Durch Schatten gehen. Birgit Treckeler
Nachdem Gitte ihn energisch darauf anspricht und ihm die Situation erklärt, sagt er zu, sich für ein paar Tage um seinen ehemaligen Hund zu kümmern. Wahrscheinlich bedeutet das für ihn eine Programmänderung an dem kommenden Wochenende, aber das soll dann mal seine Sorge sein.
Am frühen Nachmittag dieses Tages stehe ich also Frau Dr. Bilder gegenüber. Wieder vergieße ich Millionen von Tränen und versuche, alles der Reihe nach zu erklären: die Trennung, mein Zuhause, das ich verloren habe, die Überarbeitung während der letzten
Jahre, das Gefühl vom Ende meines Seins … Frau Dr. Bilder greift zum Telefon, bespricht sich mit ihrem Kollegen auf der Station und teilt mir dann mit, dass dort ein
Bett für mich frei sei. „Bitte erschrecken Sie jetzt nicht, Frau Ilkner, aber wir werden Sie für ein paar Tage auf einer geschützten Station aufnehmen. Wissen Sie, was das bedeutet?"
Mir entfährt unwillkürlich ein bitteres Lachen. Natürlich weiß ich, was das bedeutet: Türen, die sich automatisch verriegeln, Ausgang nur in Begleitung, Essen von Plastikgeschirr. Die Notwendigkeit, geschlossen untergebracht zu werden, macht mir schmerzhaft klar, dass ich offenbar wirklich dabei bin, allmählich verrückt zu werden. Ein kurzer Anflug von Panik streift mich, doch dann kehrt sie zurück, diese neue Gleichgültigkeit. Der, der es zu verantworten hat, weiß nichts davon – und ich denke den Satz gar nicht zu Ende. Früher oder später wird er es bestimmt irgendwie erfahren. Und ich weiß, es wird ihm gleichgültig sein.
Es sollte noch ein langer und steiniger Weg werden, ehe ich nach und nach Eberhards unglaubliche Gefühlskälte, seine Sprachlosigkeit, seine Hilflosigkeit würde deuten und nachvollziehen können. Genau wie ich hat auch er seine ganz eigenen Muster, seine Beziehungen zu leben und mit schwierigen Situationen umzugehen. Krisen kann er nur mit kühler Rationalität und Sachlichkeit begegnen. Meine Emotionalität und mein Anspruch an ihn, eigene Gefühle zu artikulieren und zu beschreiben, haben ihn oft völlig hilflos gemacht. Und so bleibt ihm stets nur wieder die Flucht nach vorn. Raus aus der Beziehung – für ihn einziger Ausweg aus Situationen, die ihn ängstigen und offenbar überfordern.
Ich begebe mich derweil auf die geschlossene Abteilung der Psychiatrischen Klinik, werde dort bereits vom Pflegepersonal erwartet. Ich bin ängstlich, angespannt, frage mich, wie sie hier wohl mit mir umgehen werden. Ich treffe auf genervte Menschen, auf gleichgültige Menschen. Kann nicht erkennen, nicht unterscheiden, ob es Ärzte sind, Pfleger oder Praktikanten. Vermutlich von allem etwas.
Eine schöne junge Ärztin und eine mürrische Pflegerin nehmen mich mit in einen Raum zu einem Gespräch. Als sie im Rahmen der Anamnese Einzelheiten meiner beruflichen Tätigkeiten, meiner Qualifikationen und Ausbildungen erfahren, bemerkte ich eine Änderung in ihrem Ton mir gegenüber: Aus routinemäßiger Geringschätzung und Desinteresse wird so etwas ähnliches wie mitfühlender Respekt.
Ich erfahre, dass gleich meine Reisetasche durchsucht wird, mir der Inhalt meines Necessaires aus Sicherheitsgründen – Suizidalitätsprophylaxe – weggenommen wird und dass ich jede Menge Tabletten bekommen werde. Hoffentlich wirken sie schnell und sie experimentieren nicht erst mit einer kleinen Anfangsdosis herum. Ich bin bereit, ja giere geradezu danach, alles zu nehmen, alles zu schlucken, was man mir in diesem Moment verordnet.
Abends führt der Stationsarzt noch ein ausführliches Gespräch mit mir. Als ich ihm unter Tränen meine Situation erneut ausführlich schildere, begreife ich mehr und mehr, dass mir da nicht plötzlich und aus heiterem Himmel etwas Furchtbares zugestoßen ist, sondern dass dies hier lediglich das Ende einer jahrelangen, für meine Gesundheit ziemlich katastrophalen Entwicklung markiert.
Den schleichenden Beginn hatte ich natürlich nicht mitbekommen oder die Anzeichen schlichtweg übersehen, ignoriert, mit Arbeit, mit weiteren Projekten und Ausbildungen, mit Zielstrebigkeit und einem ungesunden Ehrgeiz aus meinem Bewusstsein verdrängt. Ich denke an meine Großeltern, die ich in den Tod begleitet habe, beide sind fast hundert Jahre alt geworden. Das war eine lange gemeinsame, aber zugleich unendlich fordernde und anstrengende Zeit. Dann der Aufbau meiner Firma, die Expansion während der vergangenen Monate, die 60-Stunden-Wochen, die zusätzlichen Klienten in der Beratungsstelle, die Weiter- und Ausbildungen, der Haushalt, die Hunde, der ewige Umbau im Haus. Ein sprachloser Mann. Offenbar ist da einiges zusammengekommen – und dann ist mir das irgendwann eben alles zu viel geworden.
„Im Grunde sitzen Sie hier auf der falschen Seite, Frau Ilkner, denn eigentlich sind Sie doch die Beraterin, Sie sind die, die Ihren Klienten und Kunden hilft. Sie selbst kennen doch die Symptome eines Burnout und einer schweren Depression aus fachlicher Sicht nur zu gut. Und es ist auch durchaus normal, dass man Hinweise und frühe Alarmsignale im eigenen Leben selbst nicht wahrnimmt. Was Ihnen in den vergangenen Monaten widerfahren ist, hätte jeden umgehauen. Doch das bekommen wir wieder hin. Wir müssen allerdings genau hingucken, wie sich das alles entwickeln konnte. Und warum. Aber darum kümmern wir uns später. Jetzt brauchen Sie erst mal absolute Ruhe. Sie müssen lernen, den Zusammenbruch zu verkraften.“
Der Oberarzt ist sehr freundlich und einfühlsam und ich höre meine Diagnose hier in diesem Zimmer zum ersten Mal. Ich kann sie auch annehmen und akzeptieren, denn nun hat mein merkwürdiges Verhalten und Erleben wenigstens einen Namen und ich bin nicht einfach nur schlecht drauf oder, wie mein Vater es nennen würde, „ich stelle mich an“. Sondern ich bin wirklich ernsthaft krank. Zugleich weiß ich in diesem Moment, dass ein sehr langer, sehr steiniger Weg vor mir liegt. Ich bin hier Grunde gerade erst ganz am Anfang und begreife noch gar nichts. Ich sehe keinen Ausweg, habe keine Vorstellung und auch keine Ahnung von meiner Zukunft. Mit jeder Faser meines Seins wünsche ich mir mein altes Leben zurück. Auch wenn es mich offenbar krank gemacht hat, zumindest aber habe ich mich darin wenigstens ausgekannt und hatte mich im Griff. Vermeintlich. Was nun kommt, weiß ich nicht. Und das macht mir Angst. So viele Fragen, aber bislang habe ich noch keine einzige Antwort erhalten.
Ich blicke aus dem Fenster in die Dunkelheit, sehe mein verheultes Gesicht in der Scheibe, sehe eine müde und verbrauchte, mir völlig fremde Frau, die sich da spiegelt. Ich denke mal wieder an Eberhard, der vermutlich bald einer anderen Frau gehören wird, an Ovambo, der mich vermisst, an meine Lady, die nun in einem anderen Garten lebt, an mein Haus, das zum Verkauf steht, an meine Firma, meine Aufgaben und meinen Alltag in einem Leben, das nicht mehr das meine ist. Kein Gedanke bleibt lange genug, um ihn zu Ende zu denken, alles geht ineinander über, verschwimmt, die Konturen der Gedanken lösen sich auf. Ich sehe alles wie durch Nebelschwaden – und der Verlust tut ein weiteres Mal so unendlich weh.
Obwohl die Medikamente mein Denken ein wenig vernebeln, begreife ich, dass ich in einer tiefen Krise stecke, die ich alleine unmöglich bewältigen kann. Mir wird klar, dass ich wirklich ernsthaft krank bin. Und dass ich mich mit meiner Zukunft unbedingt auseinandersetzen muss, wenn ich wieder gesund werden will. Falls ich das denn will
…
„Sie müssen im Moment nichts weiter tun“, hörte ich den Arzt sagen, „als zu schlafen und wieder zu essen. Das ganze Wochenende werden Sie nichts anderes tun. Nächste
Woche dann sehen wir weiter.“ Mit einer aufmunternden Geste legt er mir für ein paar Sekunden eine Hand auf die Schulter, ehe er seinen Dienst beendet und nach Hause fährt, zu Frau und Kind. Nachdem ich noch einige Verhaltensregeln für die Akutstation erfahren habe – glücklicherweise ist heute nicht mehr die Rede von ‚Geschlossener
Abteilung‘, heute sagt man ‚Akutstation‘, klingt ja auch gleich viel harmloser, finde ich – bin ich froh, dass alle Gespräche jetzt erst mal hinter mir liegen. Ich muss jetzt nichts weiter leisten, als meine Zimmernachbarin kennenzulernen.
Silke und ich verstehen uns auf Anhieb. Wir erzählen uns in Stichworten kurz und knapp unsere Lebensgeschichten. Und gemeinsam weinen wir dann in den nächsten Tagen mit unseren Tränen schier einen ganzen Ozean voll. Ich mag Silke, doch spüre ich zugleich auch ein Gefühl von Neid und Distanz ihr gegenüber. Schließlich hat sie eine Familie, einen liebevollen Mann, Kinder, einen Beruf, der ihr Freude macht. Gott, wie gerne würde ich mit ihr tauschen! Ich verstehe gerade nicht, wie man das alles haben und trotzdem so unendlich traurig sein kann, dass man darüber sogar krank wird.