Täterland. Binga Hydman
saß sie als Abgeordnete für die SPD im Stadtparlament in Rummelsburg, bevor sie 1930 für die SPD in den preußischen Landtag gewählt wurde. Als nächstes stellte sich ein kleiner bereits leicht ergrauter Mann als Willy Riesler vor. Der Sohn eines Droschkenkutschers und gebürtige Stettiner wuchs in ärmlichsten Verhältnissen auf. 1905 trat der gelernte Fuhrmann der SPD bei und wurde schon bald einer ihrer aktivsten Funktionäre in Preußen. Nach dem Ende des 1. Weltkrieges übernahm er die Geschäftsführung des deutschen Metallarbeiterverbands in seiner Heimatstadt. Nur wenig später wurde der bei den Arbeitern sehr beliebte Gewerkschaftsführer in den preußischen Landtag gewählt. Im Zuge der Machtergreifung und anlässlich der Zerschlag der Gewerkschaften durch die Nazis war Riesler am 2. Mai 1933 durch die Gestapo verhaftet worden, wurde aber nach intensiven Verhören zunächst wieder auf freien Fuß gesetzt. Auf das Anraten einiger politischer Wegbegleiter tauchte der ehemalige Abgeordnete nach seiner Freilassung unter und hatte die letzten vier Jahre im Untergrund verbracht. Der dritte SPD-Funktionär war optisch das genaue Gegenteil von dem kleinen und schmächtigen Riesler. Wilhelm Schnepphorst maß knapp zwei Meter und war ein wahrer Koloss. Der große Endvierziger wog mindestens 120 Kilo und seine Hände hatten die Größe von Baggerschaufeln. Schnepphorst blickte auf eine bewegte Vergangenheit zurück. Wie Riesler hatte sich der gelernte Schreiner bereits früh den Sozialdemokraten angeschlossen und war in seiner Heimatstadt Kolberg schnell zu einem der führenden Gewerkschaftsfunktionäre aufgestiegen. In den zwanziger Jahren leitete er bis zum Verbot durch die Nazis den Pressedienst der SPD in Preußen.
Nach einer kurzen Haftstrafe wurde er 1934 freigelassen und tauchte unter. Seit diesem Zeitpunkt hatte er sich bei alten Parteigenossen in Stettin versteckt. Hier war er auch mit Riesler zusammengetroffen. „Und Sie heißen?“ Die Frage richtete Paul Gerhard von Amsfeld an den vierten seiner neuen Gäste. „Ich heiße Herman Schöneberg. Es freut mich Sie kennenzulernen, auch wenn die Umstände unseres Zusammentreffens nicht gerade die angenehmsten sind.“ Schöneberg machte einen Schritt auf seinen Gastgeber zu. „Es freut mich ebenfalls Herr Schöneberg.“
Der fünfundsechzigjährige Rechtsanwalt wirkte in der Umgebung dieses dunklen Verlieses deplatziert. Die Kleidung war die eines typischen Beamten und sein Gehstock mit Elfenbeinverzierung verlieh ihm den Glanz einer früheren bürgerlichen Oberschicht. Der Sohn eines erfolgreichen jüdischen Getreidehändlers aus Stettin studierte nach dem Abitur Jura und erhielt im Jahre 1895 seine Zulassung als Rechtsanwalt und Notar. Im Ersten Weltkrieg war er an der Westfront 1917 bei einem Feuergefecht schwer verwundet worden und hatte daraufhin das Eiserne Kreuz 1. Klasse erhalten. Nach der Niederlage des Deutschen Reiches im Jahre 1918 trat er im Bankhaus Mendelsohn die Stelle eines Syndikus an, die er bis 1933 behielt.
Nach der Machtübernahme durch die Nazis verlor er 1935 kurz nach der Einführung der Nürnberger Rassegesetze seine anwaltliche Zulassung und wurde aus der Anwaltskammer ausgeschlossen. Als ein angetrunkener SA-Trupp an einem Sonntagabend im Jahr 1936 sein Haus stürmte und völlig verwüstete, hielt der überzeugte Junggeselle die Zeit für gekommen sich unsichtbar zu machen. Noch in der gleichen Nacht verschwand er aus seinem Haus und versteckte sich zunächst bei Freunden. Wenig später war Schöneberg dann zu Walter Empbusch gebracht worden.
Als der Morgen dämmerte und die Sonne träge über den Horizont kroch, befand sich Walter Empbusch mit seinem LKW schon auf dem Rückweg. In der Gruft unter der Kapelle hatten sich die neuen Bewohner auf die schmalen Betten gelegt, um sich etwas auszuruhen. Paul Gerhard war gerade dabei die Pferde zu striegeln, als einer seiner Landarbeiter in den Stall trat. „Herr von Amsfeld. Wir würden gern ein paar der alten Weinkisten aus der Gruft herausholen. Unsere Buben wollen sich daraus ein paar Seifenkisten bauen. Spricht etwas dagegen?“ Der Freiherr glaubte, dass ihm für einen Moment das Herz stehen bleiben würde. „Die Kisten habe ich vor einigen Tagen herausgeholt und neben dem großen Schuppen abgelegt. Die Kinder können sich die Kisten dort ruhig wegnehmen.“ Der Landarbeiter nickte dankbar, zog dann aber verwundert die rechte Augenbraue hoch. „Herzlichen Dank. Warum haben Sie die Kisten denn überhaupt aus dem Rattenloch herausgeholt? Das hätten wir doch für Sie erledigen können“, fragte er neugierig. „Das Rattenloch, wie Sie es nennen, ist mit Grundwasser vollgelaufen. Sie wissen doch sicher, dass unter der Kapelle einer Wasserader verläuft.“ Paul Gerhard versuchte möglichst verärgert zu klingen. „Das ist jetzt also kein Rattenloch mehr, sondern eher ein Aquarium.“ Bei diesen Worten zuckte er mit Schultern, so als ob er es sich bei dem vermeintlichen Wassereinbruch um eine Strafe Gottes handelte, gegen die man leider nichts machen konnte. „Ich verstehe. Die Kinder werden sich über das Holz sehr freuen. Besten Dank Herr von Amsfeld.“ Nach diesen Worten drehte sich der Mann um und ging. Eines der Pferde wieherte leise und Paul Gerhard ließ sich müde auf einem Schemel nieder. Das war knapp, dachte er. In Zukunft würde er darauf zu achten haben, dass sich niemand dem Eingang der Gruft nährte.
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Die Grundausbildung war vorbei. Nachdem die SS-Anwärter des 7. Sturms ihren Treueeid auf den Führer und Reichskanzler des Deutschen Reiches abgelegt hatten, erhielten sie in einer feierlichen Abschlusszeremonie ihren SS-Dolch und wurden damit als Mitglied in die SS aufgenommen. Schon ein paar Tage zuvor war ihnen ihre jeweilige Blutgruppe auf den Arm tätowiert worden. Voller Stolz betrachtete Martin den schlanken, blanken Stahl des Dolches auf dem man „Unsere Ehre heißt Treue“ eingraviert hatte. Nun war er also ein echter SS-Mann, ging es ihm durch den Kopf. Als Lehrgangsbester und mit Auszeichnung hatte er die harte entbehrungsreiche Ausbildung hinter sich gebracht. Sein Kompaniechef Fritz Maaßen hielt Wort und schlug ihn für die Laufbahn der Scharführer vor, was den Feldwebeldienstgraden der Wehrmacht entsprach. Er würde schon bald die Unterführer-Schule besuchen. Zunächst aber durften die neuen SS-Männer für ein paar Tage in den Urlaub fahren. Martin und einige seiner Kameraden überlegten, ob sie nicht nach Berlin fahren sollten, um dort mal so richtig die Sau rauszulassen, aber letztendlich wollte dann doch jeder von ihnen zunächst nach Hause zu seiner Familie fahren. Ein Omnibus brachte die Männer am darauffolgenden Tag zum Bahnhof. Nach einer herzlichen Verabschiedung trennten sich ihre Wege. Die ein oder anderen von ihnen würden sich schon sehr bald wiedersehen. Dann allerdings auf einem echten Schlachtfeld, auf dem echte Kugeln über ihre Köpfe hinwegfliegen würden.
Es sollte eine Überraschung für seine Eltern werden. Martin, stieg aus dem Zug der Deutschen Reichsbahn und blickte auf eine der beiden großen Uhren, die in der kleinen Bahnhofshalle aufgehängt worden waren. Es war 13 Uhr. Zunächst hatte er vorgehabt seinen Besuch zu Hause anzukündigen, doch dann überkam ihn der Wunsch, sie zu überraschen. Um 13.30 Uhr ging es dann mit dem kleinen cremefarbenen Omnibus von Rummelsburg nach Amsfeld. Es war ein herrlicher Sommertag, und die Fahrt würde eine knappe Stunde dauern. Dichte Wälder, scheinbar nicht enden wollende Felder und anmutig in die Landschaft eingebettete tiefblaue Seen, zogen an ihm vorbei. Die holperige Straße machte eine leichte Linkskurve und zwischen den Weizenfeldern erkannte er den Kirchturm seines Heimatdorfes. Als er wenige Minuten später durch die Hauptstraße von Amsfeld in Richtung des Gutshofs seines Vaters lief, warfen ihm einige Bewohner verstohlene Blicke zu. In seiner schwarzen SS-Uniform erkannte ihn offenbar nicht jeder sofort. Der ein oder andere Bekannte grüßte verlegen, während einige Bewohner demonstrativ so taten, als hätten sie ihn nicht gesehen. Nach wenigen Minuten erreichte er das elterliche Gut. Auf dem großen Hof sah alles aus wie immer. Nur der Eingang zu der Gruft der kleinen Kapelle schien von Unkraut und wucherndem Efeu befreit worden zu sein.
Er wollte gerade die große Eingangstreppe des Wohnhauses hinaufgehen, als er seine Mutter entdeckte. Helene trug eine leuchtend rote Schürze und hielt einen Besen in der Hand. „Hallo Mutter.“ Die Frau zuckte erschrocken zusammen. Dann erkannte sie ihren Sohn. „Mein lieber Junge!“, rief sie, ließ den Besen fallen und stürzte auf ihn zu. Der typische süßliche Duft seiner Mutter, den er schon als Kind so geliebt hatte, stieg ihm in die Nase, als sie ihn mit Tränen in den Augen in ihre Arme schloss. „Das ist aber eine Überraschung.“ Ihr Finger strich sanft über seine Wange. „Ich habe ein paar Tage Urlaub bekommen, bevor ich wieder nach Lauenburg muss.“ Seine Mutter wischte sich ihre Hände in der Schürze ab und fuhr sich dann durch ihr langes blondes Haar. „Komm erst einmal herein. Du wirst sicher Hunger haben.“ Sie ergriff seine Hand und zog ihn mit sich in die große Küche des Hauses. Am frühen Abend hörte Martin das Geräusch eines Autos. Neugierig schob er die Gardine beiseite und blickte hinaus. Er erkannte den grünen Opel Kadett