Täterland. Binga Hydman

Täterland - Binga Hydman


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Murmelte er dabei und spritze sich etwas Wasser in das verkaterte Gesicht. Martin nutzte die Gunst der Minute und verschloss den roten Aktendeckel wieder. Dann legte er ihn auf den großen Stapel der bereits erledigten Ausgangspost und widmete sich wieder seiner Arbeit.

      An diesem Abend war Martin nicht nach Geselligkeit zu Mute. Seine Kameraden forderten ihn zwar auf, sie wie üblich in die Kantine zu begleiten, aber er hatte keine Lust dazu gehabt. Allein lag er auf seiner schmalen Pritsche und blickte gedankenverloren an die grau getünchte Decke des Zimmers. Immer und immer wieder tauchten vor seinem geistigen Auge die Zeilen des Briefes auf, den er verbotenerweise gelesen hatte. „Aktion T4“ hämmerte es in einem Kopf, was war das für ein geheimes Unternehmen? Offensichtlich ging es um den Transport von Patienten, die am Ende der Reise sterben würden. Aber warum sollten deren Totenscheine gefälscht werden? Was würde die wirkliche Todesursache sein? Martin zermarterte sich sein Gehirn. Er spielte verschiedene Gedankenmodelle durch, die aber alle immer wieder zu dem gleichen Ergebnis führten. Mit dem Wissen des Führers und Reichskanzlers des Deutschen Reiches sollten hier offensichtlich kranke Menschen mit Hilfe von Ärzten heimlich umgebracht werden.

      Martin setzte sich auf und er zog sich seine Decke über die Schultern. Ihm war plötzlich kalt. Das konnte doch nicht sein? Wer würde so etwas tun? Es ist unmöglich, dass der Führer so eine Sache gutheißt! Ja, sicher während ihrer Ausbildung auf dem Unterführerlehrgang war im Rassenunterricht auch über die weniger wertvollen Rassen, wie die Slawen oder Neger gesprochen worden. Man hatte ihnen beigebracht, dass ein Mensch der germanischen Rasse mehr wert war, als einer dieser Untermenschen. Es hatte ihm eingeleuchtet, dass diese Wesen keinerlei wirklichen Wert hatten, und dass der Arier dazu auserkoren ist sie in der Zukunft zu beherrschen. Aber damals hatte niemand davon gesprochen, kranke deutsche Menschen oder Gebrechliche einfach umzubringen. Martin überkam Übelkeit. Durch das offene Fenster hörte er, wie seine Kameraden in der Kantine feierten. Seine Umgebung erschien ihm plötzlich trostlos und abstoßend.

      Plötzlich musst er an seinen Vater denken. Warum das so war, wusste er im ersten Moment selber nicht. Der alte Herr hatte aus seiner Abneigung den Nazis gegenüber nie ein Geheimnis gemacht und Martin erinnerte sich daran, wie häufig ihm das defätistische Gerede seines Vaters in blanke Wut versetzt hatte. Der freigeistige Freiherr und Gutsbesitzer verstand die neue Zeit in der wir Deutschen jetzt leben dürfen einfach nicht. Schon in der Schule hatte man Martin und seine Klassenkameraden gelehrt, dass in der Natur stets nur der Stärkere überlebt, während der Schwächere zu Grunde geht. Sein Vater hatte diese These in Bezug auf den Menschen als unmenschlich und unchristlich abgelehnt.

      Martin schüttelte den Kopf. Wenn nun aber diese „Aktion T4“ tatsächlich vorsah kranke deutsche Menschen umzubringen, war es Mord oder eine notwendige Maßnahme, um die eigene Rasse vor schändlichen Erbschäden zu bewahren und zu beschützen? Das Krakeelen der Männer in der Kantine wurde lauter, es wurde wie jeden Abend gesoffen bis keiner von ihnen mehr stehen konnte. Martin schloss das Fenster und zündete sich eine Zigarette an. Seit einer Ewigkeit hatte er nicht mehr an seinen Vater gedacht. Er erinnerte sich daran, wie er ihn vor ein paar Monaten angebrüllt und einen Judenfreund genannt hatte, nur weil dieser mal wieder etwas gegen die Nazis gesagt hatte. Plötzlich stieg so etwas wie Scham in ihm hoch, und er biss sich auf die Lippen. Er sah die traurigen Augen seines Vaters vor sich, die Fassungslosigkeit in dessen Blick und die Sprachlosigkeit, die seit dem zwischen ihnen herrschte. Sein Vater war nach diesem einen fatalen Wutausbruch Martins zunehmend einsilbiger geworden und hatte seitdem meist geschwiegen, sobald sie zusammen waren. Ich habe ihn gekränkt, beleidigt und belächelt, aber ich habe ihm niemals gesagt, wie sehr ich ihn liebe. Ich habe stets von mir selbst geredet und nie wirklich zugehört. Eine Träne rollte nun über seine Wange. Diese Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag und zum allerersten Mal in seinem Leben verachtete er sich selbst.

      Es war dunkel geworden und die ersten betrunkenen Landser torkelten zurück in ihre Unterkünfte. Martin stand am Fenster seiner Stube und beobachtete wie sie sich in den Armen liegend gegenseitig stützten und über den Kasernenhof führten. Was sollte er nun tun? Konnte er überhaupt noch etwas tun? Sein Blick fiel auf die schwarze Uniformjacke, die er wie immer an seinen Spind gehängt hatte. Du gehörst dazu, schoss es ihm durch den Kopf. Er war Teil des Ganzen und man würde ihn nicht so einfach wieder gehen lassen. Es war zu spät, dachte er und rollte sich wie ein Kind in seine Decke und weinte. Das Monster hatte ihn gefressen.

      *****

      6. Kapitel

      Krieg

      Der 1. September des Jahres 1939 sollte ein warmer Spätsommertag werden. Die Temperaturen sollten nach Aussage des Wetterberichts tagsüber auf über 30 Grad steigen und die allermeisten Menschen freuten sich darüber. Als gegen 04: 30 in der Früh die ersten deutschen Stukas ihre Bombenlast über dem kleinen polnischen Städtchen Wielun abwarfen, würde es noch etwa 10 Minuten dauern bis auch das deutsche Schulschiff „Schleswig-Holstein“ mit ihren Geschützen die polnische Westerplatte bei Danzig unter Feuer nehmen würde. Der Überfall auf das Nachbarland Polen stellte den Beginn des Zweiten Weltkrieges dar und viele Deutsche ahnten, dass ein neuer großer Krieg nicht viel besser für Deutschland enden konnte, als der vorangegangene. Paul Gerhard von Amsfeld war gerade dabei ein paar Fische auszunehmen, als einer seiner Landarbeiter in die Küche des Hauses stürzte. „Krieg! Herr von Amsfeld, wir haben Krieg.“ Der Mann war völlig außer Atem und stand nach Luft ringend vor seinem überrascht dreinblickenden Arbeitgeber. Der alte Gutsherr legte das Messer und einen halbgeöffneten Fisch auf den Tisch zurück. Dann wischte er sich die Hände in einem Handtuch ab und folgte dem Mann auf den Hof hinaus. Die Frauen und Männer, die sich wie jeden Morgen auf die Feldarbeit vorbereiteten, versammelten sich an dem kleinen Brunnen. Es herrschte eine fast greifbare Stille und die Angst der Menschen war unübersehbar.

      Der Blick Paul Gerhards fiel auf die kleine Kapelle. Seit über einem Jahr hatte er in der Gruft unterhalb der Kirche immer wieder Menschen versteckt, die vor den Nazis auf der Flucht waren oder die wegen ihres jüdischen Glaubens mit der Einweisung in ein Konzentrationslager rechnen mussten. Die deutschen Juden waren seit der Einführung der Nürnberger Rassegesetze im Jahre 1935 immer konsequenter, schärferen Repressalien ausgesetzt gewesen. Nahezu rechtlos fristeten diejenigen von ihnen, denen die Flucht ins Ausland nicht mehr gelungen war, ein erbärmliches menschenunwürdiges Dasein. Paul Gerhard von Amsfeld verstand es als seine selbstverständliche und christliche Pflicht, diesen Menschen zu helfen. Erst vor zwei Tagen hatte er fünf Männern zur Flucht in das benachbarte Polen geholfen, um sie vor dem Zugriff der Gestapo zu bewahren. „Schnell, der Führer spricht im Radio.“ Helene winkte den beisammenstehenden Männern und Frauen zu. Sie hatte das Radio auf die Fensterbank gestellt und drehte den Lautstärkeregler auf Maximum. „Polen hat heute Nacht zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch mit bereits regulären Soldaten geschossen. Seit 5: 45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen! Und von jetzt ab wird Bombe mit Bombe vergolten!“ Die schrille Stimme Hitlers hallte über den Hof und ein paar der Frauen begannen lautlos zu weinen. Paul Gerhard dachte an seinen Sohn, der als Angehöriger der SS jetzt ganz sicher irgendwo auf seinen Einsatzbefehl wartete, um in den Krieg zu ziehen. Der Freiherr hatte als Rittmeister im Ersten Weltkrieg gedient und war aus diesem fürchterlichen Gemetzel als ein bekennender Kriegsgegner hervorgegangen. Er hatte gehofft, nicht noch einmal miterleben zu müssen, wie sich die Völker Europas daran machen würden, sich gegenseitig abzuschlachten. Nun war es also sein Sohn, der auf das Schlachtfeld treten würde, um zu töten und versuchen würde zu überleben. „Das kann doch unmöglich stimmen Herr von Amsfeld“. Eine der Mägde blickte in fragend an. „Die Polen sind doch nicht lebensmüde geworden und greifen einen Gegner an, der viel stärker als sie selbst ist.“ Paul Gerhard lächelte die alte Frau an und nickte zustimmend. „Das stimmt Herta. Ich glaube auch nicht daran, dass wir angegriffen wurden, sondern das wir die Polen angegriffen haben“. Diesen verdammten Nazis war schließlich jede Schweinerei zu zutrauen. Diese Irren werden uns in den Abgrund stürzen und dieses Mal wird der Rest der Welt solange weiter gegen uns kämpfen, bis es kein Deutschland mehr geben wird. Für Paul Gerhard war es nur eine Frage von Tagen, bis Frankreich und England dem Deutschen Reich den Krieg erklären würden. Helene war an ihn herangetreten und riss ihn aus seinen Gedanken. „Was wirst Du jetzt tun?“, fragte sie leise. „Nichts Liebes, ich werde nichts tun.“ Resignation klang in den Worten mit. „Wir werden darum beten, dass


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