Die Buchwanderer. Britta Röder
der aufgehobenen Bücher auf den freien Treppenstufen erst gar nicht in den Sinn kam.
Hilflos sah er sich um. Linkisch unternahm er einen Versuch über die am Boden verstreuten Bücher hinwegzusteigen, ohne auf eines zu treten. Er wollte die Treppe erreichen, was ihm aber ohne Möglichkeit sich am Geländer festzuhalten nicht gelang. Völlig unelegant schwankte er hin und her und verlor um ein Haar sowohl sein Gleichgewicht als auch seine Fassung. Vorwurfsvoll starrte er auf das Schwergewicht Goethe in seiner rechten Hand, dachte unfreiwillig an Goethe in Italien und fühlte sich durch das übergewichtige Italienkochbuch in seiner Linken zusätzlich verspottet.
Es half nichts. Er musste die Hände freibekommen. Zögernd entschied er sich dazu, das Kochbuch wieder auf den Boden zu legen. Er bückte sich, und als er sich wieder aufrichtete und noch einmal zurück auf das Chaos sah, versank sein Blick völlig unvermittelt in einem Paar rehbrauner Augen, das ihn offensichtlich bereits seit einigen Sekunden aufmerksam beobachtet hatte.
„Sie können sich wohl nicht entscheiden, Poesie oder Pasta?“, blitzte ihm übermütig das bezauberndste Lächeln aller Zeiten aus dem hübschen Gesicht einer jungen Brünetten entgegen.
„Äh, nein, ich wollte …“ Seine einstudierte Galanterie blieb ihm im Halse stecken. Er verschluckte sich und musste husten.
„Entschuldigen Sie bitte das momentane Chaos“, fuhr sie unbeeindruckt fort, als sei ihr Magus’ Verlegenheit gar nicht aufgefallen. „Die Bücherkiste war mir zu schwer und daher habe ich einige Titel herausgenommen, um sie leichter tragen zu können.“
„Sie ziehen heute hier ein?“, kommentierte Magus völlig überflüssig die eindeutige Situation.
„Ja, heute. Und morgen ist wieder alles im Lot“, versprach sie.
Nein, nichts würde je wieder im Lot sein, begriff Magus schlagartig. Nicht solange sie unter einem Dach mit ihm lebte. Nicht solange er an sie denken würde. Und dass er an sie denken würde, war ihm ebenso scharf und deutlich bewusst, wie die unumstößliche Gewissheit, sich in diesem einen Moment unsterblich verliebt zu haben.
Noch immer hielt er den Goethe fest umklammert, so, als wollte er sich an ihm festhalten, um seine eigene Sprachlosigkeit zu überwinden.
„Heut ist mir alles herrlich; wenn's nur bliebe! Ich sehe heut durchs Augenglas der Liebe“ kamen ihm unwillkürlich die Worte des großen Meisters in den Sinn. Doch mehr als ein blödes Lächeln brachte er nicht zustande.
„Berger. Charlotte Berger“, stellte sie sich vor und reichte ihm ihre zartgliedrige Hand zur Begrüßung.
Natürlich hieß sie Charlotte, wie auch sonst, dachte Magus wie betäubt und versank immer tiefer in ihrem bezaubernden Anblick und seine stumme Unbeholfenheit.
„Wir werden uns dann ja noch öfter sehen“, plauderte sie ungerührt weiter. Ihr unbezweifelbares Geschick, derart ungezwungen und charmant die Unterhaltung mit einem scheinbar schwachsinnigen Taubstummen fortzusetzen, war bewundernswert. Er liebte sie augenblicklich noch mehr um ihrer rührenden Hartnäckigkeit willen, an einer einmal begonnenen Liebenswürdigkeit derart bedingungslos festzuhalten.
„Ich hab die Wohnung im Souterrain genommen“, fuhr sie fort.
„Willst du immer weiter schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah. Lerne nur das Glück ergreifen: Denn das Glück ist immer da“, lachte Magus stumm Goethe zitierend in sich hinein.
Charlotte schien das alles nicht weiter zu stören. Ihr fehlte eindeutig der Vergleich zum „normalen“ Magus, den sie noch nicht kannte. Wenigstens war der wohlhabende Penthousebewohner, von dem sie bereits gehört hatte, kein überheblicher Yuppie oder angeberischer Klugscheißer. Allerdings könnte er langsam mal ihre Hand loslassen. Vorsichtig zog sie ihre Rechte aus seinem festen Griff und nahm ihm, wie um diese Bewegung zu rechtfertigen, den schweren Goetheband ab.
Für Magus wurde es höchste Zeit, sich aus seiner Betäubung zu lösen, wenn er nicht als Volltrottel aus dieser Szene scheiden wollte.
„Ich bin Magus. Ich wohne ganz oben. Unterm Dach“, fiel ihm gerade noch rechtzeitig ein.
„Also dann“, wandte sie sich um, „morgen sieht es wieder ordentlich aus. Versprochen.“
Noch immer fassungslos starrte er ihr nach. Erst als er oben in seine Wohnung trat, kam er langsam wieder zu sich.
Was war geschehen? Wie konnte ihm das passieren? Er war derart unbeholfen gewesen, dass ihm noch nicht einmal eingefallen war, ihr seine Hilfe anzubieten. Was war bloß los mit ihm? Ihm waren einfach die Worte weggeblieben. Er hatte nur noch in Goethe-Zitaten denken können.
Magus glaubte an die Liebe. Immerhin hatte er sie bereits tausendmal in seinen Filmen inszeniert. Sie war für ihn die Grundlage der Menschlichkeit. Die Liebe war eine unantastbare Größe. Ein perfektes Abstraktum. Schwebend, vage, mysteriös. Sie hatte tausend Gesichter und Geschichten.
Wie also um alles in der Welt konnte er damit rechnen, dass sie ihm ausgerechnet hier begegnete? So unmittelbar. So direkt. Darauf war er nicht vorbereitet gewesen. Niemand konnte darauf vorbereitet sein. Er noch weniger als Andere, nahm er sich in Schutz und wusste, dass er sich auch damit belog. In dieser Lebenssituation gab es für niemanden eine Ausnahme oder Sonderregelung. Die Liebe war kompromisslos und unberechenbar und er alleine musste nun für sich damit klarkommen.
Mehr schlecht als recht kam Magus damit klar. Seit drei Jahren waren Charlotte und ihr Sohn Florian sein wertvollstes Geheimnis. Ihr Leben, das so völlig anders war als das seine und sich an keinem einzigen Punkt mit seiner Lebenswelt überschnitt, war vom heimlichen Nebenschauplatz seiner anfänglichen Neugierde längst zu seinem Hauptinteresse geworden.
Der Tee hatte gerade lang genug gezogen, als es an der Tür klingelte. Abgehetzt und mit regennassem Haar stand Charlotte vor seiner Tür.
„Hallo Magus, hat Flo Sie wieder mal überfallen?“ Zur Begrüßung schenkte sie ihm ihr unvergleichliches Lächeln.
„Nein, im Gegenteil, ich bat ihn, mir etwas Gesellschaft zu leisten und mir den verregneten Nachmittag aufzuheitern.“ Magus trat zur Seite um sie hereinzulassen. Ohne zu fragen nahm er ihr die nasse Jacke ab, hing sie an die Flurgarderobe und bat Charlotte mit einem stummen Nicken ins Wohnzimmer zu kommen.
„Und Ihnen dabei den Kühlschrank leer zu futtern.“ Ihre Strenge war mehr gespielt als ernst gemeint. Lachend strich sie sich eine dunkle Haarsträhne hinters Ohr und betrachtete liebevoll kopfschüttelnd ihren kleinen Sohn, der sich sicher behütet in der flauschigen Geborgenheit von Magus’ Frotteebademantel seinem aufregenden Bilderabenteuer mit phantastischen Riesenechsen hingab.
„Aber nicht doch“, besänftigte sie Magus galant. „Ich esse eben nicht gerne alleine und da ich selbst hungrig war … Bitte, Charlotte, setzen Sie sich doch für einen Moment. Ich habe gerade Tee gekocht.“
Erschöpft nahm sie Platz. Mit dem sonnigen Wohlgefallen einer Katze beobachtete sie ihren fürsorglichen Nachbarn, der eine weitere Tasse aus dem Schrank holte und mit wenigen geschickten Griffen den leeren Esszimmertisch in eine gastliche Tafel verwandelte. Sie, die den ganzen Tag ausschließlich Dienstleistungen für andere ausführte, empfand die aufmerksame Selbstverständlichkeit, mit der er sie so zuvorkommend bediente, wie eine vertraute Zärtlichkeit. In sich versunken lächelte sie verlegen über diesen verwegenen Vergleich, der sich ihr nicht zum ersten Mal aufdrängte.
„Ach, Magus“, seufzte sie mehr für sich. „Was würden wir nur ohne Sie machen?“
Er kannte diesen entrückten Blick, dieses verträumte Leuchten, das sich vor ihm verborgen sekundenlang in ihrem Innern ausdehnte, um dann plötzlich in der Winzigkeit eines einzigen Wimpernschlags im schwarzen Glanz ihrer Augen zu explodieren und mit leisem Funkeln wieder wie spurlos zu versinken. Er liebte diesen Moment, da er in diesem Blick die Tiefe von Gedanken ahnte, um deren willen er sie noch mehr liebte.
„Zucker? Milch?“, hörte sich Magus fragen und träumte davon, seiner Liebsten viel eher die ganze Welt zu Füßen zu legen.
Zutraulich schob sie ihm ihre Tasse über den Tisch,