Die Rückseite der Wahrheit. Riccardo del Piero
eine wunderbare Gelegenheit, um ins Gespräch zu kommen. Ich erzählte ein weiteres Mal die amüsante Geschichte aus dem OPS und konnte mich dabei an ihrem beeindruckenden Gesicht aus nächster Nähe sattsehen. Mir fiel auf, wie lebhaft ihre Mimik war. Schon bald begann sie selbst wieder zu lachen, die Verärgerung über ihre Kolleginnen von eben schien verfolgen. Ihr Lachen war erfrischend herzhaft und trotzdem nicht zu laut.
Ihre Augen hielten den Blickkontakt zu mir jeweils kurz und schweiften dann rasch wieder überall hin ab, vor allem immer wieder auf das Krankenblatt des Scheichs, der sie offensichtlich doch stark beschäftigte. Schließlich trug sie die Schmerzmittelverordnung ein.
„Tja, dann muss ich wohl weiter“, erklärte ich, da mir einfach nichts Passendes mehr einfiel, um die Unterhaltung fortzusetzen, und das Traumgesicht blickte etwas verlegen zur Seite. Schließlich verließen wir gemeinsam das Stationszimmer. Die anderen Schwestern waren damit beschäftigt ihren Patienten das Abendessen zu bringen. Da erblickten wir beinahe gleichzeitig am anderen Ende des langen Ganges den Albtraumchirurgen, der uns entgegen kam.
Sie atmete unwirsch aus. „Dieser Chirurg ist ein Albtraum für mich!“, raunte sie mir zu, erschrak aber wohl selbst ein wenig über ihre Äußerung, kannten wir uns doch erst seit einigen Minuten.
„Nicht nur für euch“, antwortete ich, während sie bereits das Essen des Scheichs aus dem großen fahrbaren Essenswagen nahm. Als sie mit dem Tablett ins Privatzimmer des Scheichs eintreten wollte, kreuzte der Alptraumchirurg ihren Weg.
„Jetzt dürft ihr ihm das Essen servieren“, witzelte er, „aber bitte nicht vor der Operation, merken wir uns das doch mal bitteschön.“
So langsam ging mir dieser Typ mit seinem unmöglichen Verhalten richtig auf die Nerven.
Ich wartete ziemlich lange auf den Lift. Als ich endlich eintreten konnte, stieg leider auch der Alptraumchirurg zu. Wir waren alleine im Lift, und noch bevor sich die Türe schließen konnte, begann er, wie befürchtet, auf mich einzureden.
„Jetzt muss ich dir den Witz weitererzählen: ‚Da treffen sich also zwei in einer Bar‘, nicht wahr, das hatten wir schon?“
„Ja, sicher.“
„Kurz, ‚sie fühlen sich gegenseitig voneinander angezogen, und im Verlaufe des späteren Abends gehen sie zu ihr nach Hause. Sie verbringen die Nacht miteinander und am Morgen nach dem Aufwachen, sagt er zu ihr …‘“
Hier endete seine Erzählung bereits wieder, denn der Fahrstuhl hielt und Professor Caminada, der Chefarzt der Chirurgie, stieg zu. Dies hinderte selbst den Albtraumchirurgen, der sich sonst kaum je in seinem Redefluss hemmen ließ, an der Fortsetzung seiner Erzählung. Von diesem Moment an sprach niemand mehr ein Wort im Lift, und so war ich froh, bald aussteigen zu können. Auf die Pointe des Witzes war ich inzwischen nicht mehr besonders gespannt. Die war wohl, wie bei allen Scherzen dieses Chirurgen, für ihn selber am komischsten.
Zu den letzten Aufgaben des Tages gehörte es, alle meine Patienten, die morgen operiert würden, zu besuchen. Schließlich folgte die Vorbesprechung des kommenden Operationstages mit den Oberärzten. Die Narkoseverfahren wurden festgelegt. Die Besprechung dauerte meist nur kurz, und danach war Feierabend. Diesmal widersprachen Huber und sein blasser Kollege meinen Vorschlägen nicht, und ich machte mich beschwingt auf den Weg zu meiner Garderobe. Dabei legte ich einen kleinen Umweg ein über die Station, wo sich der Scheich befand. Natürlich ging ich den weiteren Weg nicht in erster Linie wegen al-Haqqaui, sondern ich hielt nach meinem Traumgesicht Ausschau. Nachdenklich schritt ich langsam an den Zimmern entlang und sang gut gelaunt ‚It`s now or never‘ leise vor mich hin. Natürlich tönte es nicht besonders. Ich konnte nicht singen.
Am Ende des Ganges hielt ich an, um etwas Zeit zu gewinnen, denn von ihr sah ich nirgends eine Spur. ‚Die Tagesschicht ist natürlich schon beendet, da sind die meisten zu Hause‘, dachte ich enttäuscht.
Indessen tat ich so, als würde ich ein an der Wand aufgehängtes Bild genauer betrachten. Mein Song war bereits zu Ende, da mir der Text nicht mehr in den Sinn kam. Plötzlich hörte ich ein Geräusch hinter mir, drehte mich reflexartig um und blickte geradewegs in das lachende Gesicht des Scheichs. Er schien schon wieder recht munter und hatte meinen Gesang peinlicherweise gehört.
„Nett, Ihr Gesang“, meinte er, „aber das Original ist eben doch am schönsten!“
Eine halbe Stunde später war ich im Saal des Fechtclubs Zürich. Der Club befand sich bei der Allmend Brunau am Fuße des Uetlibergs am anderen Ende der Stadt, und dieser lange Weg war nicht eben motivationsfördernd. Seit Wochen hatte ich mich hier nicht mehr blicken lassen. Meist fühlte ich mich nach der Arbeit zu müde. Doch kaum war ich in meinen weißen Schutzanzug geschlüpft, so freute ich mich riesig aufs Fechten. Natürlich wollte ich auch wieder mal richtig Dampf ablassen.
Ich traf zuerst auf Peter, meinen Lieblingsfechtpartner, den ich schon seit Jahren kannte und mit dem ich schon viele Turniere besucht hatte. Peter studierte Germanistik und hatte viel freie Zeit.
Nach einer halben Stunde mündlichen Aufwärmens setzten wir uns endlich die Masken auf und packten die Degen aus der Sportstasche mit dem roten Schottenmuster.
Ich verlor einen Trainingskampf nach dem andern. Auch die Vorstellung, unter der Maske meines Trainingspartners stecke Huber, änderte daran nichts. Irgendwie fühlte ich mich nicht so richtig bei der Sache, und zwischen den Gefechten kam mir für kurze Momente immer wieder das Traumgesicht in den Sinn. So beschloss ich, mich in den Zuschauerraum zu setzen und trank Orangensaft. Bald setzte sich auch Peter dazu.
„Du kommst doch sicher auch mit zum Skiweekend des Clubs ins Toggenburg?“, fragte mich Peter.
„Geht leider nicht, ich habe dann Notfalldienst. Mich ärgert das natürlich ganz besonders. Du weißt ja, Ski fahren ist mein absoluter Lieblingssport und kommt sogar noch vor dem Fechten.“
„Das ist wirklich sehr schade. Kommst du vielleicht im April zum Turnier nach Genf?“
„Mal sehen, bis April habe ich noch nicht geplant.“
Die Vorstellung, ein ganzes Wochenende in einer Turnhalle in Genf zu verbringen, erfüllte mich nicht eben mit Begeisterung.
In jenem Moment merkte ich, dass ich mich im Fechtclub nicht mehr so ganz zu Hause fühlte. Es war nicht mehr so wie früher. Der Elan, die Begeisterung, das Feuer brannte nicht mehr wie einst. Noch vor kurzer Zeit hätte ich für das internationales Turnier in Genf blindlings zugesagt.
„Weißt du, ich bin schon den ganzen Tag über im Operationssaal, da würde ich am Wochenende gerne mal ein bisschen frische Luft schnuppern. Zum Skifahren, da wäre ich selbstverständlich mitgekommen, wenn ich freigehabt hätte. Ich glaube für den Sommer muss ich mir einen Outdoorsport suchen. Reiten vielleicht, das würde mir gefallen.“
Diese Idee kam mir mit einem Male in den Sinn, und da wurden alte Kinderträume in mir wach. Von klein auf wollte ich reiten. Den Wunsch konnte ich mir nie erfüllen, doch er schlummerte noch immer in mir. Früher meldete sich mein Kindheitstraum vom Reiten jeden Frühling und das so sicher, wie das Murmeltier aus dem Winterschlaf erwacht. Doch in den letzten Jahren war mein Traum offenbar etwas eingeschlafen.
„Reiten, das wäre toll!“, wiederholte ich begeistert. „Das wollte ich schon von klein auf. Doch immer ist etwas dazwischengekommen, und ich fand nie jemanden, der mit mir mitgekommen wäre. Was meinst du, würdest du da auch mitmachen?“
Peter überlegte kurz.
„Reiten, meinst du? Ich glaube, das ist nicht so ganz meine Sache. Ich denke, ich bleibe beim Fechten, zudem spiele ich auch ab und zu noch Fußball.“
„Sehr schade, aber überlege es dir nochmals. Ich hoffe doch noch jemanden für das Reiten begeistern zu können, damit es kein Traum bleibt.“
„Wenn es keine Albträume sind, haben Träume ja so viel Schönes und Unverbindliches und müssen gar nicht in Erfüllung gehen, sonst wären es ja keine Träume mehr“, antwortete Peter nüchtern sachlich.
Typische Antwort eines Germanistikstudenten, dachte ich.