Die Rückseite der Wahrheit. Riccardo del Piero

Die Rückseite der Wahrheit - Riccardo del Piero


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Das war mal wieder eine Lektion, wie man die Medikamente richtig mischt. Du musst eben noch viel lernen!“

      Diesmal gelang es Anita gerade noch, ihr Lachen zu unterdrücken, während ich das Bett schnell weiterschob und Huber zunichte, ohne die Mundwinkel zu verziehen.

      „Effektiv, das war eine eindrückliche Lektion. Wir alle sollten immer wieder dazulernen!“

      Beim Mittagessen in der Kantine erzählte ich die Geschichte eben zum zweiten Male, da sich laufend Kollegen zu uns an den Tisch setzten und wieder lachte die Runde mitsamt der Kollegen vom Nachbartisch. Nur Huber und sein blasser Oberarztkollege, der auch nicht viel besser war, saßen so weit weg von uns, dass sie nichts hören konnten. Die beiden wirkten wenig amüsiert.

      Ausnahmsweise wurde an diesem Tag weniger operiert als sonst, so konnte unser Anästhesieteam die Mittagspause etwas ausdehnen. Es waren fast nur noch Chirurgen und Anästhesisten in der Kantine, als ich mir einen Kaffee und ein Erdbeertörtchen holte.

      Da setzte sich der Alptraumchirurg zu uns, ohne zu fragen, direkt neben Anita, die rasch etwas beiseite rückte.

      „Das Essen habt ihr wohl besser im Griff als die Narkose bei einem Scheich. Muss bei denen wohl besonders schwierig sein; vielleicht solltet ihr es mit Feuerwasser probieren oder auf die gute alte Bleihammermethode setzen.“

      „Das werden wir gleich jetzt bei dir ausprobieren, wenn du uns weiter solche Patienten servierst“, konterte ich.

      „Gegen Feuerwasser ist nichts einzuwenden. Doch Spaß beiseite“, beruhigte der Alptraumchirurg, „ich muss euch unbedingt einen Witz erzählen, da werdet ihr euch totlachen.“ Dabei klopfte er sich kurz auf die Schenkel und holte aus: „Da treffen sich zwei in einer Bar, ein junger Mann und eine attraktive junge Frau“, vielsagend schmunzelnd, blickte er zu Anita. „Die beiden finden sich sehr sympathisch, nach jedem Glas noch etwas mehr. Nach Mitternacht entschließen sie sich, die Nacht bei ihr zu verbringen.“

      Weiter kam er mit seiner Erzählung nicht mehr, da sein Sucher piepste und er sogleich wegen eines Notfalles die Kantine wieder verlassen musste.

      Am späteren Nachmittag besuchte ich, wie jeden Abend, all meine frisch operierten Patienten. Postmedikationsvisite nannten wir das, denn häufig gab es noch etwas zu verordnen, zur Kreislaufstabilisierung oder vor allem gegen die Schmerzen. Danach sahen wir die Operierten dann aber meist nicht mehr, außer, wenn sie sich einem weiteren Eingriff unterziehen mussten.

      Es dürften große Strecken sein, die ich auf all diesen Visiten zurücklegte. Schier endlos lang waren die Gänge im Universitätsspital mit all den Nebengebäuden und Anbauten. Ich hatte dabei ausreichend Zeit über meine Patienten nachzudenken, und natürlich war ich auf den Ölscheich besonders gespannt. Auf der Station FO III angelangt, traf ich erneut auf den Alptraumchirurgen. Er begleitete den Chefarzt auf der Visite, ein ungünstiger Moment, um den Witz fortzusetzen, stattdessen grinste er breit mit angedeutetem Kopfnicken und hob die Hand locker zum Gruß, während der Chefarzt stur geradeaus schaute.

      Ich atmete erleichtert auf.

      Gedankenverloren passierte ich das Stationszimmer FO III, den Raum der Krankenschwestern. Beiläufig schaute ich durch die gläserne Trennwand ins Innere des Zimmers, da geschah etwas derart Eigenartiges, wie ich es in meinen bisherigen 27 Jahren noch nie erlebte hatte. Es sollte mein Leben von einem Moment zum andern verändern.

      Direkt hinter der Scheibe stand eine großgewachsene, blonde Krankenschwester, die ich aus dem Augenwinkel wahrnahm. Ich drehte meinen Kopf unwillkürlich in diese Richtung und schaute direkt in ihre Augen, in die Augen einer unbekannten Schönheit. Und es geschah das Unerklärliche. Auf einen Schlag befand ich mich in Trance und sah in eine andere, mir unbekannte Welt. Mit diesem Anblick war ich verzaubert.

      Ihr Blick. Er widerspiegelte eine solch süße Offenheit, dass es nur natürlich war hinzuschauen, und ich konnte auch gar nicht anders.

      Ihr Gesicht. Es war schlicht ein Traum. Es hübsch zu nennen, wäre eine glatte Untertreibung gewesen. Es war die absolute Schönheit, gepaart mit weiblich, anmutiger Ausstrahlung voller Charme und noch viel, viel mehr.

      Das Traumgesicht lächelte sanft, nur dezent, nur angedeutet, aber umso strahlender. Kraftvoll leuchtend wie ein Sonnenaufgang. Ihr Lächeln war nur für mich bestimmt und berührte mich mitten in meinem Herzen. Nie zuvor hatte ich ein solch intensives Gefühl der Zuneigung erlebt. Ein metaphysisches Schaudern aus dem Nichts traf mich völlig unvorbereitet, und in diesem kurzen Moment kristallisierten sich alle positiven Emotionen. Es kam mir wie eine kleine Ewigkeit vor.

      Dann senkte sie ihren Blick, schaute auf den Apfel in ihrer Hand und blickte nochmals kurz zu mir auf. Ihre blauen Augen funkelten nun geheimnisvoll unergründlich und es schien, als wollten sie eine Geschichte erzählen. Danach wandte sie sich ab und entschwand.

      Ich träumte weiter von der schneeweiß gekleideten Gestalt mit den wunderschönen honigblonden Haaren und bemerkte erst etwas später, dass ich schon eine Weile vor der Glaswand stehen geblieben war und alles um mich herum völlig vergessen hatte. Ich holte tief Luft, denn wahrscheinlich hatte ich während dieser atemberaubenden, magischen Begegnung tatsächlich auch das Atmen vergessen.

      Leicht verlegen, aber glücklich ordnete ich meine Gedanken. Es dauerte einen weiteren kurzen Moment, bis ich wusste, wohin ich ursprünglich wollte. Da ich noch zu verwirrt war, ging ich nicht direkt zum Zimmer des Scheichs, sondern schritt den Gang weiter entlang, dehnte meinen Spaziergang etwas aus um mich wieder zu sammeln. Erst als sich mein Puls wieder etwas beruhigt hatte, kehrte ich um und trat ins Zimmer meines orientalischen Patienten.

      Er schien gut gelaunt zu sein und antwortete auf alle Fragen ganz angemessen. So merkte ich rasch, dass er sich an gar nichts mehr erinnern konnte, was im Operationssaal geschehen war. Al-Haqqaui war zwar noch etwas müde und erwähnte leichte Beinschmerzen, aber sonst ging es ihm wieder sehr gut.

      Als ich gehen wollte, bemerkte ich auf dem Tischchen neben dem Bett einen Stapel CDs.

      „Sie mögen Elvis? Heut habe ich ‚are you lonesome tonight gehört‘.“, erzählte ich.

      „Das ist genau mein Lieblingssong!“, bemerkte der Scheich leicht verwundert, „Elvis singt einfach einmalig, niemand hat ihn je übertroffen.“

      „Da haben Sie vollkommen recht; es geht eben nichts über das Original!“, verabschiedete ich mich und begab mich Richtung Stationszimmer, um ein etwas stärkeres Schmerzmittel zu verordnen. Sehnlichst hoffte ich, dort mein Traumgesicht von eben anzutreffen. Vor der Türe vernahm ich ein Stimmengewirr vermischt mit Lachen. War das der Klang ihres Lachens?

      „Pass auf, dass du nicht in seinem Harem landest!“, hörte ich eine sich überschlagende, prustende Stimme, danach erneutes Kichern.

      Als ich eintrat, sah ich im hinteren, etwas abgetrennten Teil des Stationszimmers vier junge Frauen in weißer Berufskleidung. Sie alle schienen belustigt zu sein, außer einer. Sie stand etwas abseits, wirkte leicht verärgert und hatte einen leicht roten Kopf. Es war sie mit dem faszinierenden Traumgesicht. Selbst in ihrer offensichtlichen Verlegenheit ein wunderschöner Anblick! Ich hatte sie wiedergefunden! Sie stand mir nun ganz nah, ohne trennende Glasscheibe, gegenüber und ich blickte zum zweiten Mal direkt in ihre Augen. Automatisch beschleunigte sich mein Puls.

      Das Lachen im Raum verstummte, und alle Blicke richteten sich auf mich. Um die unangenehme Situation zu überbrücken, begann ich etwas verlegen mit meiner Verordnung für den Elvis-Fan. Beinahe versagte mir die Stimme.

      Welch ein Glück, als ich erfuhr, dass mein Traumgesicht für den Scheich zuständig war. So konnte ich mich also direkt an sie wenden und mit ihr ins Gespräch kommen. Unter erneutem Kichern verließen zwei Krankenschwestern schließlich das Zimmer. Ich war nun alleine mit zwei jungen Damen, hatte aber nur Augen für die eine, natürlich für sie mit dem faszinierenden Gesicht.

      Sie schien erleichtert zu sein, als die andern gegangen waren.

      „Es ist lustig hier. Ist das alles wegen des Scheichs?“

      „Ja, aber ich finde das nur begrenzt zum Lachen. Im Moment frage ich mich eher, was


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