Durch Schatten gehen. Birgit Treckeler
antworte ich folgsam und zeige auf die Flurdecke, wo noch eine Baufassung hängt. Und um nicht wieder Kritik von meinem Vater zu ernten, nehme ich mir den erstbesten Karton vor, packe meine Kleidung aus, räume sie in den riesigen Kleiderschrank, den die Möbelpacker bereits aufgestellt haben.
Am späten Nachmittag fahre ich zusammen mit Chris zu einem Schnellimbiss im Ort. Es ist Essenszeit. Beim Eintreten verursacht der typische Geruch von ranzigem Fett sofort eine Übelkeit in mir. Warum nur fällt mir in diesem Augenblick spontan ein, was Eberhard jetzt wohl bestellen würde, nicht aber, was ich essen könnte? Wieder diese Erinnerungen an früher, an gemeinsame Umzüge, improvisierte Mittagessen in irgendeinem Imbiss. Wie ich sie geliebt habe, diese Pausen während unseres Renovierens! Die schnellen Snacks, meist Fastfood, das wir beide so gerne mochten. Ein paar Pommes mit Mayo werde ich wohl irgendwie runterbekommen – und so füge ich mich in mein Schicksal und nehme zusammen mit Chris und meinem Vater die erste improvisierte Mahlzeit in der neuen Küche ein.
Das Durcheinander in der Wohnung nervt mich. Ich will nun endlich meine Ruhe haben und frage mich, wie ich das alles jemals bewältigen soll, all die Kartons, Taschen und
Kisten … Die Möbelpacker sind schon lange fort, als mein Vater und Chris am späten Abend schließlich auch die Wohnung verlassen. Endlich! Ich bin wirklich erleichtert. Spüre aber auch rasch, wie mit der Einsamkeit zugleich die Panik zurückkehrt. Und mit der Panik kommen auch die Tränen wieder. Und meine mittlerweile gute alte Bekannte, die Verzweiflung, lässt auch nicht lange auf sich warten.
Jetzt hat mein neues Leben begonnen und alle haben mir doch erzählt, dass es von da ab allmählich wieder besser gehen würde. Aber was genau soll denn eigentlich durch meinen Umzug besser werden? Werde ich ab morgen mein altes Leben nicht mehr vermissen? Meinen Mann nicht mehr vermissen, mein Haus, meine Lady? Wie soll das gehen? Wie kann das jemals heilen?
Im Dunkeln ziehe ich mich aus, lege mich ins Bett, rolle mich zusammen wie ein kleines Kind. Ich atme den Geruch von fremder Bettwäsche – mein Vater hat mir eine seiner Garnituren geliehen. Alles muss neu gekauft werden, denke ich noch, ehe ich mich in einen kurzen Schlaf weine. Mitten in der Nacht wache ich auf. Irgendwo tickt die neue Wanduhr, da rauscht es und hier knackt ein Rohr im Bad. Fremde Gerüche, fremde Geräusche rings um mich herum. Schließlich knipse ich die kleine Nachttischlampe an, suche mich wieder zu orientieren – und für den Rest der Nacht lasse ich das Licht brennen.
Am nächsten Morgen rufe ich Chris an. Wie immer telefonieren wir eine ganze Weile miteinander. Chris ist geschieden, seit Jahren schon. Wechselnde kurze Affären begleiten seinen Alltag, in dem der Alkohol eine viel zu große Rolle spielt. Chris hat vor einigen Jahren sehr clever Immobilien gekauft und verkauft. Und da er keine allzu großen finanziellen Ansprüche an sein Leben stellt, kommt er mit dem gelegentlichen Handel und den Mieteinnahmen seiner maroden Häuser einigermaßen über die Runden. So wenig ich seinen Lebensstil in den letzten Jahren verstehen konnte, so dankbar bin ich heute dafür. Denn nur, weil er so ist wie er ist und so lebt wie er lebt, ist er einfach ständig für mich da und hat viel, ja oftmals sogar endlos Zeit für mich.
Chris war zunächst erst mal fassungslos, als er vom Ende der Beziehung zwischen Eberhard und mir hörte. Wie viele andere auch, hielt er uns schlichtweg für ein Traumpaar. Die große Blonde und der attraktive Dunkle, sie so emotional und immer aktiv, er der ruhige, intelligente und ruhende Pol im Hintergrund. So oder ähnlich war wohl die Außenwirkung von Eberhard und mir. Wir waren so unterschiedlich, aber eben genau das schien ideal zusammenzupassen. Wir ergänzten uns doch nahezu perfekt.
Aber offenbar war ich nicht die Einzige, die nicht bekommen hatte, wie kritisch es um unsere Beziehung stand, dass jeden Augenblick alles vorbei sein konnte. Selbst Chris, wahrlich kein Romantiker und mit einem eher pragmatischen Blick, auch was Beziehungen betraf, war überrascht, dass Eberhard mich auf diese Weise verlassen hatte. Wie viele meiner Freunde und Freundinnen konnte auch er das so gar nicht nachvollziehen. Doch für Chris, den ewigen Optimisten, ist das Glas eben immer halb voll, niemals halb leer. Und so steckt er von nun an all seine Energie in das Projekt
„Britt – zurück ins Leben“. Ich bin ihm unendlich dankbar, dass er wie selbstverständlich rund um die Uhr für mich da ist.
Erst viel später würde ich erkennen, dass seine schier nie versiegende Geduld und Nachsicht mir gegenüber, seine Fürsorge und Präsenz nicht ganz uneigennützig waren. Noch in diesem Jahr sollten sie in einem traurigen Drama enden.
Wie so oft in diesen Tagen telefoniere ich bereits sehr früh mit ihm. Schon ab 9 Uhr ist er bereit für meine ersten Tränen des Tages und auch heute Morgen weine ich stundenlang in den Hörer, stelle ihm die immer gleichen Fragen. Die Fragen nach dem Warum, die er mir nicht beantworten kann. Auch meine gute Freundin Gitte, mit der ich in diesen Tage spreche, kann die Geschehnisse der letzten Wochen kaum nachvollziehen. Erst vor kurzem hat sie mit Eberhard telefoniert, er hatte sie angerufen, um ihr zum Geburtstag zu gratulieren. Auch wenn sie von dieser Geste nicht besonders angetan war, hatte sie doch ein paar Worte mit ihm gewechselt und später berichtete sie mir, sie erkenne ihn gar nicht wieder. So kühl, total verändert, emotionslos. Und ständig beklage er sein Los. Ganz allein in dem großen Haus und nun auf den Verkauf warten zu müssen, während ich mich feige davon gemacht habe. So also sieht offenbar er die Dinge. In solchen Momenten überfluten mich Wellen der Wut und des Hasses – die aber leider nie lange genug andauern, um mich auf einen gesunden Weg zu bringen, mich endlich von ihm zu befreien.
Ich habe das Gefühl, dass mein Überlebenswille mit jedem Tag mehr schwindet. Nach vier Tagen voller Verzweiflung, Panik, Weinen und in denen mir, trotz aller guten Vorsätze, auch das Essen zur Qual wird, greife ich zum Hörer und wähle die Nummer von Steve.
Steve ist ein begnadeter Psychotherapeut und Supervisor. Vor vielen Jahren hatten wir uns im Rahmen eines Businesscoachings kennengelernt. Über die Jahre hinweg habe ich immer mal wieder die eine oder andere Stunde in seiner Beratungspraxis zugebracht. Und jedes Mal dann, wenn es für mich darum ging, wichtige Entscheidungen zu treffen oder aktuelle Probleme zu diskutieren, schätzte ich seine sachliche Reflexion und seine pragmatische Sichtweise. Steve kennt zudem auch meinen Mann. Eberhard hatte im Zusammenhang mit seiner letzten Scheidung und seinen Problemen im Umgang mit seinen Ex-Frauen und den Kindern Steves Rat gesucht und ihn auch geschätzt.
Nachdem ich Steve von der Trennung berichtet und ihm erzählt hatte, wie wenig ich mit der Situation umgehen kann und therapeutische Hilfe suche, bot er mir sofort ein paar klärende und unterstützende Gespräche an. Natürlich war ich schon seit Wochen auf der Suche nach einem niedergelassenen Therapeuten, um mit seiner Hilfe meine Situation bewältigen und aufarbeiten zu können, aber leider ohne Erfolg. Niemand hatte in absehbarer Zeit freie Kapazitäten in seiner Praxis oder mir wurden andere Gründe genannt, warum man aktuell nicht für eine professionelle Therapie zur Verfügung stehe.
Deswegen sprang Steve in den vergangenen Wochen kurzfristig ein. Aber auch er kann sich nicht die erforderliche Zeit für mich freischaufeln. Und für eine professionelle Psychotherapie kennen wir uns einfach zu gut und zu lange. Ihm fehlen schlichtweg die notwendige Neutralität und der professionelle Abstand zu mir und meiner Geschichte. Und trotzdem sitzen wir in diesen Tagen viele Stunden in seiner Küche zusammen – und ich kenne nur ein Thema, stelle die immer gleichen Fragen. Steve zeigt sehr viel Geduld mit mir, versucht ebenfalls die Trennung und Eberhards Verhalten zu verstehen, bietet sich sogar an, einmal mit ihm zu sprechen, von Mann zu Mann. Er ist bemüht zu vermitteln, möchte eine Gesprächsbasis zwischen uns anbahnen, uns helfen, wieder miteinander zu reden. Gerne nehme ich sein Angebot an, obwohl ich bereits ahne, dass es nicht von Erfolg gekrönt sein wird. Aber einen Versuch ist es ja wert.
Ich weiß, dass Eberhard Steve ebenfalls sehr mag und schätzt. Umso größer daher meine Überraschung, als ich höre, dass er dessen Vermittlungsversuche rundheraus ablehnt und auf seinen Stereotypen beharrt: „Hör zu, Steve, ich bin da sehr konsequent. Ist es einmal vorbei, ist es für immer vorbei. Das war immer meine Devise und dabei bleibe ich auch diesmal. Da gibt es nichts mehr zu besprechen. Ich blicke jetzt nach vorn und regle mein Leben neu.“ Steve ist sichtlich betroffen, aber Eberhard fährt fort: „Auch wenn ich jetzt vielleicht den größten Fehler meines Lebens mache: Ich kann nicht mehr zurück, ich muss das jetzt durchziehen.