Täterland. Binga Hydman
und Martin konnte sehen, wie sein Vater einige Pappkartons aus dem Kofferraum herausnahm und sie in den Stall brachte. „Guten Tag Vater.“ Der alte Mann fuhr erschrocken herum und hätte dabei fast einen der Kartons fallen lassen. „Hallo Sohn.“ Die beiden Männer standen sich in einem Abstand von einem Meter gegenüber und musterten sich. Dann machte der Vater einen Schritt auf den Sohn zu und gab ihm die Hand. So standen sie eine Weile schweigend da, bis Martin durch einen Schritt rückwärts den alten Abstand zwischen ihnen wiederherstellte. Der Blick seines Vaters glitt über die schwarze Uniform und Martin meinte in den Augen seines Vaters eine gewisse Abneigung gegen das schwarze Tuch zu erkennen. In den letzten zwei Jahren hatten sich Vater und Sohn immer weiter voneinander entfernt und auseinandergelebt. Wie in so vielen anderen deutschen Familien in Deutschland, war es in der Vergangenheit auch im Haus von Amsfeld immer häufiger zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Vater und Sohn gekommen. Der liberale und der Demokratie gewogene Freiherr hielt mit seiner ablehnenden Haltung den Nazis gegenüber nicht hinter dem Berg, während Martin sich immer mehr zu einem begeisterten Nazi mauserte. Nach seiner Rückkehr aus dem Reichsarbeitsdienst war er ideologisch ganz auf die Linie der Nazis eingeschwenkt.
Die politische Kluft zwischen den beiden war schon bald so tief, dass sich kaum noch ein vernünftiges Gespräch entwickeln konnte. Martin, der wie viele andere junge Menschen, fest daran glaubte bereits alles besser zu wissen, reagierte häufig wütend. Er verstand einfach nicht, warum sein Vater es nicht akzeptieren wollte, dass Deutschlands Zukunft dem Nationalsozialismus gehören würde. Immer häufiger unterbrach er seinen Vater, belehrte ihn barsch und setzte dann zu einer Ansprache im Stile eines Josef Goebbels an. Nicht selten endeten solche Wortgefechte im Streit, und durch das Fehlen eines normalen Maßes an der Fähigkeit zur Selbstkritik fühlte sich Martin nach jeder dieser Eskalationen stets im Recht. Paul Gerhard, der das herrische und respektlose Auftreten seines Sohnes kaum noch ertragen konnte, zog sich mehr und mehr in sich selbst zurück. Der ehemalige DDP-Abgeordnete litt unter der stetigen Selbstgerechtigkeit seines Stammhalters und sah sich doch nicht in der Lage, etwas gegen diese Entwicklung zu tun. Helene, der die angespannte Stimmung zwischen ihrem Mann und dem Sohn nicht verborgen geblieben war, versuchte zwischen den beiden Streithähnen zu vermitteln. Doch irgendwann gab sie es auf. Paul Gerhard, der früher stets gut gelaunte und humorvolle Geschichtenerzähler, schwieg nun meist und wich jedem längeren Gespräch mit seinem Sohn aus. Eine eigene Meinung vertrat er nur noch selten, wohlwissend, dass Martin jedes seiner Worte sofort in Frage stellen würde. Vor einigen Monaten war es kurz vor Martins Einberufung zur SS zu einem schlimmen Wutausbruch des Jungen gekommen. „Du verfluchter Judenfreund!“, hatte er seinem völlig fassungslosen Vater ins Gesicht gebrüllt, als der einmal mehr versuchte, auf die in seinen Augen ungerechtfertigte Ausgrenzung der Juden in Deutschland hinzuweisen. Der inakzeptable Kontrollverlust des Sohnes versetzte dem Vater einen Schock, von dem er sich nie wieder ganz erholen sollte. Der grenzenlose Schmerz, den Paul Gerhard in diesem Moment empfand, blieb und würde sich für den Rest seines Lebens wie ein Krebsgeschwür in ihn hineinfressen. Martin selbst schien dieser Vorfall nicht weiter zu belasten. Ihm waren die Gefühle seines Vaters nur selten einen Gedanken wert, und wenn er dann doch in einem Anflug von emotionaler Gefühlsregung einmal über dessen Gefühlswelt nachdachte, verstand er sie einfach nicht. Aus einem netten Jungen war in nur wenigen Monaten ein gefühlskalter SS-Mann geworden.
„Wie lange wirst Du bleiben?“ Die Frage hatte Martin nicht erwartet. Er will nicht einmal wissen, wie es mir ergangen ist, stellte er enttäuscht fest. Der Unmut schien ihm ins Gesicht geschrieben zu sein, denn sein Vater beeilte sich zu sagen „Eine schneidige Uniform hast Du da an.“ War das sarkastisch gemeint? Martin blickte für eine Sekunde verunsichert an sich herunter und beschloss dann die Worte als freundliche Gesprächseröffnung zu verstehen. „Danke. Seit gestern darf ich auch meinen Dolch dazu tragen.“ Er hatte sich bemüht, möglichst abgeklärt zu klingen, konnte aber seinen Stolz über diese Tatsache nicht ganz verbergen. „Also, wie lange wirst Du bleiben?“ Paul Gerhard hatte einen weiteren Karton aus dem Heck des Opels genommen, um ihn in den Stall zu tragen. „Ein paar Tage. Ich wurde zurück nach Lauenburg kommandiert um an der Unterführerschule zum Scharführer ausgebildet zu werden?“ Wieder hob sein Vater einen Karton aus dem Kofferraum und trug ihn zu den anderen Kisten in den Stall. „Was ist da drin?“ Martin zeigte auf eine der Schachteln. „Nichts Besonderes. Sind nur ein paar Konserven, die ich günstig erstehen konnte.“ Martin wunderte sich zwar, warum sein Vater Dutzende von Konservendosen im Pferdestall einlagerte, obwohl sie doch im Wohnhaus über eine große Speisekammer verfügten, beschloss aber nicht weiter darüber nachzudenken. Was geht mich das an, dachte er. Soll er doch seinen Krempel lagern, wo der Pfeffer wächst. „Du wirst also ein Scharführer?“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. „Ja. Irgendetwas falsch daran?“, erwiderte Martin bereits leicht gereizt und stemmte während dieser Worte die Fäuste in die Hüften. „Nein, Du wirst schon wissen was du tust.“ Paul Gerhard lächelte, aber das Lächeln erreichte nicht seine Augen. Innerlich verursachte dieser Entschluss des eigenen Sohnes, eine Karriere innerhalb der SS anzustreben, eine verzweifelte hilflose Wut. Doch er würde schweigen. Einer weiteren dieser traurigen, verbalen Auseinandersetzungen fühlte er sich nicht mehr gewachsen. Er war des ewigen Kampfes um Worte müde. Am Abend saßen Eltern und Sohn auf der Terrasse des Hauses und genossen die letzten warmen Sonnenstrahlen des Tages. Helene hatte ein paar Käsebrote geschmiert und eine Flasche Rotwein aufgemacht. Die große Terrasse lag auf der Rückseite des großen Wohnhauses. Von hier aus hatte man einen herrlichen Blick auf einen kleinen nahegelegenen See. Dahinter erstreckte sich eine riesige Waldfläche. Am rechten Rand des Seeufers lagen zwei kleine Holzboote an einem Steg und dümpelten träge vor sich hin. Ein Bussard segelte lautlos mit ausgebreiteten Schwingen über ihre Köpfe hinweg, um sich dann anmutig auf dem Dach eines Jagdstandes niederzulassen. „Ist es nicht schön hier?“, seufzte Helene und nippte an ihrem Weinglas. Paul Gerhard und Martin nickten zustimmend. Als die Sonne langsam hinter den Wipfeln des Waldes verschwand, erhob sich der Gutsherr und streckte sich. „Ich habe noch etwas zu erledigen“, ließ er seine Frau und seinen Sohn wissen und ging ohne ein weiteres Wort davon. Helene steckte sich eine Zigarette an und schenkte sich ein weiteres Glas Wein ein. Dann reichte sie die Flasche an Martin weiter, der sich ebenfalls bediente. Er hatte seine schwarze Uniform gegen ein kurzes Hemd und eine Leinenhose getauscht. „Dein Vater liebt Dich“. Helene blies den Rauch in Richtung des Abendhimmels und lehnte sich bequem in ihrem Stuhl zurück. Ihr Blick ruhte jetzt auf ihrem Sohn, der weiterhin wortlos auf den angrenzenden See blickte. „Als Du ihn damals angeschrien hast..“, sie zögerte einen Moment. Dann fuhr sie leise fort „…er hat das nie verwunden. Dein Vater ist ein guter Mann, der sicherlich nicht perfekt ist. Wir alle haben unsere Fehler und Schwächen.“ Sie schwieg für einen Moment. „Du bist zu weit gegangen Martin und solange Du ihm nicht zeigst, dass es Dir leid tut, wird diese Sache ewig zwischen Euch stehen.“ Jedes ihrer Worte trafen Martin wie ein Peitschenschlag. Nun war also auch seine Mutter gegen ihn, ging es ihm durch den Kopf.
„Er sitzt auf seinem hohen Ross und hält sich für den Inbegriff der Menschlichkeit. Wir leben in einem neuen Zeitalter, Mutter. In Deutschland weht ein neuer Wind. Juden und Asoziale haben in unserer Volksgemeinschaft nichts mehr verloren.“ Martin blickte seine Mutter jetzt an, die seinem Blick standhielt. „Wer die Juden bedauert oder ihnen sogar hilft, wird Schwierigkeiten bekommen“. Dann erhob er sich und stellte sein Glas auf den kleinen Tisch zurück. „Du vergisst offenbar, dass Du von einer Jüdin erzogen worden bist.“ Helene hatte sich nun ebenfalls von ihrem Stuhl erhoben. Der eben noch sanfte mütterliche Gesichtsausdruck war dem einer strengen Ernsthaftigkeit gewichen. „Ich sage es Dir jetzt ein einziges Mal und dann nie wieder. Dieser ganze antisemitische Hass, der irrwitzige Rassenwahn und der Germanenkult dieser Leute, wird Deutschland über kurz oder lang in einen Krieg stürzen, den wir verlieren werden. Dein Vater hat das bereits vor langer Zeit erkannt. Die Familie von Amsfeld war immer schon sehr liberal und weltoffen. Die christlichen Werte sind uns heilig. Diese neue Religion in ihren schwarzen Uniformen predigt Tod, Hass und Gewalt. Weißt Du worunter Dein Vater am meisten leidet?“ Sie trat an Martin heran und ihr süßer Duft stieg ihm in die Nase. „Er hat versucht Dir etwas seiner Werte zu vermitteln. Du jedoch…“, ihre Stimme war jetzt von einer unendlichen Traurigkeit erfüllt. „… willst stets beweisen, dass er sich irrt. Es tut mir leid mein Sohn, aber Du hast wirklich rein gar nichts begriffen.“ Nach den letzten Worten drehte sie sich um und ging davon. Der Bussard hatte