Die Buchwanderer. Britta Röder

Die Buchwanderer - Britta Röder


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der großen Fülle an kulinarischen Verheißungen, die allesamt hielten, was er sich von ihnen versprochen hatte, wäre seine Verärgerung über Rons Ausbleiben selbst dann längst verflogen, wenn sie mehr als einen rein formellen Charakter gehabt hätte. Magus hatte es sich längst abgewöhnt, sich über das Fehlverhalten seiner Mitmenschen zu ärgern. Darauf hatte er keinen Einfluss und daher fühlte er sich dafür auch nicht verantwortlich. Er hielt es für vernünftiger die Dinge so zu nehmen, wie sie kamen und aus der jeweiligen Situation das Beste zu machen. Und wenn die Dinge seinen Weg in Form sinnlicher und kulinarischer Annehmlichkeiten kreuzten – worauf er selbst ja immerhin einen gewissen Einfluss hatte –, dann war ihm dies sowieso lieber. Bereits mit dem ersten Glas Chianti hatte er sein Unbehagen darüber, dass Ron die Verabredung offensichtlich vergessen hatte, ad acta gelegt.

      Obschon sich der Himmel zugezogen hatte und das Grau der Wolken heftig mit Regen drohte, beschloss er nach dieser üppigen Mahlzeit zu Fuß nach Hause zu gehen. Magus lief gerne. Er genoss die Stille beim Gehen, denn da die meisten seiner Mitmenschen diese Leidenschaft nicht teilten, war ein Spaziergang oft eine Sache, die er ganz mit sich allein genoss; und angeregt durch die Bewegung der Füße kamen meist auch die Gedanken in seinem Kopf in Gang und am Ende fühlte er sich nicht nur körperlich wohlig erschöpft, sondern auch geistig angenehm aufgeräumt und befreit.

      Bestimmt war seinem Cousin Ron etwas Wichtiges dazwischen gekommen. Magus hatte nicht das dringende Gefühl sofort erfahren zu müssen, was Rons Ausbleiben verursacht hatte. Wenn er wollte, dann konnte er sich später nach dem Grund dafür erkundigen und alles würde sich aufklären.

      Dabei war Magus durchaus nicht oberflächlich oder gleichgültig. Im Gegenteil, nur hatte er als ein außergewöhnlich empfindsamer Mensch schon früh erfahren, dass offen zur Schau getragene Gefühle ein enormes Verletzungsrisiko bargen. Um Verwundungen vorzubeugen, machte er es sich daher zur Gewohnheit, alle seine Empfindungen nur äußerst sparsam zu zeigen. Die wirklich gefährlichen Gefühle aber, die, welche echten Schmerz und Kummer verursachen konnten, wenn sie in die falschen Hände gelangten, vergrub er in den hintersten und geheimsten Kammern seines Herzens, so tief, dass er sie dabei selbst fast vergaß.

      So groß diese verborgenen Leidenschaften auch waren, die in seinem Inneren tobten, brausten, brodelten, kochten und gegen die klammen Gefängnismauern aus Unsicherheit und Vorsicht anrannten ohne jemals zu ermüden, so sehr spezialisierte sich Magus darauf, diese überschäumende Energie zu bändigen. Diese Energie war es, die seine unermüdliche Ausdauer und eiserne Disziplin nährte, durch die er sein Leben jeden Tag aufs Neue zu einem wahrhaft beeindruckenden Beispiel an Ausgewogenheit und Ausgeglichenheit, an Kultiviertheit und Bildung, an Lebensstil und beruflichem Erfolg werden ließ. Magus war ein Mensch, von dem man sagte, dass er es wirklich geschafft hatte. Er gehörte zu den Auserwählten, die ihre Berufung auch ihren Beruf nennen konnten und damit auch noch ein kleines Vermögen verdienten. Er galt durchweg als begehrt und beliebt. In großer Gesellschaft glänzte er durch seine Eloquenz. Kleinen Zusammenkünften verlieh er stets eine exklusive Note. Seine Erscheinung war exquisit, seine Umgangsformen waren angenehm, ebenso wie der gepflegte Klang seiner Stimme. In Kollegenkreisen bewunderte man neidlos seine Erfolge, die er sich allesamt durch harte Arbeit und mit gnadenlosem Drill an seinem Talent erworben hatte. Man schätzte ihn und als ein Mann gänzlich ohne Allüren war er auch bei seinen Angestellten beliebt.

      Magus hatte einen enormen Bekanntenkreis. Professionell pflegte er seine zahlreichen Kontakte, erfüllte gewissenhaft alle täglichen Verabredungen, führte geschickt seine Verhandlungen, erschien immer pünktlich und gut vorbereitet zu seinen Meetings. Tagsüber war er ein Mann der vielen Gespräche. Abends kehrte er erleichtert heim, um die Ruhe und Erholung zu suchen, die er nur in der stillen Abgeschiedenheit seiner eigenen vier Wände fand. In diesen Stunden dämmerte ihm manchmal, dass er vielleicht der einsamste Mann der Welt war.

      Der Regen war bereits sehr heftig geworden, als er den Haustürschlüssel aus seiner Jackentasche zog. Sehnsuchtsvoll dachte er an die belebende Gesellschaft eines warmen Tees, als ihn von der Seite eine leise Stimme aus seinen Gedanken rief.

      „Lässt du mich mit rein?“ Der kleine Junge schien bereits seit einiger Zeit unter dem Vordach gewartet zu haben. Magus erkannte Florian, den etwa siebenjährigen Sohn seiner Nachbarin, einer jungen Frau, die in der kleinen Wohnung im Souterrain wohnte.

      „Flo, ist denn deine Mutter nicht zu Hause? Hast du keinen Wohnungsschlüssel dabei?“, fragte Magus, während er das durchnässte Kind in den Hausflur schlüpfen ließ.

      „Nö, vorhin zu Haus vergessen. Aber Mama kommt bald heim. Heute ist Samstag und da arbeitet sie nur bis vier.“

      Magus warf erst einen raschen Blick auf seine Armbanduhr, deren Zeiger auf kurz nach Drei standen, und dann zurück auf das nasse Kind.

      „Komm mit rein. Ich geb dir was zum Abtrocknen und wir hängen deiner Mama einen Zettel an die Tür, damit sie weiß, dass du bei mir wartest. Ich mach uns inzwischen einen heißen Tee.“

      „Mit Schokokeks?“, fragte Flo erwartungsvoll.

      „Mit Schokokeks“, versprach Magus. „Mit allem, wie beim letzten Mal“. Er ging voran und Flo sprang behände hinterher. Unaufgefordert stellte der Junge seine lehmverschmierten Schuhe neben Magus’ Eingangstür, bevor er in die Wohnung hüpfte. Magus brachte ein großes Handtuch, half dem Jungen aus den nassen Kleidern und verpackte ihn in seinen viel zu großen Bademantel.

      „Darf ich Bilder gucken, bis du so weit bist?“, fragte Flo artig und als Magus nickend in die Küche ging, um seinen Gastgeberpflichten nachzukommen, zog er auch schon mit gezieltem Griff einen riesigen Bildband über ausgestorbene Tiere aus dem Regal und machte es sich damit auf der Couch gemütlich.

      „Die Saurier waren ganz doll gefährlich, nicht wahr?“, rief er Magus in die Küche hinterher.

      „Ja, vor allem der Tyrannosaurus Rex, der größte Jäger, der je auf der Erde gelebt hat“, antwortete Magus und kam aus der Küche zurück. „Sag mal, hast du schon lange gewartet? Hast du überhaupt zu Mittag gegessen? Ich mache dir lieber erst mal ein Brot, damit du zuerst etwas Vernünftiges isst, bevor du die ganzen Kekse futterst.“

      „Das sagt Mama auch immer“, stimmte Flo zu und blätterte ungerührt weiter.

      Mit zärtlicher Fürsorge dachte Magus an Florians Mutter, Charlotte, seine Nachbarin. Die alleinerziehende junge Frau kam oft in letzter Minute nach Hause, um zu kochen, ihre Einkäufe zu erledigen oder Flo aus der Tagesstätte abzuholen. Und heute war offensichtlich mal wieder etwas schiefgelaufen. Magus war heilfroh, dass er Flo von seiner unbequemen Warterei hatte erlösen können. Das war doch nichts, so ein Kind alleine auf der Straße.

      Der heranwachsende Flo rief immer häufiger Bilder seiner eigenen Kindheit in ihm wach. Was die hübsche Charlotte in ihm wachrief, das war mehr, als er in Worte fassen konnte. Und immer wenn er zu oft an sie dachte, dann war er peinlichst schnell bemüht, es vor allem vor sich selbst in den tiefsten Abgründen seines Herzens zu verbergen.

      Charlotte war nicht die Frau, die sich für einen Mann wie ihn interessiert hätte. Ihre Freunde waren praktisch veranlagte Leute, Handwerker, Arbeiter, Techniker. Männer, die zupacken konnten und denen man das auch ansah. Leute, die ohne Umstände geradeaus dachten und sprachen und die stets wussten, was zu tun ist. Leute, für die Bildung etwas in barer Münze Messbares bedeutete und die recht damit hatten. Dies waren die Leute, die die gleiche Sprache wie Charlotte sprachen, in der sich vieles um finanzielle Engpässe, Überstunden, ungerechte Chefs und Sonderangebote drehte. Leute, die ihre Nachbarn meist mit Namen kannten, deren Topfpflanzen in Urlaubszeiten gossen und die sich auch für deren Wehwehchen und Haustiere interessierten. Es war eine Welt, in der Magus nie wirklich zurechtgekommen war, so sehr er sich anfangs auch darum bemüht hatte.

      Seit er ein Kind war, wusste er, dass es nicht die Welt war, die sich vor ihm verschloss, sondern dass er selbst es war, der den Zugang zu ihr überhaupt nicht suchte. Die Welt, so wie alle Anderen sie sahen, interessierte ihn nicht im Geringsten. Zuerst schämte er sich noch ein wenig und versuchte ungeschickt sein Defizit zu verbergen. Doch nach und nach begann er, seine Einsicht ganz offen vor sich herzutragen. Zwar machte er sich dadurch nun ganz und gar zum einsamen und bespöttelten


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