Die Buchwanderer. Britta Röder
es heute sehr stressig im Laden?“
Charlotte legte sofort los. Mit einem lauten Schnauben unterstrich sie den Grad ihrer Empörung.
„Absolut überfüllt. Und eine Kollegin war auch noch krank. Ich wäre sonst wirklich früher hier gewesen. Aber dafür hätte der Chef kein Verständnis gehabt. Und dabei rührt er selber keinen Finger, nicht einmal, wenn es so voll ist wie heute!“
Obschon Magus die Einzelheiten ihres Lebens in- und auswendig kannte, wurde er nie müde zum tausendsten Mal davon zu hören. Er kannte die Inkompetenz von Charlottes Chef, die Rücksichtslosigkeit einzelner Kollegen, den Zeitdruck, die mäßige Bezahlung, die fehlenden Pausen, die morgendliche Rennerei zum pünktlichen Arbeitsbeginn und die Hetze, um ebenso pünktlich wieder zu Hause zu sein und auf dem Weg noch die nötigsten Besorgungen zu erledigen. All das kannte er und nahm es als gegeben hin, weil auch Charlotte es geduldig akzeptierte. Er bewunderte ihre anscheinend unermüdliche Ausdauer, diese Dinge zu ertragen.
Aber noch mehr bestaunte er ihre Fähigkeit, sich inmitten dieser trostlosen Gleichförmigkeit den Blick für das Wesentliche zu bewahren. Charlotte hatte das Talent, das Glück auch dann zu entdecken, wenn es sich im unscheinbar Kleinsten verbarg. Und sie hatte die beneidenswerte Gabe, sich am Jubel der Anderen zu entzücken und ihn dadurch zu ihrer eigenen Freude zu machen. Ja, mehr noch: indem sie das Glück der Anderen zu ihrem Glück machte, warf sie es vervielfältigt auf ihre Umgebung zurück und bereicherte sie.
Heimlich genoss er die festlichen Momente, wenn sie ihm mit wenigen Worten ein weiteres Erlebnis ausbreitete. Mal ging es um das schüchterne Kind, das sich erst nicht entscheiden konnte und dann glücklich mit einem neuen Märchenbilderbuch nach Hause ging. Mal ging es um eine einsame, früh ergraute Stammkundin, manische Konsumentin tragischer Liebeslyrik, die sich plötzlich frisch verliebt einfand und nach Rezeptbüchern für aufwendige Gerichte verlangte. Ein unbekannter Passant schenkte einmal Charlottes übellauniger Kollegin eine einzelne Blume und brachte sie damit wenigstens einen Tag lang zum Lächeln. Der Eisverkäufer von gegenüber spendierte an einem Tag allen Kunden und Verkäuferinnen ein Eis, um die Geburt seines ersten Kindes zu feiern.
Magus hatte den Eindruck, Charlotte säße direkt an der Quelle solcher Geschichten. Oder war es so, dass sie daraus am reichhaltigsten schöpfte? Alle diese Episoden waren für ihn kleine, liebevolle Mitbringsel, versöhnliche, hoffnungsfrohe Aufheller des eigenen Alltags. Er konnte nie genug von ihnen bekommen und empfand auch eine zufällige Wiederholung nie als langweilig.
Nachdem Charlotte mit ihrem Sohn gegangen war, blieb Magus in seiner großen, stillen Wohnung alleine zurück. Der Klang ihrer Stimme vibrierte noch in seinem Ohr, der Duft ihres Parfums hing noch in der Luft. Es war wie immer schön gewesen, sie hier bei sich zu haben. Er verlor sich leicht in der Vorstellung, dass sie regelmäßig zu ihm nach Hause kommen könnte, obwohl er wusste, dass dies in der Tat eher selten und nie aufgrund eines vorher gefassten Planes passierte.
Dennoch genoss er diese Idee ausgiebig und rief sich die Schönheit und den Reichtum einzelner mit ihr erlebter Augenblicke in fortwährender Wiederholung wach. So konzentrierte er von Mal zu Mal das Destillat seiner Erinnerung, welches ihm bald intensiver schmeckte als die flüchtige Gegenwart selbst und er geriet in den gefährlichen Sog eines trügerischen Rausches, in dem die Illusion gefälliger erscheint als die unbequeme Wirklichkeit.
Es entsprach seiner Gewohnheit lange wach zu bleiben und seinen verträumten Gedanken nachzuhängen. Daher war er auch kaum überrascht als gegen Mitternacht sein Telefon klingelte und er Rons Stimme am anderen Ende der Nacht vernahm. Geduldig wie ein Buch hörte er sich Rons hastig gestammelte Entschuldigung an. Nein, konnte er seinen Cousin überzeugend beruhigen, er war wirklich nicht beleidigt.
„Das macht nichts“, beteuerte er wiederholt. „Darf ich dich dennoch fragen, was dir dazwischen gekommen ist?“
Ron schluckte. Natürlich hatte er mit dieser Frage rechnen müssen und dennoch schien ihn die Aufgabe, eine plausible Erklärung zu formulieren, nun völlig zu überfordern. Magus baute ihm geduldig eine Brücke aus Schweigen.
„Das ist etwas kompliziert“, erwiderte Ron schließlich nach ewigen, sprachlosen Sekunden. „Wenn du einverstanden bist, möchte ich es dir gerne persönlich erzählen. Können wir uns morgen sehen?“
„Gerne. Gleiche Uhrzeit? Gleicher Treffpunkt?“
Magus traf häufig Verabredungen zum Essen, da er fand, es gäbe keinen aufschlussreicheren Weg, um einen anderen kennenzulernen, als beim gemeinsamen Mahl. Die Art wie jemand aß und trank, ob er nur aß und trank, oder ob und wie er kostete, schmeckte, kaute, schluckte, ob hastig oder mit Bedacht, nachlässig oder andächtig, ob genießend oder oberflächlich, all dies ließ sehr tief auf den Charakter schließen.
Er war neugierig auf Ron, der ihm durch die vielen Jahre, in denen sie sich nicht gesehen hatten, fremd geworden war, und darauf, wie sie sich verstehen würden.
„Ich werde da sein“, versprach Ron und legte auf. Als Magus schlafen ging, war er gespannt, wie sich die Geschichte weiterentwickeln würde.
4
Wie gut, dass Florian so schnell eingeschlafen war. Das verschaffte ihr jetzt noch etwas freie Zeit nur für sich. In der Küche summte bereits der Wasserkocher. Mit wenigen Handgriffen bereitete sie sich einen Tee. Nun durfte sie sich endlich ihrer Lektüre widmen. Das war der Moment, auf den sie sich seit Stunden gefreut hatte.
Hinter Charlotte lag wieder einmal einer dieser ganz gewöhnlichen Tage. Aufstehen, Florian wecken, die Kaffeemaschine anschmeißen, Florian ein Brot schmieren und ihn antreiben, dass er mit Waschen, Zähneputzen und Anziehen fertig wurde, zwischendurch sich selbst fertig machen, den Kaffee im Stehen trinken, Jacke und Schuhe anziehen und los. Zum Bus rennen, an der Schule aussteigen und Florian bis zum Tor begleiten, winken, erneut zum Bus rennen, kaum zu spät auf der Arbeit ankommen, den ersten Kunden begrüßen, sich gleichzeitig die Jacke ausziehen und dabei das chronisch unzufriedene Gesicht des Chefs mit einem perfekt inszenierten Lächeln überspielen. In der Mittagspause schnell ein paar Einkäufe erledigen, dem Chef einen Kaffee kochen und ihm das Einverständnis abringen, trotz der Krankheit einer Kollegin auch heute keine Überstunden zu machen, da sie ihr Kind pünktlich von der Kita abzuholen habe. Doch eine gute Viertelstunde zu spät den Buchladen verlassen, da sie noch kurz vor Ende ihrer Schicht eine besonders komplizierte Bestellung hatte annehmen müssen, da sie einfach nicht Nein sagen konnte und ihr Chef das systematisch ausnutzte, worüber sie sich jedes Mal aufs Neue ärgerte, mehr über sich selbst als über ihn. Zum Bus rennen, schon wieder, um die verlorene Zeit einzuholen und auf die letzte Sekunde Florian abholen.
Als sie endlich völlig erschöpft von der ganzen Rennerei mit ihrem Sohn zu Hause angekommen war und feststellen musste, dass sie in der Hektik ihres Aufbruchs die Einkäufe vom Mittag liegengelassen hatte, war Charlotte schon viel zu müde, um sich darüber noch aufzuregen. Schnell schob sie eine Tiefkühlpizza in den Ofen und schon hatte dieser ansonsten ziemlich ereignislose Tag seinen versöhnlichen Abschluss gefunden.
So wie dieser Tag waren alle Tage. Ihr Alltag war routiniert. Wenig spektakulär. Auslaugend. Gewöhnlich.
Sie wusste, dass ihr Leben gewöhnlich war. Tausende teilten den gleichen Tagesablauf mit ihr. Ihr alltäglicher Stress war nichts Besonderes. Ihre Ängste und Sorgen waren nichts Besonderes. Ihr Job war nichts Besonderes. Ihre ganze Geschichte war nichts Besonderes. Sie steckte so tief drin in diesem Sumpf, den sie ihr Leben nannte, dass sie auch ihre Wünsche und Träume nicht mehr als besonders empfand. Längst schon hatte sie vergessen, dass diese früher einmal die Bedeutung fester Ziele und Pläne gehabt hatten.
Nein, davon wollte sie nichts mehr wissen. Denn eines hatte sie gelernt. Dass Träume sehr gefährlich werden konnten, vor allem wenn es die Falschen waren. Ob es ihr gefiel oder nicht, aber das hier war nun einmal ihr Leben. Und daran ließ