Die Rückseite der Wahrheit. Riccardo del Piero
ich nur mit einem Ohr hinhörte und mich auf meinen Kaffee konzentrierte.
Plötzlich öffnete sich die Türe lautstark und Huber betrat den Raum. Er musterte uns mit durchdringendem Blick und erstickte damit Anitas Monolog.
„Hört mal“, begann er und hob sein Kinn. „Die wollen den Verbandwechsel bei deinem Scheich trotzdem machen. Ich habe zugestimmt, denn es braucht ja wirklich keine Vollnarkose für einen einfachen Verbandwechsel. Da der Scheich sehr schmerzempfindlich ist, habe ich bereits eine leichte Sedierung verordnet. So wird er ein bisschen indifferent und lässt den an sich sehr kurzen Eingriff problemlos über sich ergehen.“ So schwebte es Huber wenigstens vor.
Skeptisch gespannt begab ich mich in Operationssaal Nummer 5. Auch der Alptraumchirurg war schon wieder da, zusammen mit seinem Oberarzt. Sie boten ein äußerst ungleiches Paar. Der eine war kleingewachsen und mit reichlicher Körperfülle ausgestattet, sein Kollege dagegen groß und hager. Geradezu jovial grüßten sie.
Hoffentlich will mir der Dicke nicht schon wieder seine Geschichten erzählen, über die nur er lacht, hoffte ich still.
Belustigt erzählte der Alptraumchirurg, wie er die Krankenschwester, die dem Scheich das verbotene Frühstück serviert hatte, zurechtgewiesen hatte. Nach seinen Schilderungen musste es eher ein Zusammenstauchen erster Ordnung gewesen sein.
Anfänglich schienen mir die meisten chirurgisch tätigen Ärzte locker und unkompliziert. Doch allmählich merkte ich, dass alles nur Maske war. Sobald etwas nicht nach Plan lief, gerieten sie sofort aus dem Häuschen und explodierten.
Wirklich gute Chirurgen hatten das nicht nötig.
Endlich wurde auch Scheich Abdullah Bin Suleiman al-Haqqaui aus Saudi–Arabien in den Saal gerollt. Trotz all der von Huber bereits verordneten Medikamente konnte ich keinerlei beruhigende Wirkung erkennen. Die Chirurgen begannen ihre Arbeit trotzdem, ohne lange zu überlegen. Kaum berührten sie allerdings den Verband, meldete sich der Patient lautstark, beinahe ohrenbetäubend schreiend. Als sie sich gar erkühnten, diesen Verband leicht abzulösen, krähte Abdullah aus vollen Leibeskräften, als hätte er überhaupt keine Schmerzmittel bekommen. Er musste selbst im Pausenraum hörbar gewesen sein, denn schon bald erschien Huber mit sorgenvoll zerknirschter Miene.
„Was macht ihr denn da? Ist ja nicht auszuhalten, dieses Geschrei. Das ertrag ich einfach nicht, ich kann nicht sehen, wie jemand so leiden muss!“
Umgehend holte er zusätzliche Ampullen, die er sogleich selbst injizierte und mich dabei von meinem Arbeitsplatz am Kopfende des Operationstisches verdrängte. Wir warteten einen Moment und sahen zu, wie der Patient sichtlich müder wurde. Dann lag der Scheich ruhig da, er schien gar friedlich zu schlafen, war aber trotzdem noch knapp ansprechbar und antwortete eher einsilbig. Sobald sich die Chirurgen allerdings auch nur ansatzweise an seinem Verband zu schaffen machten, erwachte er mit Stöhnen.
„In solchen Fällen, nimmt man als kurzwirksames Anästhetikum Ketalar, das wirkt Wunder“, dozierte Huber.
„Hoffen wir mal, dass da keine lebhaften Träume und Halluzinationen auftreten“, warf ich ein, denn dies waren sehr berüchtigte Nebenwirkungen dieses Medikaments.
„Man muss eben die richtige Dosierung kennen. Ich habe das nach dem Gewicht des Patienten berechnet und da passiert schon nichts“, sprach Huber, injizierte das Mittel und schaute interessiert auf den Scheich, der nun plötzlich ruhig dalag.
Jetzt gelang es, den Patienten zu berühren, ohne dass eine Reaktion erfolgte. Huber nickte zufrieden.
„Na also!“, sprach er triumphierend, drehte sich um und verließ den Saal raschen Schrittes, um seinen Kaffee nicht kalt werden zu lassen.
Der Scheich lag noch immer ruhig und scheinbar unbeteiligt auf seinem Schragen.
Anfänglich traute der Albtraumchirurg der Situation noch nicht. Vorsichtig begann er den Verband aufzurollen. Nichts geschah. Ungewohnt behutsam, als galt es eine Mumie zu enthüllen, löste er den Verband noch etwas weiter ab. Noch immer blieb der Patient ruhig, gab nur ein leichtes Schnarchen von sich. Da fuhren die Chirurgen schon fast wieder in ihrer gewohnten Art und ihrem forschen Tempo weiter.
Doch der Frieden währte nicht lange. Unerwartet und blitzschnell setzte sich der Patient plötzlich auf und begann gleichzeitig laut hinauszuposaunen: „Look at me, I am Superman! I am the greatest!“
Alle Umstehenden blickten erstaunt. Kurze Zeit später stand der Scheich gar auf seiner Operationsliege und präsentierte seinen Bizepsmuskel. Superman wollte zum Fliegen ansetzen, wovon wir ihn mit vereinten Kräften gerade noch abhalten konnten.
„I am flying!“, krächzte er, ohne eine Miene zu verziehen.
Da erkannten auch die Chirurgen das unfreiwillige, komische Talent des Scheichs und konnten ihr Lachen nicht mehr zurückhalten – zumal ja ihr Chef nicht zugegen war.
„Please come back to earth and follow me Superman”, beruhigte ich den Scheich.
„Ok“, murmelte al-Haqqaui leise, und legte sich tatsächlich wieder hin.
Erneut konnte der Verbandwechsel für zwei Minuten fortgeführt werden. Währenddessen war nur ein leises Summen vom Patienten zu vernehmen. Doch plötzlich richtete er sich erneut auf, diesmal aber nicht mehr als Superman-Kopie, nein er tat so, als ob er Gitarre spielte.
„I am Elvis Presley“, verkündete er lautstark und begann unüberhörbar mit seiner Bassstimme „Are you lonesome tonight“ zu singen.
Die Situation war einfach zu grotesk; eine noch nie dagewesene Vereinigung von Orient und Okzident. Der saudi-arabische Scheich kniete im Spitalhemd auf dem Operationstisch mit halb eingebundenen Beinen, trug anstelle des klassischen Turbans ein grünes Operationshäubchen und versuchte wie Elvis zu singen. Sein Hüftschwung war ganz passabel, alleine die Qualität des Gesanges ließ zu wünschen übrig.
Inzwischen hatte sich der Operationssaal mehr und mehr mit Personal aus den benachbarten Räumen gefüllt. Nur Huber ließ sich nicht mehr blicken.
„Von wegen keine Halluzinationen“, meinte ich schmunzelnd zu Anita, die sich nicht mehr beherrschen konnte und laut lachte. Das irritierte den Scheich wohl doch ein wenig.
„Do you think I am crazy?”, fragte er, etwas scheu.
Anita wäre es zuzutrauen gewesen, die Frage zu bejahen. Ich musste ihr mit der Antwort zuvorkommen.
„Listen, Elvis was a Superman and I don’t want to be cruel, to say Elvis-Fans are crazy. But, now or never, we need less conversation for the operation.”
Der Elvis-Fan nickte, doch es bereitete ihm sichtlich Mühe, die Augen offen zu halten. Es war ein herzerwärmendes Bild, wie er so dalag.
„Do you want to be my Teddybear?”, fragte er zu Anita gewandt.
Sie schmunzelte. Eine Antwort war indessen nicht mehr nötig, da der Scheich kurz einnickte.
Nach einer kurzen Pause sammelte sich Abdullah wieder.
„And now a hit from the Beatles, do want to hear the Beatles?“, fragte er.
„Let it be!“, teilte ich ihm mit und schüttelte den Kopf.
„What about Simon and Garfunkel?“, fragte er schließlich, nun mit etwas schleppender Stimme.
„We prefer silence without sound“, antwortete ich.
„See you later aligator“, meinte Scheich Abdullah mit traurigem Blick.
„After a while, crocodile“, lächelte ich ihm zu.
Danach verfiel er in einen stundenlangen Tiefschlaf. Das halluzinogene Kurzzeitmedikament war nicht mehr wirksam, dafür alle anderen Narkosemittel, die wir verabreicht hatten, und so konnte der skurrilste und auch unterhaltsamste Verbandwechsel, den ich je erlebt hatte, problemlos beendet werden.
Der Frischoperierte befand sich im Tiefschlaf, als wir ihn aus Saal 5 rollten. Huber lief uns über den Weg, musterte den Patienten zufrieden und meinte