrt hatte, war die Liebe diejenige gewesen, die sie am sehnsuchtsvollsten erstrebte.
Was also war passiert, dass sie ihre tiefe Leidenschaft für Bücher verloren hatte? Wohin war ihr Lebenshunger verschwunden? Gab es denn für sie überhaupt noch die Sehnsucht nach Glück?
Nun, im Grunde reichte es ihr inzwischen völlig aus, zufrieden zu sein, auch wenn sie sich bei genauerem Nachdenken eingestehen musste, dass sie die Maßstäbe ihrer Zufriedenheit in den letzten Jahren sehr nach unten gesetzt hatte. Diese Zufriedenheit erschien Charlotte als ihr persönliches Höchstmaß an Glück und sie empfand sich als unbescheiden, wenn sie sich manchmal, in schwachen Stunden, nicht damit zufrieden geben konnte, morgens gesund aufzuwachen, ihr lachendes Kind zu sehen und eine Arbeit zu haben, durch die sie ihren Lebensunterhalt bestreiten konnte.
In ihren seltenen dunklen Stunden gestand sie sich ein, dass sie vor einigen Jahren noch eine andere Vorstellung von Glück gehabt hatte und mehr noch, dass sie sich damals bereits im Besitz dieses Glücks geglaubt hatte.
Glück, das hatte damals vor allem Liebe bedeutet und genau diese Liebe war zur größten Enttäuschung ihres Lebens geworden.
Sie war verliebt gewesen. Sie hatte geliebt. Sie hatte Vertrauen geschenkt. Und sie hatte sich endlos geborgen gefühlt in ihrer Überzeugung, auch geliebt zu werden. Der Schlag, den ihr die Realität versetzte, traf sie ohne jede Vorwarnung. Sie stürzte ungebremst in einen tiefen Abgrund aus Enttäuschung und Einsamkeit. Der Mann, den sie geliebt hatte, hatte sie nicht nur von Anfang bis Ende belogen und betrogen, sondern sie obendrein auch noch finanziell ruiniert. Wie in einem schlechten Film war er mit ihrer besten Freundin und ihren gesamten Ersparnissen auf und davon. Durch sein exzentrisches Auftreten war es ihm gelungen, in den kurzen Jahren ihres Zusammenseins Charlotte von ihren bisherigen Freunden und ihrer Familie zu isolieren. Systematisch hatte er um die vertrauensselige, verliebte junge Frau ein geschicktes Lügengerüst gezimmert, hatte ihr Einkünfte vorgegaukelt, wo keine waren, war Verpflichtungen eingegangen, von denen sie nichts ahnte.
Der finanzielle Schaden war enorm, aber dennoch überschaubar. Doch der emotionale Schaden war grenzenlos. Auf einmal fand sich Charlotte mit einem schlechten Leumund belastet. Sie sah keinen Ausweg, als die gemeinsam mit ihm geteilte Umgebung zu verlassen und in einer anderen Stadt völlig neu zu beginnen.
Fast wäre sie ihrer Resignation erlegen. Doch das Leben bot ihr eine ganz besondere Chance. Man hatte sie betrogen, belogen, verletzt und verlassen. Aber sie war schwanger. Sie würde einem Kind das Leben schenken. Dies war mehr als ein Trost in einer schwierigen Situation. Dies war ein echter Grund, der beste Grund überhaupt, um durchzuhalten. Sie wollte durchhalten und diese vorübergehende Krise durchstehen.
Aus dem vorübergehenden Krisenmanagement war in den vergangenen acht Jahren eine feste Einrichtung geworden. Ein zuverlässiges Gebilde, das sie nur sich selbst zu verdanken hatte. Sie war stolz darauf und dieser Stolz war die Quelle ihrer Kraft. Auf andere Quellen wollte sie sich nicht mehr verlassen.
Den aufgeschlagenen Roman im Schoß hielt Charlotte einen müden Moment lang ihre Augen geschlossen. Über all diesen Ereignissen der letzten Jahre hatten die Bücher auf einmal aufgehört, mit ihr zu sprechen. Oder hatte sie nur die Bereitschaft abgelegt, ihnen zuzuhören? Im Ergebnis war es ihr egal, denn sie hielt ihre neue Art, mit Büchern umzugehen, für ein sicheres Indiz dafür, erwachsen geworden zu sein.
Seltsam, dass es ihr gerade heute so schwer fiel, sich auf ihre Lektüre zu konzentrieren. Woher kamen auf einmal die vielen mühsam verdrängten Erinnerungen und störten ihre schwer erarbeitete Ruhe? Forschend betrachtete Charlotte das Buchcover, das auf ihren übergeschlagenen Beinen ruhte. Dieser Roman, dem sie bisher kaum Aufmerksamkeit geschenkt hatte, konnte doch kaum daran schuld sein. Vielleicht lag es daran, dass es ein Liebesroman war? Und welche Inspiration konnte sie sich schon aus einem Liebesroman holen?
Nicht, dass sie nicht bereit gewesen wäre, sich zu verlieben. Sie verliebte sich gerne und oft und, wenig überraschend, immer in die Falschen. Denn die Objekte ihrer Begierde waren niemals die Männer, mit denen sie ernsthaft das Risiko einer gemeinsamen Zukunft eingegangen wäre. Sonst hätte sie sich auch gar nicht in sie verlieben können. Einen Mann, der ihr wirklich „gefährlich“ hätte werden können, ließ sie erst gar nicht an sich heran. Sie sah ihn nicht einmal. Er wurde aus ihrem Bewusstsein ausgefiltert, ehe er in den Bereich ihrer objektiven Wahrnehmung geriet.
Sich zu verlieben war ein kurzweiliger, folgenloser Zeitvertreib, ein Spiel, bei dem es darum ging, niemanden wirklich an sich heranzulassen. Ihre Beziehungen hatten daher immer nur so lange Bestand, wie niemand von ihr erwartete, dass sie ihr mühsam erobertes Leben den Regeln einer neuen Beziehung unterordnete. Panisch weigerte sie sich‚ „sich selbst aufzugeben“, wie sie es nannte. Vertrauen nahm sie nur soweit an, wie sie selbst bereit war es zu schenken. Jeder, der ihr näher kam, erkannte bald, dass dieses Maß sehr schnell erfüllt war. Und jeder, der ein ernsteres Interesse an ihr hatte, konnte damit auf Dauer nicht zufrieden sein.
Ganz eindeutig war ihr das Talent zur Liebe verloren gegangen, befand sie selbstkritisch. Vielleicht gelang es ihr deshalb nicht, sich in den Richtigen zu verlieben. Und vielleicht gelang es ihr deshalb auch nicht, diesen simplen Liebesroman zu genießen.
Verstimmt legte sie das Buch neben sich und nippte an ihrem Tee. Wie war sie überhaupt an dieses Buch gekommen? Ach ja, Magus hatte es ihr zugesteckt. Unbewusst strich sie über den glatten Buchrücken. Seit sie ihm einmal von ihrer einstigen Leseleidenschaft erzählt hatte, tauchte er regelmäßig mit kleinen Buchgeschenken auf. Dabei hatte sie ihm nicht verschwiegen, dass sie schon seit Jahren nicht mehr mit der früheren Hingabe gelesen hatte. Von ihrer Bücherliebe war ihr als Folge ihrer Ausbildung zur Buchhändlerin nur der Job im Buchladen geblieben. Doch hartnäckig ignorierte er ihre Einwände und versuchte sie mit immer neuen Titeln zum Lesen zu verführen. Ja, Charlotte musste zugeben, dass er bei der Auswahl seiner Bücher ein feines Gespür bewies. Das erste Mal seit langem ertappte sie sich wieder dabei, tiefer in ihre Lektüre hineinzuspüren, als sie es sich inzwischen angewöhnt hatte. Irgendetwas rief dieser