Melodie des Herbstes. Anna Maria Luft

Melodie des Herbstes - Anna Maria Luft


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mitteilt, dass er am Nachmittag nach Wien gefahren ist, um Lörchen, die verunglückt sei, im Krankenhaus aufzusuchen.

      Ich erschrecke darüber, denn ich liebe dieses Kind, als wäre es mein eigenes.

      Während ich ein Glas Wein trinke und dabei doch wieder Chips nasche, verfalle ich in Nachdenklichkeit. Dietlinde hat mir kürzlich nicht nur die Schuld an der Scheidung vorgeworfen, sondern auch, dass ich sie nicht geliebt hätte, weil mir mein Beruf wichtiger gewesen sei. Ich bin eine leitende Angestellte in einem Münchner Bekleidungshaus gewesen, eine Direktrice. Erst hatte ich nach dem Besuch der Handelsschule in einem Bamberger Steuerbüro gearbeitet. Dieser Beruf hatte mir nicht zugesagt. Ich war nach München umgezogen, hatte meinen Beruf gewechselt und war erst Schneiderin, später Schneidermeisterin geworden und hatte mich bis zur Direktrice empor gearbeitet. Ich war damals schon verheiratet und hatte wegen meiner vollen Berufstätigkeit mein Kind und den Haushalt vernachlässigt. Mein Mann war zu dieser Zeit tagelang als Generalvertreter für medizinische Geräte unterwegs gewesen. Von ihm hatte ich keine Hilfe erwarten können. Was hätte ich tun sollen? Meinen Beruf wollte ich nicht aufgeben und halbtags arbeiten hatte mir die Firma nicht erlaubt. Wegen Dietlinde wollte ich nicht daheim bleibleiben. Heute bin ich traurig darüber, es nicht getan zu haben. Kürzlich hat meine Tochter zu mir gesagt, dass sie sich damals sehr allein gefühlt habe. Wie oft habe ich sie schon um Verzeihung gebeten, aber meine Reue kommt bei ihr nicht an.

      Gloria kommt am nächsten Tag gegen drei Uhr zu mir. Sie wünscht sich einen Rotbuschtee. Zufällig habe ich noch einen daheim. Ich habe in der Konditorei einige Obstschnitten und mehrere Stückchen Bienenstich besorgt.

      Das Mädchen erzählt, dass sie auf die Realschule in Starnberg gehe. Sie wolle demnächst aufs Gymnasium überwechseln. Sie sagt: „Ich möchte eines Tages in die Politik gehen. Mit großem Interesse lese ich die Zeitung.“

      „Du solltest dich mit Edgar treffen. Er hätte Freude an einer Diskussion über Politik. Ich mag das nicht.“

      Ich äußere, dass es in der Politik nicht immer mit rechten Dingen zugehe. „Außerdem regen mich diese ewigen Streitereien der Politiker auf. Mir reichen schon die Nachrichten. Ich sehe mir im Fernsehen lieber einen fröhlichen oder harmonischen Film an. Das ist entspannend. Ich denke nicht daran, mich in meinem Alter auch noch aufzuregen.“

      Gloria lacht. „Aufregen erhält jung“, sagt sie.

      „Nein, aufregen macht alt und hässlich“, sage ich. „Alt bin ich schon, und hässlicher muss ich nicht noch werden.“

      Gloria lacht, und murmelt: „Sie sind doch nicht hässlich, sondern für Ihr Alter noch sehr attraktiv.“

      „Danke!“

      „Frau Münder, die Politiker sind auch nur Menschen wie du und ich. Es muss geredet und auch gestritten werden, um auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen, Diese Männer und Frauen tragen Verantwortung für das, was sie tun.“

      Ich staune, dass Gloria mit ihren 16 Jahren schon so redet. Dass sie eine sehr intelligente junge Frau ist, ist mir schon lange klar.

      „Nehmen die Politiker ihre Verantwortung wirklich ernst?“, frage ich sie.

      „Die meisten schon. Unser Deutschland ist doch okay im Gegensatz zu vielen anderen Ländern. Das haben wir Politikern zu verdanken, dass es so ist.“

      „Nicht allein Politikern. Ja, in Deutschland kann man gut leben. Wenn ich Länder betrachte, in denen die Frauen unterdrückt werden und tun müssen, was Männer befehlen, kommt mir die Wut. Und manche Frauen müssen sich sogar hinter einer Burka verstecken, damit sie mit ihrem schönen Gesicht keinen anderen Mann reizen können. Wo bleibt die Würde der Frauen?“

      „Steckt da nicht die Religion dahinter?“, überlegt Gloria.“

      „Möglich, aber ich weiß es nicht. Vielleicht ist es Tradition! So war es immer, so wird es auch weiterhin sein. Die Frauen müssen ihren Männern gehorchen. Stell dir doch mal vor, Gloria, auch in unserem Deutschland der 60er Jahre haben Frauen ihre Männer fragen müssen, ob sie arbeiten gehen dürfen. Ist das nicht unglaublich?“

      „Das kann ich mir nicht vorstellen“, erwidert Gloria.

      „Doch, das ist wahr. Du kannst es sicher irgendwo nachlesen oder jemanden fragen.“

      Das Mädchen spielt an dem Saum ihres Minikleides und fragt mich: „Wie ich Sie kenne, haben Sie sicher selbst bestimmt, was Sie tun wollten, nicht wahr?“

      „Ja! Das habe ich mir nie wegnehmen lassen.“

      Gloria hat inzwischen ihren Tee ausgetrunken, ich gieße nach. Dazu nimmt sie sich noch ein Stück Apfeltorte und, nachdem sie hineingebissen hat, sagt sie: „Wissen Sie, worüber ich mich freue? Dass wir hier in diesem Haus wohnen können. Meine Eltern haben lange nach einer passenden Wohnung gesucht. Die Mitbewohner sind alle nett.“

      „Alle nicht, aber darüber möchte ich mich nicht äußern.“

      „Müssen Sie auch nicht.“

      Ich sage:„In unserer Gegend lebt es sich gut. Wir haben ganz in der Nähe den Wald und den herrlichen Starnberger See. Die Berge sind auch nicht weit weg. Was wollen wir mehr? Viele Menschen verbringen ihren Urlaub in unserer wunderschönen Landschaft.“

      Gloria verschränkt auf einmal ihre Arme. Es fällt ihr anscheinend nicht leicht zu fragen, wie ich mit Herrn Frömmler zurechtkomme.

      „Bestens, wir sind Freunde. Glaubst du nicht, dass es zwischen Mann und Frau eine Freundschaft geben kann? Im Alter braucht man das dringend.“

      „Ist er nicht manchmal sonderbar?“

      „Nein! Er ist ein guter Zuhörer. Er nimmt mich ernst und geht auf alles ein. Aber jeder macht mal Fehler, ich auch.“

      Gloria lächelt. „Hört sich gut an. In diesem Haus ist keiner einsam. Oder doch? Vielleicht Frau Schröter?“ „Könnte sein. Ihre Freundin, Frau Lingmann, lebt jetzt in einem Altersheim. Sie hatte doch den Brand in der Amselstraße verursacht. Übrigens, das wollte ich dir schon mal sagen: Deine Eltern finde ich nett.“

      „Sind sie auch. Sie ärgern sich jedoch, weil ich in die Politik gehen will.“

      Ich zucke mit den Schultern. „Ein junger Mensch sollte sich beruflich frei entscheiden können.“

      „Das könnten Sie ihnen sagen.“

      Ich schüttle den Kopf. „Ich kann mich nicht in eure Familienangelegenheiten einmischen.“

      „Schade“, meint sie und beißt sich auf die Lippen, weil sie etwas überlegt. Dann fragt sie mich: „Warum ist Edgar heute nicht hier?“

      „Es ist gestern nach Wien gefahren. Seine Enkelin ist verunglückt.“

      „Verunglückt? Schlimm?“

      „Das weiß ich noch nicht.“

      Wir reden noch über die Schule. Sie bleibt zwei Stunden, obwohl sie früher gehen wollte.

      Als Edgar drei Tage später von Wien zurückkehrt, bedanke ich mich für das wundervolle Geschenk und erkundige mich, wie es Lörchen geht.

      „Schon besser. Sie hat eine Gehirnerschütterung und muss noch eine Woche im Krankenhaus bleiben.“

      Er berichtet, dass sie gedankenlos in ein Auto gelaufen sei. „Sie hat noch Glück im Unglück gehabt. Es hätte viel schlimmer ausgehen können.“

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