Täterland. Binga Hydman

Täterland - Binga Hydman


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Pferdeställen hinüber.

      Es kam so, wie es Freiherr von Amsfeld vorausgesagt hatte. Nachdem Hitler das von Großbritannien und Frankreich gestellte Ultimatum für einen Rückzug aus Polen verstreichen ließ, erklärten die beiden Großmächte am 3. September 1939 dem Deutschen Reich den Krieg. Polen hatte der hochgerüsteten und modernen deutschen Wehrmacht nichts entgegenzusetzen. Bereits am 17. September zerschlugen Verbände der Wehrmacht große Teile der hoffnungslos unterlegenen polnischen Armee. Zeitgleich überschritten starke russische Truppenverbände die polnische Ostgrenze und machten sich daran Ostpolen zu besetzen. Die Aufteilung des polnischen Staatsgebietes war nur einen Monat zuvor zwischen Deutschland und der Sowjetunion in einem geheimen Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin Pakt vereinbart worden. Jetzt machten sich die beiden Aggressoren daran, diesen Plan in die Tat umzusetzen. Am 27. und 28. September wurde Warschau eingeschlossen und durch deutsche Truppen erobert. Die letzten polnischen Truppen kapitulierten am 6. Oktober und das bedeutete das Ende des Polenfeldzuges.

      Etwa 120.000 polnische Soldaten kamen bei den Kämpfen ums Leben und knapp 920.000 traten den Weg in die Gefangenschaft an. Aber auch 10600 deutsche Soldaten kamen während dieses sogenannten „Blitzkrieges“ ums Leben. Für den Polenfeldzug hatte das Oberkommando der deutschen Wehrmacht insgesamt zwei Heeresgruppen aufgestellt. Die Heeresgruppe Nord bestand aus einer Panzer-Division, sowie einer gemischten Wehrmacht- und SS-Panzer-Division. Außerdem waren zwei motorisierten Divisionen, sechzehn Infanterie-Divisionen und eine Kavallerie-Brigade an den Kämpfen beteiligt. Die Heeresgruppe Süd hingegen setzte sich aus vier Panzer-Divisionen, vier leichten Divisionen, einundzwanzig Infanterie-Divisionen und drei Gebirgs-Divisionen zusammen. Zwei Infanterie-Divisionen des XVII. Korps waren slowakisch, während zum XIII. Korps das motorisierte SS-Infanterie-Regiment Leibstandarte Adolf Hitler gehörte. Diesem Regiment, dem auch Martin von Amsfeld angehörte, war dem Befehlshaber der 8. deutschen Armee General Johann Blaskowitz unterstellt und nahm an den schweren Kämpfen um Warschau teil.

      Insgesamt kamen im Polenfeldzug 108 Männer der Leibstandarte ums Leben und auch sein Kamerad aus der Poststelle in Berlin, Henrich Göring verlor bei den Kämpfen um die polnische Hauptstadt sein Leben. Martin hatte einfach Glück gehabt. Während eines Gefechtes schlug direkt neben ihm und Göring eine polnische Granate ein. „Volle Deckung!“, hatte der Zugführer ihnen noch zu gebrüllt, als auch schon der Einschlag erfolgte. Martin, der sich hinter die Reste einer gemauerten Häuserwand geworfen hatte, spürte, wie die Erde unter der Wucht der Detonation des großen Projektils erzitterte. Staub und Dreck flogen durch die Luft, während Fensterscheiben zerborsten und die Mauern der Häuser um sie herum einstürzten. Als Martin die Augen wieder öffnete und den Kopf aus dem Schutt hob, blickte er in die toten leeren Augen seines Kameraden Göring. Den Rottenführer war durch ein Schrapnell der halbe Kopf weggerissen worden, so dass sein Gehirn über das Geröll verteilt worden war. Dieser Anblick war fürchterlich und Martin würde ihn niemals vergessen. Ihm konnte zu diesem Zeitpunkt nicht klar sein, dass er in den nächsten fünf Jahren noch weitaus schlimmeres sehen würde.

      Auch in dem pommerschen Dorf Amsfeld änderte sich das bisherige Leben in diesem September 1939. Der Ortsgruppenleiter Matuschek erhielt durch die Kreisleitung der NSDAP umfangreiche Vollmachten und wurde so quasi über Nacht zum Alleinherrscher des Dorfes. Seinen Anordnungen musste jeder Dorfbewohner uneingeschränkt Folge leisten und die Befehle, die er nun auf die verdutzten Bürger niedergehen ließ, zeigten bereits die ganze Brutalität des Regimes. „Alle Männer des Dorfes haben sich morgen um sechs Uhr auf dem Marktplatz einzufinden, um den Keller des Parteigebäudes zu einem Luftschutzraum auszubauen und das Mauerwerk mit Sandsäcken zu verstärken!“ Matuschek versuchte nicht einmal, zu verbergen, dass diese Maßnahme keinen gesellschaftlichen Wert hatte, sondern nur seine persönliche Sicherheit erhöhen sollte. „Das verdammte Schwein lässt uns buckeln, um seinen eigenen Hintern zu schützen,“ fluchten einige der Männer hinter vorgehaltener Hand, während sie Sandsack um Sandsack füllten. Zusätzlich wurden an den Fenstern der Häuser Verdunkelungsmaßnahmen angebracht und Dutzende Wassereimer in die Hausflure gestellt, um Brände nach Bombentreffern löschen zu können. „Als ob irgendein feindlicher Flieger einen militärischen Nutzen darin sehen könnte unser Dorf zu bombardieren. Diese schwachsinnigen Maßnahmen sind geradezu lächerlich“, stellte Paul Gerhard eines Abends verbittert fest. Helene und er warteten immer noch auf ein erstes Lebenszeichen ihres Sohnes, der nach dem Abschluss der Kampfhandlungen in Polen zurück in das Reichsgebiet verlegt worden war.

      Die Unterkünfte in der alten Kaserne waren miserabel. Die dreistöckigen Gebäude aus der Kaiserzeit hatten schon einmal bessere Zeiten gesehen. An den Wänden der schmucklosen Stuben hatte sich durch Feuchtigkeit der Schimmel ausgebreitet und zum Teil waren die Fensterscheiben zersprungen, so dass der Regen leichtes Spiel hatte in das Gebäude einzudringen. Kleine Pfützen standen auf dem maroden Holzfußboden, der an einigen Stellen bereits aufgequollen war. „Was für ein Drecksloch!“, zischte einer der Männer wütend. Einige seiner Kameraden nickten zustimmend, andere waren einfach zu müde, um sich noch über den desolaten Zustand der Räume aufzuregen. Auch Martin blickte sich angewidert um. Schließlich legte er seine MP 40 und das Marschgepäck neben eines der klapprigen Betten und ließ sich dann ausgelaugt und müde auf die schmuddelige Strohmatratze fallen. „Wie lange sollen wir hier bleiben?“, fragte er seinen Bettnachbarn. „Wir werden morgen jeder unseren neuen Verbänden zugewiesen. Insofern rechne ich damit, dass es erst in ein paar Tagen weitergeht“, murmelte der Mann. Martin zündete sich eine Zigarette an. „Hast Du schon eine Ahnung wo sie Dich hinschicken werden?“ „Nein, aber ich vermute, dass man einige von uns in der Leibstandarte nicht mehr benötigt.“ Am anderen Ende der maroden Stube setzte ein Schnarchen ein. Viele der SS-Männer waren praktisch schon im Stehen eingeschlafen. Müde war Martin auch, aber sobald er die Augen schloss, sah er den zerfetzten Hinterkopf seines Kameraden Göring vor sich. Seit ihrer Rückführung aus Polen hatte er nur acht bis zehn Stunden geschlafen und war dementsprechend fertig. Dennoch kam er innerlich nicht zur Ruhe und versuchte es jetzt mit Alkohol. In seiner verdreckten Hand hielt er eine Flasche billigen Branntwein, die er bereits bis zur Hälfte geleert hatte. „Gib mal rüber den Kelch“ Martin reichte die Flasche an seinen gegenüber weiter. Langsam fühlte er, wie sich die angenehme Wärme des Alkohols in seinem Körper ausbreitete und ein beglückender Nebel von seinem Gehirn Besitz ergriff. Vor einigen Monaten hatte er seinen Dienst in der Stabspoststelle der Leibstandarte gegen den eines Infanteristen wechseln müssen. Vorbei war es mit der bequemen Büroarbeit gewesen. Stattdessen hatte er seine Zeit wieder auf Truppenübungsplätzen und Standortschießanlagen verbracht.

      In seiner neuen Funktion als stellvertretender Zugführer war er für die militärische und weltanschauliche Ausbildung seiner Soldaten verantwortlich. Seitdem er in der Poststelle ein Schreiben an den SS-Reichsarzt gelesen hatte, das die planmäßige Massentötung von Patienten zum Inhalt gehabt hatte, war sein Weltbild und seine nationalsozialistische Gesinnung in Mitleidenschaft gezogen worden. Der junge Adelige versuchte, jetzt nicht weiter durch überschwängliche Regimetreue aufzufallen. Es kam ihm manchmal so vor, als wäre er aus einem bösen Traum erwacht. Wieder dachte er an seinen Vater. Der alte Herr hatte in allem Recht gehabt und er, Martin, war ein Teil des Übels. Die Scham übermannte ihn und er kippte sich eilig den Rest des Brandweins in den Schlund. Vergessen, dachte er. Ich will nur nicht mehr nachdenken müssen.

      Am nächsten Morgen wurden die Männer schon früh geweckt. Der Spieß, ein bulliger SS-Hauptscharführer der es im zivilen Leben immerhin zum Vorarbeiter in einer Molkerei in Niedersachsen gebracht hatte, ließ die Männer vor dem Gebäude antreten. Es regnete mal wieder und Martin und die anderen SS-Männer hatten sich ihre Helme tief ins Gesicht gezogen. „Männer!“, brüllte der Spieß gegen den Platzregen an. „Ich verlese nun die Namen derjenigen, die in eine neue Einheit versetzt werden. Merkt Euch, dass wir SS-Angehörige dort kämpfen, wo man uns hinstellt. Wir stellen keine Fragen, sondern führen jeden Befehl aus!“ Die Männer schwiegen und er begann die Namen auf seiner Liste zu verlesen. An zehnter Stelle fiel Martins Name. „Scharführer von Amsfeld – 1. SS Totenkopf-Standarte „Oberbayern“. Sie werden mit sofortiger Wirkung nach Dachau versetzt. Im Anschluss an diese Musterung empfangen Sie ihre Marschpapiere beim mir!“ Martin schlug die Hacken zusammen. Er konnte nicht ahnen, was diese Versetzung für sein weiteres Leben bedeuteten würde.

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