Die Buchwanderer. Britta Röder
der Seltsame zu sein.
Er brauchte keine unsinnige Kraft mehr damit zu verschwenden, so sein zu wollen wie die Anderen. Er wusste nicht nur, dass er es nicht konnte, er wusste, dass er es auch gar nicht wollte.
Anfangs glaubte er, die Ursache seiner Fremdheit läge im frühen Tod seiner Mutter begründet. Er verlor sie, als er gerade fünf Jahre alt war, und in seine Sehnsucht nach der bedingungslosen mütterlichen Liebe mischte sich die Gewissheit, mit ihr auch die einzige Person verloren zu haben, die ihn ganz so verstanden und angenommen hatte, wie er eben war. Da auch sein Vater sich nur wenige Monate nach dem Tod der Mutter aus dem Staub gemacht hatte, um nie wieder in den Kreisen seiner Familie gesehen zu werden, wuchs Magus bei seiner Tante auf. Diese versorgte ihn so gut man den Sohn der zu jung verstorbenen Schwester eben versorgen kann, wenn man selbst drei Söhne großzuziehen und einen zum Alkoholismus neigenden Melancholiker zum Mann hat. Sie tat damit ihr Bestes, aber das einsame Kind verstehen zu können lag eindeutig außerhalb ihrer Möglichkeiten.
Dort wo in der Kindheit Freunde zu den wichtigsten und engsten Vertrauten werden, erlebte Magus anfangs nur schroffe Befremdung und rohe Ablehnung. Dabei war es nicht die Schuld der anderen Kinder. Obwohl Magus sich immer sehr bemühte ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen, so fehlte es ihm völlig an der inneren Überzeugung, es ihnen wirklich gleich zu tun. Seine Tante sorgte sich darüber nicht wenig, denn dieser verschlossene Neffe war so anders geraten als ihre eigenen wilden Söhne, die ihr völlig unkompliziert die jeweils altersgerechten Kümmernisse bereiteten. Doch schon bald konnte sie daran auch gewisse Vorzüge feststellen. Magus, der sich mit seiner Außenseiterstellung nach und nach zufrieden gab, war unkompliziert und ausgeglichen. Er konzentrierte sich auf die Schule und aufs Lernen. Unbeeindruckt von den draufgängerischen Heldentaten seiner pubertierenden männlichen Altersgenossen folgte er zielstrebig seinen eigenen geheimnisvollen Idealen. Gute Leistungen und das hilfsbereite Entgegenkommen, diese mit anderen zu teilen, entwaffneten bald die Neigung der Anderen ihn abzulehnen und machten ihn beliebt. Man begann ihn zu bewundern und zu schätzen.
Nach seinem Schulabschluss erwartete man, dass er endlich anfangen würde sein eigenes Geld zu verdienen. Da er so gar keine der sonst üblichen männlichen Interessen zeigte, engagierte sich sein Onkel in einem seiner seltenen nüchternen Augenblicke dafür, ihn über Beziehungen als Lehrling bei einem Frisör unterzubringen.
Dieser Ausbildungsplatz lag zwar völlig außerhalb von Magus’ Erwartungen, aber er fand sich nicht nur mit seiner neuen Lage ab, er absolvierte die Lehre sogar mit großem Engagement und überraschend hoher Begabung. Er hatte erkannt, dass ihm fast nichts Kreatives misslingen konnte und er seine Bestimmung nur in einem künstlerischen Werdegang finden würde.
Das begeisterte Angebot seines Lehrherrn, sofort nach Abschluss der letzten Prüfung bei ihm festangestellt zu werden, lehnte er ohne Überheblichkeit und ohne Zögern ab. Er war bereits auf dem Weg eine zweite Ausbildung zum Maskenbildner abzuschließen. Sein erstes Ziel war das Theater und mit dem Ausweis hervorragender Noten gelang ihm bald mühelos der Eintritt in diese phantastische Welt hinter der Welt. Hier, an der Grenze zwischen Imagination und Realität, beim Hervorholen gedachter Bilder, beim Sichtbarmachen von geträumten Phantasien, spürte er das erste Mal, dass er seinen Weg gefunden hatte. Als ihm klar wurde, dass er beim Film über noch umfangreichere Mittel und vielfältigere Methoden verfügen könnte, wechselte er das Genre.
Ein glücklicher Zufall verhalf ihm im Rahmen einer deutsch-amerikanischen Filmproduktion zu einem Stipendium an der Filmakademie. Von nun an verlief seine Karriere wie am goldenen Schnürchen. Was immer er anfing, es gelang.
Als technischem Leiter eines großen Studios oblag ihm schon bald die komplette Visualisierung begehrter Filmproduktionen. Es ging für ihn nun nicht mehr nur um Masken und Kostüme, um Farbgebung und Licht, um Special Effects oder Regieanweisungen. Er hatte erkannt, dass er mehr wollte, als nur die Ideen anderer umzusetzen. Er wollte alles selber machen.
Mithilfe seines Ehrgeizes und nennenswerter Beziehungen gründete er seine eigene kleine Produktionsfirma. Er schrieb eigene Drehbücher und setzte sie vollständig um. Seine Spezialität waren kurze Sequenzen, wie sie vor allem in der Werbung gebraucht wurden, und sein eigenwilliger Stil, mit wenigen sehr ausdrucksstarken Bildern äußerst effektvoll eine abgeschlossene Geschichte zu erzählen, wurde schnell sein Markenzeichen.
Großes Kino mochte er nicht. Er wollte keine Filme in voller Länge, die das Leben imitieren mussten, um zu funktionieren. Das Leben einfach so abzubilden, wie es war, empfand er nicht als Kunst. Seine Filme sollten ein originelleres Leben zeigen. Er wollte die Ideen visualisieren, die sich hinter der sichtbaren Welt versteckten. Er wollte das Unsichtbare sichtbar machen. Er wollte verblüffen, überraschen, hinterfragen, anrühren, nachdenklich machen, aber vor allem wollte er eine Botschaft vermitteln. Er wollte an das Geschenk der Zeit erinnern, an die Schönheit des Lebens und an seine universelle Kraft, die ihren Ausdruck in der Liebe fand. Im klassischen Sinne war Magus kein gläubiger Mensch, aber diese Überzeugung war seine Art des Glaubens. Nur durch die Liebe erhielt das Leben für ihn seinen tiefen Sinn.
Obwohl viele seiner Filme – oder besser Filmchen – ausgezeichnet und prämiert wurden, gelang es ihm, anders als den Filmemachern großer Produktionen, in der breiten Öffentlichkeit unbekannt zu bleiben. Außerhalb seiner Branche nahm niemand an, dass an diesem mittelgroßen, mittelblonden, sehr gepflegten aber immer verschlossen wirkenden Durchschnittstypen Ende Dreißig, Anfang Vierzig irgendetwas Besonderes sein könnte.
Unter seinen Kollegen und Mitstreitern betrachtete man es als einen Spleen, dass Magus so bar jeder Eitelkeit ein wenig glamouröses Leben führte.
Die Wahrheit war aber nicht, dass Magus besonders bescheiden, besonders uneitel oder besonders unempfänglich für Aufmerksamkeit und Lob gewesen wäre. Die Wahrheit war, dass es ihm mit der Welt der Reichen und Schönen, der Einflussreichen und Berühmten genauso erging, wie zuvor mit der Welt der durchschnittlichen und gewöhnlichen Menschen. Die Menschen in dieser glamourösen Welt waren ihm in der Mehrheit mit all ihren täglichen, kleinlichen Befindlichkeiten genauso herzlich egal wie die Leute, aus deren Mitte er stammte. Er kannte beide Welten und war weder in der einen noch in der anderen wirklich zu Hause.
Beruflich erfolgreich und finanziell unabhängig erlaubte er sich immer mehr, sich den profanen Äußerlichkeiten eines ungeliebten Alltags zu entziehen. Nach und nach erschuf er sich eine eigene Kunstwelt. Sogar sein eigenes Leben erschien ihm wie eines seiner phantastischen Drehbücher. In den von ihm selbst geschaffenen Bedingungen fühlte er sich aufgehobener und sicherer, als er es in der konkreten Welt je vermocht hätte. So oft es ging, wählte er die Klausur seiner Privatidylle. Und da die Welt nicht stehen blieb, um auf ihn zu warten, verpasste er mehr und mehr den Anschluss an soziale Zusammenhänge und musste sich immer mühevoller von Neuem dieser äußeren Welt annähern.
Seine innere Einsamkeit war dabei schon so fest ein Wesenszug von ihm, dass er sie gar nicht mehr in Frage stellte.
Nun war er keineswegs blind für das, was ihn umgab. Im Gegenteil. Seine außergewöhnliche Distanz erlaubte ihm einen Blick auf Details, die den meisten anderen Menschen entgangen wären. Mit Bestürzung beobachtete er die täglichen Verletzungen, die sich seine Mitmenschen gegenseitig zufügten, oft ohne es wirklich zu wollen, meist sogar ohne es zu bemerken. Nur ihrer Oberflächlichkeit schob er es zu, dass sie so unberührt darüber hinweggehen konnten.
Bis vor gut drei Jahren hatte sein System aus Einsamkeit und Abstand perfekt funktioniert. Bis zu jenem Tag vor etwa drei Jahren, als er das erste Mal Charlotte begegnete.
An einem Spätnachmittag kam er nach Hause, schloss die Haustür auf, konnte sie aber nur öffnen, indem er sich fest mit der ganzen Kraft seines Körpers gegen die schwere Glastür stemmte. Eine Barriere aus Umzugskartons und sperrigen Möbelstücken versperrte ihm den Zugang und zwang ihn kletternd das Treppenhaus zu betreten. Irritiert stolperte er über eine der vielen Kisten und stieß sich unsanft das Schienbein an einem Stapel lose aufgetürmter Bücher, die polternd in sich zusammenfielen.
Was sollte diese unverschämte Unordnung bedeuten? Dieses blindwütige Chaos verstimmte ihn. Verärgert bückte er sich, um die zu Boden gefallenen Bücher aufzuheben. Er nahm ein italienisches Kochbuch in die eine und einen Band Goethe-Dichtung in die andere Hand