Durch Schatten gehen. Birgit Treckeler
nicht und sie scheitern immer wieder, bis zum endgültigen Zusammenbruch, der sie längerfristig oder gar dauerhaft aus der gewohnten Bahn wirft. Und in extremen Fällen ist es dann eben auch zu spät – und wenn kein Aus- oder Rückweg mehr erkennbar ist, endet die Erkrankung möglicherweise sogar im Suizid.
Aber all das waren Fachkenntnisse, die mir damals lediglich rudimentär bekannt waren. Einsichten für mich selbst daraus gewinnen oder gar Zusammenhänge begreifen – das konnte ich damals einfach noch nicht. Und so dachte ich schlichtweg, mit zunehmendem Erfolg glücklicher zu werden, endlich wieder den Stolz meines Mannes auf mich zu ziehen. Dabei arbeitete ich mich unaufhörlich weiter in die Krankheit hinein. Und zu alldem kam: Er war nicht stolz auf mich, sondern enttäuscht, dass ich so wenig Zeit für ihn hatte, auch kaum noch Energie für gemeinsame Unternehmungen. Alles, was außerhalb meiner Arbeitswelt lag, hielt ich inzwischen für völlige Zeitverschwendung.
Aber da ich die Signale meiner Seele ignorierte, meldete sich nun mein Körper zu Wort. Ich bekam schmerzhafte anhaltende Rückenschmerzen, fühlte oft einen schweren Druck auf der Brust, der mir das Durchatmen schwer machte. Ich kämpfte mit dauernder Müdigkeit, hatte zunehmend Probleme damit, mich auf irgendetwas zu konzentrieren. Mein Körper machte mir überdeutlich klar, was ich selbst nicht sehen wollte, schickte seine Alarmsignale, die ich einfach geflissentlich übersah. Ich stumpfte immer weiter ab. Doch trotzdem schien alles irgendwie erträglich: Schließlich hatte ich mein Zuhause, meine Hunde und, ja, meinen Mann an meiner Seite.
All die Erkenntnisse über diese Zusammenhänge reiften nur ganz langsam in mir und kamen erst viele Jahre später bei mir an. Ich hatte damals bereits nichts mehr gefühlt, nichts mehr gehofft, gedacht oder reflektiert. Ich war nur noch seelenlos vorwärtsmarschiert wie ein Soldat, der einen 24-Stunden Marsch in Regen, Schlamm und ohne Verpflegung durchzustehen hat. Ich funktionierte lediglich rein mechanisch, fühlte mich leer und ausgebrannt.
Der Erfolg, den ich suchte und auch erreichte, befriedigte mich schon längst nicht mehr. Ich war wie ein Junkie, wollte immer mehr Anerkennung und Erfolg, doch es gab keinen Genuss mehr. Der Burnout hatte mich über Jahre hinweg in eine Abwärtsspirale gezogen, agierte hinterhältig, schlich sich heimlich und hinterrücks wie ein Virus in mein Leben, vergiftete meine Seele ganz allmählich. Vielleicht hätte ich damals noch etwas verändern können, vielleicht hätte eine Therapie geholfen, Grundlegendes in meinem Leben und meiner Ehe zu ändern. Vielleicht hätte ich zusammen mit Eberhard nach Alternativen suchen können, einen deutlichen Schlussstrich unter all die Fehlentwicklungen ziehen müssen. Vielleicht wäre dann der verheerende Zusammenbruch und auch das Ende unserer gemeinsamen Zeit noch zu vermieden gewesen.
Aber es ist nun mal wie es ist, und so finde ich mich jeden Tag aufs Neue in dieser fremden Situation wieder und versuche tapfer, alleine in meinem neuen Leben an- und zurechtzukommen. Ich füge mich nach und nach ins Unvermeidliche, denn ich weiß: Einen Rückweg in mein altes Leben wird es für mich nicht mehr geben. Nach und nach richte ich mich ein, obwohl mir dazu absolut die Kraft fehlt. Aber die Wohnung braucht noch einiges und so komme ich um einen erneuten Einkauf nicht herum. Mein Vater und Claudette nehmen mich an einem Samstagmorgen gutgelaunt mit zum Shopping – für mich Horror pur.
Und dann ist sie auch schon wieder da, diese neue, nicht gekannte Panik, immer dann, wenn ich gezwungen bin, mich in der Öffentlichkeit zu bewegen oder ein fremdes großes Geschäft zu betreten. Ständig verfolgt mich das Gefühl, dass jeder mir ansehen müsse, wie elend mir zumute ist, wie verlassen ich bin und wie sehr ich versagt habe. Es kostet so viel Kraft, diesen Vormittag durchzustehen. Es fühlt sich so falsch an, all diese Dinge ohne Eberhard kaufen zu müssen. Ich scheitere derzeit bei jeder klitzekleinen Alltagshandlung. Einen Fachmarkt zu betreten und mir einen Staubsauger zu kaufen, kostet mich unglaublich viel Mut und Energie. Auch wenn mein Vater und Claudette mich nerven, ich weiß: Ohne sie hätte ich es nicht geschafft.
So will ich die Besorgungen auch heute einfach nur schnell hinter mich bringen. Die Verkäuferin ist erfreut, dass ich mich so rasch für eine Kaffeemaschine entscheiden kann. Dann kann sie ihr Glück kaum fassen, als ich sie bitte zu bleiben, da ich auch noch Mixer, Toaster, Wasserkocher, Staubsauger, eine elektrische Zahnbürste und ähnliche Artikel benötige. Claudette ist ziemlich anstrengend. Sie kommt nicht damit klar, dass der Wasserkocher, den ich mir ausgesucht habe, farblich nicht zum Toaster passt. Sie entwirft ein ziemlich gruseliges Szenario, wie es wohl aussehen wird, wenn beides auf der Arbeitsfläche in der Küche nebeneinander steht. „Nein, Britt, das geht doch so nicht, den Toaster kannst du dazu nicht nehmen, das ist doch ein ganz anderes Weiß, das beißt sich doch!“ Sie meint es tatsächlich so. Wenn es nicht so unglaublich traurig wäre, hätte ich jetzt sicherlich gelacht. Ich bin fassungslos über so viel Einfältigkeit und frage mich zum wiederholten Male, wie man nur so werden kann.
„Mensch Papa“, rede ich ihn stumm an und suche vergeblich seinen Blick, „was hast du doch für tolle Frauen in den vergangenen Jahren an deiner Seite gehabt! Warum nur bleibst du nun an diesem neurotischen und farblosen Hausmütterchen hängen?“
Für den Flachbildschirm müssen wir noch in ein anderes Geschäft, ich freue mich sogar über diese geplante Anschaffung. Eberhard hatte damals keinen neuen Fernseher gewollt, ihm reichte der alte durchaus. Also gab es auch keinen neuen. Ich kann gerade gar nicht verstehen, warum ich das seinerzeit eigentlich akzeptiert habe, wo ich ihn doch ohnehin selbst bezahlt hätte.
Unglaublich, wie sehr mich diese Einkaufstour ermüdet hat. Doch so richtig verwundert es mich auch nicht. Denn mittlerweile benötige ich zwei, drei Tage Vorlauf, bis es mir gelingt, einen Wäschekorb in den Keller zur Waschmaschine hinunterzutragen und diese dann anzustellen – vom späteren Ausräumen gar nicht zu reden. Solche Tätigkeiten, die ich früher wie nebenbei gemacht habe, kosten mich heute eine unglaubliche Willensanstrengung und durchaus auch mehrere Anläufe. Nicht selten steht ein Korb voller Wäsche für zwei Tage im Flur und starrt mich vorwurfsvoll an. Kochen, duschen, andere normale Alltagshandlungen werden nur noch ausgeführt, wenn es wirklich sein muss. Der Kühlschrank ist voll von ungesunden Schokoriegeln, die schon lange als mein Frühstück fungieren. Wenn mir mal nach etwas Herzhaftem zumute ist, mache ich mir einen Käsetoast. Mein Vater lädt mich alle paar Tage zum Frühstück ein, das muss reichen.
Die Zeit ist offenbar wirklich reif für einen erneuten stationären Aufenthalt. Ich spüre es, will es nun auch. So kann es nicht weitergehen. Und da sich mein Zustand auch nicht bessert, bin ich endlich auch bereit dazu. Ich werde schließlich sogar bei meiner Suche nach einer Klinik, die mir zusagt, fündig. Sie ist spezialisiert auf Burnout, Depressions- und Schmerzbehandlung. Mit Frau Dr. Bilder bespreche ich die Situation am nächsten Tag und sie rät mir dazu, mich sofort für eine mehrwöchige Behandlung dort anzumelden. Zwar beträgt die übliche Wartezeit auf einen Behandlungsplatz etwa vier bis sechs Wochen, aber Dr. Bilder gelingt es nach einem kurzen Anruf, mich gleich für die nächste Woche anzumelden. Die Krankenversicherung zeigt sich ebenfalls kooperativ, faxt mir bereits am nächsten Tag eine Kostenzusage für eine dreiwöchige Behandlung mit Option auf Verlängerung zu.
Doch was mache ich mit Ovambo? Wie soll er das ganze Hin und Her eigentlich verkraften? Ich habe ein schrecklich schlechtes Gewissen, aber ich muss in die Klinik, es gibt keine andere Option. Also was tun? Wieder findet eine Übergabe an Eberhard statt, gleiches Prozedere, wieder über Gitte. Diesmal lässt er mir allerdings sofort ausrichten, dass er sich aus terminlichen Gründen nicht die ganze Zeit um Ovambo kümmern könne, der Hund durchaus auch mal einige Tage in der Hundepension verbringen müsse. Da ich es nicht ändern kann, stimme ich widerwillig zu.
Ich schöpfe für einen kurzen Moment ein wenig Hoffnung bei der Vorstellung, dieses neue und improvisierte Leben schon wieder verlassen zu dürfen. Und wer weiß, vielleicht kann man mir dort ja wirklich helfen. Ich bin aufrichtig bereit, es zu versuchen. Chris, dem ich als Erstes davon berichte, dass ich in drei Tagen für einige Wochen in Bonn sein werde, ist nicht begeistert von der Idee, hat aber auch keinen besseren Vorschlag. Er wird genau zu der Zeit, in der ich in der Klinik sein werde mit einigen seiner Freunde nach Gran Canaria fliegen, um dort ein zweiwöchiges Besäufnis bei einem Kartenspielmarathon zu verbringen. Ich hatte mich schon die ganze Zeit über gefragt, wie ich die Zeit seines Urlaubs ohne seine Fürsorge zu Hause wohl überstehen würde – nun werde in der Klinik ja bestens