Die Lichtschreiberin. Almut Adler
wie…, wie ein Stück Schlauch!“ Aus der Dunkelheit gluckste Ralfs Lachen.
„Wie ein Stück Schlauch, hihihi!“
Auch Arnulf fing an zu lachen, dann ich. Das Lachen wirkte ansteckend, nach und nach gab es immer mehr Mitlacher, bis schließlich das ganze vermiefte Matratzenlager lachte. Bald ebbte die Heiterkeit in ein vereinzeltes Kichern ab und verstummte schließlich ganz. Am nächsten Morgen kratzten wir uns alle. Waren das etwa Flöhe?
Wie Gebetsfahnen flatterten unsere Schlafsäcke an der Leine zwischen Baum und Bully im Wind. Es kostete viel Überwindung im eiskalten Flusswasser ein Bad zu nehmen doch es half. Durch Wind und Kälte wurden wir die lästigen Tierchen mittags schon wieder los. Doch weiterhin verbreitete die Drohung des Pferde-Hazara unterschwellige Angst. Wir beschlossen das wilde Bamiyan-Tal zu verlassen und Richtung Kyberpass zu fahren, über die pakistanische Grenze. Auch Ralf brach mit uns auf, Indien und Nepal waren ebenfalls seine Ziele. An der pakistanischen Grenze trennen sich dann unsere Wege. Ralf wollte in den Norden Pakistans, nach Gilgit. Wir verabredeten uns 6 Wochen später, um gemeinsam in Nepal Weihnachten zu feiern. Als Treffpunkt vereinbarten wir den Campground im Zentrum von Kathmandu.
Die Grenzformalitäten nach Pakistan brachten mich beinahe um. Irgendwo hatte ich mir etwas eingefangen. Nicht mal der bunte Stempel im Reisepass konnte mich erfreuen, mir war speiübel. Oft musste ich mich übergeben und bekam gleichzeitig Durchfall. Nirgendwo gab es ein menschenwürdiges Klo, überall sah ich nur Menschen, Menschen, Menschen. Diesen Zustand empfand ich weitaus schlimmer als meine Übelkeit. Noch ein Formular ausfüllen, noch ein paar Fragen beantworten, hier einen Stempel holen und dort eine Ausreisebestätigung abgeben. Die Büros quollen über mit Stapeln verschnürter Papierbündel. Mir war kotzerbärmlich schlecht, ich konnte mich kaum noch auf den Beinen halten, ich wollte einfach nur liegen und keine Menschen sehen. Gerade noch rechtzeitig konnte ich das Office verlassen, dann brach es aus mir heraus. Im hohen Bogen kotzte ich einem Grenzbeamten direkt auf die Stiefel. Der Uniformierte trug es mit Fassung, er brachte mich zur ersten sauberen Toilette seit Persien. Was für eine Grenzerfahrung - es war das Beamtenklo!
Schon auf dem Campground in Kabul lernten wir das deutsche Ehepaar Hilde und Robert kennen. Beide lebten in Pakistan und arbeiteten dort in Hilfsorganisationen. Der unterhaltsame Abend bescherte uns eine Einladung in die Hauptstadt der Provinz Khyber - nach Peshawar. Nach dem Grenzübergang erreichten wir noch am selben Abend die Stadt und folgten dem Angebot des deutschen Paares. Zwei Tage wurden wir fürstlich verwöhnt. Wir schliefen in richtigen Betten, ich bekam mein eigenes Zimmer, wir aßen lecker und tranken köstliche Weine. Robert arbeitete als projektleitender Grafiker der UNESCO und Hilde im GTZ-Büro, Organisationen von denen ich bis dato noch nicht einmal gehört hatte. Jahre später sollte ich genau damit in Berührung kommen.
Ladakh – das Dach der Welt
Robert und Hilde schwärmten in den höchsten Tönen von Ladakh.
„Wunderbar freundliche Menschen, beeindruckende Landschaften, geheimnisvolle, buddhistische Klöster und Fotomotive ohne Ende.“ Hilde stimmte ihrem Robert nickend zu.
„Ihr müsst unbedingt dort hinfahren! Aber beeilt euch, im Oktober kann es schon schneien und dann sitzt ihr ein halbes Jahr fest und müsst auf 4.500 Meter Höhe in Eiseskälte ausharren!“
Keiner von uns kannte diesen Himalaya-Staat im Norden Indiens. Wir wurden aufgeklärt - Ladakh grenzt an Kashmir und ist der höchst gelegene Bundesstaat Indiens. Als die Volksrepublik China das Land 1959 annektierte und die Hauptstadt Lhasa mit dem Potala-Palast des Dalai Lama besetzte, wurde Ladakh zum Flüchtlingsgebiert vieler Tibeter. Deswegen wird Ladakh auch „Klein-Tibet“ genannt. Der Mount Everest, der Anapurna und weitere nah gelegene Achttausender brachten Ladakh bezeichnenderweise den Beinamen „Das Dach der Welt“ ein. Infolge des Krieges mit China blieb Ladakh seit den 50er-Jahren für Ausländer gesperrt. Erst Ende 1974 wurden die Grenzen der Passstraße aufgehoben. Das Militär zog ab und die Region wurde wieder frei zugänglich. Arnulf, Ilse und ich beschlossen am nächsten Morgen dorthin aufzubrechen. Fotomotive ohne Ende, dieser Satz hallte in meinen Ohren.
Seit den 50er-Jahren waren wir die ersten Touristen die Ladakh mit dem eigenen Auto bereisten. Schon die Fahrt dorthin grenzte an pures Abenteuer. Passstraßen so eng wie die Gassen von Heidelberg und immer knapp am Abgrund. Es gab keine Leitplanken und sollte man auch nur etwas vom Weg abkommen so ging es steil abwärts - mit Sicherheit tödlich. In langen Convoys kamen uns wuchtige Militärfahrzeuge entgegen, die indische Armee rückte ab. Irrwitzige Ausweichmanöver forderten Arnulfs vollste Aufmerksamkeit.
Manche Soldaten weinten hinterm Steuer vor Angst, beteten oder mussten sich am Straßenrand übergeben. Mit Fahrkünsten dieser Art waren die Inder absolut überfordert, das machte die Sache noch gefährlicher. Im Bully herrschte ängstliches Schweigen. Davon erzählten Robert und Hilde nichts - sie sind mit einer Cessna geflogen. Tief unten im Tal grub sich der wildfließende Indus ein weißgrünes Bett durch glatt geschliffene Felsschluchten. Auf dem 4.200 Meter hohen FotuLa-Pass machte unser Bully schlapp. Er zog nicht mehr und fing an zu dampfen. Die Luft war so dünn, das dem Doppelvergaser die Puste ausging. Arnulf gönnte seinem Bully eine Pause. Selbst das Atmen fiel uns schwer und schränkte jede Bewegung ein.
Tibeter besitzen genetisch bedingt eine erhöhte Atemfrequenz, so dass ihnen die dünne Luft nichts ausmachte. Im Nu umringten uns neugierige Kinder. Endlich konnte ich fotografieren, denn die Ladhakis sind Buddhisten und somit nicht fotoscheu. Mittags waren es geschätzte 0 Grad. Auf 4.500 Metern Höhe ließen nächtliche Minustemperaturen von 20 Grad die Eisschicht auf den Pfützen nicht schmelzen. Die meisten Kinder liefen barfuß und trugen löchrig-zerlumpte Kleidung. Ihre dreckverklebten Haare standen wie Bretter vom Kopf ab und an vielen Kindernasen klebte gelber Rotz. Wegen der Kälte auf Kargils Hochebene übernachteten wir zu dritt im Bully. Von der Stadt Srinagar in Kashmir hatten wir die halbe Strecke bis Leh geschafft.
Am Morgen wurden wir von herannahendem Hufgetrappel und aufgeregtem Stimmen geweckt. Sechs Männer auf zotteligen kleinen Pferden umrundeten unser ungewöhnliches Auto und gafften die Reisende staunend an. Kerle die nicht wilder aussehen konnten, ihre wettergegerbten Gesichter waren so faltig wie die Bergrücken des Hindukush. Schwere Ohrringe mit bunten Steinen zogen ihre Läppchen lang und in ihren Bauchbinden trugen sie beeindruckende Krummdolche. An ihren Stoffstiefeln bogen sich die Fußspitzen hoch und auf dem Kopf trugen sie seltsame Mützen mit wegstehenden Ohrlappen aus Fell. In ihren zusammengekniffenen Schlitzaugen waren keine Emotionen zu lessen, sie wirkten furchteinflößend. Misstrauisch beäugten sie uns Fremde wie umgekehrt. Zuerst begannen die Reiter zu lächeln, dann zu lachen. Das gegenseitige Misstrauen war mit einem Mal verflogen, nun fingen alle an zu lachen. „Die freundlichsten Menschen überhaupt!“, klangen mir die Worte von Robert im Ohr. Ja, das waren die Ladakhis wirklich. Dies konnten wir die nächsten zehn Tage erleben.
Wir machten Bekanntschaft mit dem charismatischen Sikh Damodhar Singh. Er lud uns Reisende in sein bescheidenes Zuhause ein, kochte für alle und musizierte auf einem fremdartigen, kastenförmigen Klapp-Akkordeon. In einem leer stehenden Schulgebäude konnte er mir einen Schlafplatz verschaffen. Endlich bekam ich einen Raum für mich ganz alleine! Das entspannte unser Zusammensein erst einmal. In der Nacht fielen die Temperaturen auf eisige -15 Grad, das bekam ich sogar in meinem Daunenschlafsack unangenehm zu spüren. Ladakh mit der 3.500 Meter hoch gelegene Hauptstadt Leh gestaltete sich im wahrsten Sinne zum Höhepunkt meiner Reise. Selbst von dort sah der Mount Everest mit seinen 8.848 Metern immer noch gigantisch hoch aus und wirkte Ehrfurcht einflößend. Die Vegetation war karg, die Luft dünn, das Klima rauh und die Lebensbedingungen hart. Und doch zog uns das Land alle gleichermaßen in seinen Bann. Niemals habe ich so viele lachende und herzliche Menschen wie die buddhistischen Ladakhis erlebt.
Uns wurde das Privileg zuteil, Kloster Tikse von innen zu besichtigen.