Die Rückseite der Wahrheit. Riccardo del Piero
sie, wie Céline sich ein wenig beruhigte.
„Ach ja, wenn ich das schon hinter mir hätte; was würde ich nicht alles dafür geben! Ich habe solche Angst“, seufzte die junge Patientin.
„Die hat doch jeder vor einer Operation, ganz besonders natürlich vor dem ersten Mal. Das ist wirklich bei allen so. Nur gibt das eben niemand gerne zu. Was glaubst du, was ich da schon alles gesehen habe. Umso größer ist die Erleichterung, wenn alles gut überstanden ist. Morgen um diese Zeit hast du es geschafft.“
Sarah bemerkte den Teddybären, der leicht verdeckt im Bett lag. Céline hatte noch sehr kindliche Züge, wirkte aber dadurch erst recht sympathisch.
„Na ja, dann werde ich Morgen wohl in den sauren Apfel beißen müssen!“, meinte Céline schließlich.
„Nicht mal das ist erlaubt“, antwortete Sarah „denn für morgen musst du nüchtern bleiben, da wird in gar nichts mehr gebissen.“
Beide lachten.
„Dann mache ich eben gute Miene zum bösen Spiel.“
„Gute Miene ist immer gut, aber böses Spiel gibt es bei uns nicht“, erwiderte Sarah.
„Natürlich nicht, vielleicht mal abgesehen von diesem Abteilungsarzt. Der hat vielleicht einen Umgangston“, fügte Céline nach einer Pause an.
Sarah war erstaunt über diese Aussage. Sie kannte ihren Alptraumchirurgen und wusste, wie er mit dem Personal sprach, vor allem mit dem weiblichen Personal. Doch wäre sie nie auf die Idee gekommen, dass der Chirurg auch den Patienten gegenüber so auftreten könnte.
„Weißt du, wie er mich begrüßt hat?“, fragte Céline leise.
Sarah schüttelte den Kopf.
„Tag, meine kleine Ballerina aus der Provinz. Du bist wohl immer noch Jungfrau, was Schätzchen?“
Sarah schaute ungläubig und schluckte leer.
„Unglaublich“, mehr brachte Sarah nicht hervor. Ihre Loyalität dem Chirurgen gegenüber erlaubte es ihr nicht zu sagen, was sie dachte.
Sarah empfand echtes Mitleid mit ihrer Patientin, wohl auch, weil sie beide fast gleichalt waren und Sarah sich gut vorstellen konnte, welche Ängste sie selbst in solch einer Situation ausgestanden hätte. Gewisse Schicksale gingen ihr näher als andere.
Céline und Sarah sprachen noch ein Weilchen über private Dinge und merkten nicht, wie die Zeit verging. Als Sarah sich verabschiedete, spürte sie, dass es ihr nicht restlos geglückt war, Célines Ängste zu beseitigen. Deren Unsicherheit hing beinahe noch spürbar im Raum und übertrug sich auch ein wenig auf sie.
Als sie das Krankenzimmer verließ, stieß sie beinahe mit Schwester Regula zusammen. Sarah erschrak kurz, und sie wusste nicht, wie ihre Vorgesetzte reagieren würde.
„Sie sind nochmals zu Frau Jaquet gegangen, obwohl sie eigentlich schon Feierabend hätten. Das finde ich sehr bemerkenswert“, sprach die Abteilungsschwester und nickte sogar aufmunternd.
Sarah war erleichtert.
„Ich hoffe, Sie haben das vorhin nicht persönlich genommen, als ich Sie daran erinnern musste, sich etwas zu beeilen“, meinte Schwester Regula auf dem Weg ins Stationszimmer.
„Ach nein, das ist schon in Ordnung“, antwortete Sarah rasch. Im nächsten Moment jedoch stellte sie fest, dass sie eine ideale Gelegenheit verpasste hatte, ihre eigene Meinung einzubringen.
„Gut. Sie müssen eben noch lernen, mit der Zeit richtig umzugehen. Wenn ein Patient zusätzliche Betreuung braucht, dann gehen sie einfach später nochmals ins Zimmer, sobald die übrige Arbeit erledigt ist. So wie sie das jetzt gemacht haben.“
In Anbetracht des nahenden Feierabends hatte Schwester Regula erstmals an diesem Tag, einen versöhnlichen, beinahe mütterlichen Ton angenommen. Dies war für Sarah eine neue Erfahrung, denn ihre Vorgesetzte sprach sonst fast immer in betont sachlichem Ton.
„Bei Céline ist die Situation schon etwas speziell. Sie ist dermaßen ängstlich, dass ich etwas länger brauchte, um sie zu beruhigen“, wagte sich Sarah doch noch, ihren Standpunkt darzustellen.
„Wir duzen unsere Patienten nicht, das sollten Sie wissen. Es heißt immer noch Frau Jaquet, und außerdem ist jeder Patient speziell“, antwortete Schwester Regula wieder etwas weniger familiär.
Sarah nickte halbherzig.
„Sie haben schon recht, Schwester Sarah“, lenkte Regula nach kurzer Pause nachsichtig ein, „einige Patienten sind eben noch spezieller!“
Erstmals an diesem Tag bemerkte Sarah ein feines Lächeln auf Regulas Lippen.
Die Abteilungsschwester ging mit ihr in den hinteren Teil des Stationszimmers und dozierte unbeirrt weiter. Offenbar schien sie es auch gar nicht eilig zu haben, nach Hause zu kommen. Sie bestätigte, was die meisten von ihr dachten: Sie war mit ihrem Beruf verheiratet.
Im Hintergrund hörte Sarah jemanden eine Melodie von Elvis singen. Irgendwie hatte sie die Melodie anders in Erinnerung.
In der Nacht träumte Sarah von den großen Augen des Arztes. Mal schauten sie fragend, mal freudig. Doch plötzlich blickten diese Augen schreckerfüllt, als würden sie etwas ganz Abscheuliches sehen. Ein Gefühl von Grauen packte Sarah, und sie schreckte aus dem Schlaf auf. ‚Schon wieder ein unsinniger Traum‘, dachte sie. Anschließend gelang es ihr für lange Zeit nicht mehr einzuschlafen.
Liebe auf den ersten Schnitt
Nach einer traumlosen Nacht trotz Traumgesicht, erlebte ich am Morgen beim Aufwachen eine wahrhaftige Schrecksekunde. Ein Blick auf die Uhr und ich war schlagartig hellwach. Zehn Minuten vor Sieben. Wahrscheinlich hatte ich nicht richtig hingesehen. Nein, es stimmte auch beim zweiten Blick und es war klar: Ich hatte verschlafen. Wahrscheinlich hatte ich versäumt, meinen Radiowecker zu stellen, oder vielleicht müsste ich doch die Bedienungsanleitung nochmals genauer durchlesen.
Ich stürzte aus dem Bett und bemerkte auf dem Weg ins Bad einen heftigen Muskelkater. Ich ärgerte mich, dass die Zeit nicht mehr für einen Kaffee reichte, und rannte zur Straßenbahn. Eine starke Brise umwehte mich eisig.
Atemlos an der Haltestelle Zoo angekommen, wartete und fror ich geschlagene fünf Minuten bis Tram Nummer 6 endlich vorfuhr. Ausgerechnet an diesem Tag würde ich zu spät kommen. An jedem anderen hätte eine kurze Verspätung keine Folgen gehabt, da meine Patienten ohnehin zu spät eintrafen. Doch heute stand eine Gallenblasenoperation beim Chefarzt der Chirurgie, Professor Dr. Caspar Caminada, auf dem Programm. Privatpatientin, versteht sich, und ich war sicher, sie würde pünktlich eintreffen. Die Fahrt mit der Straßenbahn kam mir länger als sonst vor, und ich trommelte mit den Fingern gegen die Sitzfläche meines Stuhles. Was blieb mir anderes übrig?
Endlich in der Klinik angekommen, stand mir der allmorgendliche Umkleidemarathon bevor. Zuerst musste ich die Straßenkleider in mein persönliches Garderobekästchen hängen und weiße Berufskleidung anziehen, danach zur Operations-Garderobe um mich für die grüne Welt passend anzuziehen, dabei blieben die weißen Kleider im Schrank. Je nachdem, in welcher Operationsabteilung man gerade arbeitete, konnten diese beiden Garderoben weit auseinander liegen und ich brauchte manchmal gut und gerne 15 Minuten für diese Prozedur. Doch an diesem Tage stellte ich einen neuen, inoffiziellen Rekord auf. Um 7 Uhr 16, eine Minute zu spät, traf ich im Operationssaal ein. Ausnahmsweise war ich in Saal eins eingeteilt. Alle warteten schon auf mich.
„Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige“, begrüßte mich Huber höhnisch.
„Guten Morgen, Majestät. Ich werde diese Weisheit an die Verkehrsbetriebe der Stadt Zürich weiterleiten“, antwortete ich und zwang mich zu einem Lächeln.
„Beginn jetzt lieber mit der Narkose, statt andere für dein Zuspätkommen verantwortlich zu machen“, versetzte Huber und ließ mich nicht aus den Augen.
Trotzdem liefen die folgenden Narkosevorbereitungen wie am Schnürchen. Diesmal war mir der einzige Pfleger unter lauter