Schwarzer Honig. Harriette Van der Ham
große Spiegel mit Holztürchen, achteckige Tischplatten und wunderschön geschwungene Klappschemel, mal mit, mal ohne Rückenlehne – die sogenannten ‘scissorchairs’. Harriette traut ihren Augen nicht. Soviel Perfektion hat sie hier nicht erwartet. Dies alles ist nicht vergleichbar mit dem, was sie bisher an Möbeln gesehen hat. Ein ganz anderes Konzept: hier wird nicht versucht, neugebaute Möbel alt und antik aussehen zu lassen, hier werden alte, traditionelle Stilelemente in neuartigen Möbeln umgesetzt. Und was für ein Holz! Jedes einzelne Möbelstück möchte man streicheln. Handschmeichler! Sie kann es nicht lassen, sie muss mit beiden Händen Stuhllehnen, Tischflächen, Schranktüren berühren. Wie schön das alles ist! Ja, dies sind wahre Profis!
Samira - so heißt die Buibui Verkäuferin - führt sie quer durch den Raum. Am Ende befindet sich eine schwere Holztür. Sie öffnet sie und schon befindet Harriette sich in einem Innenhof, in dem fleißig gearbeitet wird. Männer in alten T-Shirts und zerrissenen Hosen polieren jeden Quadratzentimeter jedes einzelnen Möbelstücks mit einem ölgetränkten Lappen. Es wird solange poliert, bis alles in vollem Glanz erstrahlt. Die Farbe des Holzes kommt voll zum Leben. Harriette hört etwas weiter weg das Geräusch von Sägemaschinen.
Die Produktion der Möbel befindet sich in einem geschlossenen Raum an der gegenüberliegenden Seite des Innenhofes. Sie schaut durch ein Fenster und sieht überall Sägespäne und Sägemehl. Es wird geklopft, gefeilt. Hier wird hart gearbeitet! Die Arbeiter tragen alle Mundschutz und sind weiß vom Sägemehl. Harte Arbeitsumstände, denn außer dem staubigen Sägemehl ist es auch unerträglich heiß.
Und plötzlich steht er vor ihr, bwana Farrah: groß, schlank, mit krausem Vollbart, großer Brille, blauem Overall, Ledersandalen, Frotteehandtuch um den Nacken gewickelt, Handy in der Gürteltasche. Er begrüßt Harriette mit einem strahlenden Lächeln. Perlweiße Zähne blinken ihr entgegen.
“Farrah”, sagt er und reicht ihr die Hand. “Und Sie sind Harriette, mit der ich soeben gesprochen habe?”.
“Ja, das bin ich”, erwidert sie mit einem Lächeln. Samira geht zurück in den Laden. Farrah führt Harriette in den Schauraum, wo es angenehm kühl ist. Sie setzen sich an einen der Tische und Harriette erzählt ihm, was sie nach Lamu führt und was ihre Pläne bezüglich Villa Waridi sind. Er hört ihr zu, wird aber ständig durch sein Handy unterbrochen. Dann steht er auf, spricht in Swahili, aber die paar Wortfetzen, die sie auffängt, lassen vermuten, dass es sich um geschäftliche Belange handelt: Lieferungen von Milchpulver aus Nairobi für ‘Whissip’, Leinöl für die Werkstatt und Bier für ‘Petley’s’. Petley’s Inn … gehört ihm das Hotel etwa auch? Und Alkoholausschank? Sie dachte immer, dass es hier im moslimischen Lamu keinen Alkohol gibt! Aber da hat sie sich geirrt. ‘Petley’s’ scheint der einzige Ort auf dieser Insel mit einer Ausschanklizenz für Alkohol zu sein, insbesondere Bier.
“Ohne Bier wäre der Umsatz von ‘Petley’s’ drastisch niedriger”, grinst Farrah, noch immer mit seinem Telefon am Ohr. Harriette fühlt sich durch die zahlreichen Unterbrechungen und die Hektik der Telefongespräche gestresst. Farrah, für Harriette der erste Kenianer mit europäischem Bewegungstempo. Bei Farrah geht alles schnell. Der Mann steht unter Adrenalin. Er regelt, bewerkstelligt, leitet. Was Farrah sagt, wird gemacht. Was man an Farrah heranträgt, wird auch gemacht. Farrah, König von Lamu? Jeder kennt ihn, jeder respektiert ihn, jeder achtet ihn. Viele beneiden ihn. Farrah, der erfolgreiche Geschäftsmann auf Lamu. Farrah ist überall. Farrah hat wenig Zeit. Ja, dieser Mann ist lebenstüchtig! Dann schlägt er ihr vor, sich am Abend auf der Dachterrasse von Petley’s zu treffen:
“So haben wir mehr Ruhe, um zu sprechen”, und er wird seine Frau Alice mitbringen. Farrah verabschiedet sich und eilt zurück in seine Werkstadt. Harriette bleibt zurück im Schauraum. Sie schaut sich alles genau an. Mit welch einer Präzision hier gearbeitet wird! Wirklich beeindruckend! Die Preise sind auch beeindruckend. Na, bei diesen Preisen kann ich vielleicht ein oder zwei Einzelstücke kaufen, mehr ist nicht drin, sagt sie sich.
Harriette gönnt sich einen dieser herrlichen Milchshakes im ‘Whissip’. Es ist ruhig dort. Sie läuft durch den Coffee-shop und setzt sich in den kleinen schattigen Innenhof mit weißen Sonnenschirmen. In den Ecken stehen dekorative, große Pflanzenkübel mit Bananenstauden und Bambusgewächs.
Eine grüne Oase inmitten der Stadt. Vom Innenhof aus kann man die Theke im Coffee-shop gut sehen und beobachten, wie Cappuccinos aufgebrüht, Karottenkuchen angeschnitten und große Portionen Eis in Gläser gefüllt werden. Dort, am Ort des Geschehens, steht eine hochgewachsene weiße Frau mit langem, grau-blondem, schütterem Haar, das sie lässig hochgesteckt hat. Ein gezwirbeltes Tuch ist direkt am Haaransatz um ihren Kopf geschlungen und am Hinterkopf zusammengeknotet. Harriette schätzt sie um die fünfzig Jahre. Sie trägt ein dunkelblaues, wadenlanges Samtkleid mit V-Ausschnitt und kurzen Ärmeln, schwarze flache Ledersandalen und um ihre schlanke Taille einen breiten, reich verzierten Gürtel. Ihre langen, schlanken Hände sind überladen mit Silberringen, alle im Ethnostil, indisch oder indonesisch.
Zu viel des Guten, aber irgendwie passt es zu ihr, ist Harriettes erster Gedanke. Diese Frau hat etwas Hexenhaftes. Diese langen, mageren Arme, schmalen Lippen, großen blaugrauen, messerscharfen Augen, die alles registrieren. Sie scheint einen Lieferschein zu prüfen. Das muss Alice sein, ist ihr dritter Gedanke. Und dann - diese Frau passt nicht zu ihm. Sie wundert sich über diesen Gedanken, denn sie kennt weder Farrah noch Alice. Aber sie bleibt dabei: sie passt nicht zu ihm.
Als Harriette sich verabschiedet, schaut die große weiße Frau nicht einmal auf, wer von ihren Gästen da “bye bye” ruft, sie scheint zu beschäftigt zu sein.
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Harriette steht auf der Balustrade von ‘Petley’s’ Dachterrasse. Sie betrachtet den rötlichen Abendhimmel und das rege Treiben unten auf der Promenade. Fischerboote, die anlegen; Fischer, die am Kai ihre Netze zum Trocknen ausbreiten; Straßenhändler, die Mangos und Fisch verkaufen; zahlreiche herumstreunende Katzen, die hartnäckig versuchen, ein Stückchen Fisch zu ergattern. Allabendliches Bild von Lamu. Harriette wartet auf Farrah und Alice. Sie haben sich hier oben um sieben Uhr verabredet. Sie bestellt ein Bitter Lemon und macht es sich auf einer der vielen Swahili-Bänke mit den großen, bunten Kissen bequem. Es wird schnell dunkel am Äquator. Innerhalb einer halben Stunde ist die Sonne untergegangen. Auf der Dachterrasse und unten auf der Promenade werden Kerosinlampen angezündet. Harriette ist froh, lange Hosen und ein langärmeliges Leinenhemd angezogen zu haben, denn die ersten Moskitos sind bereits zu hören. Langsam füllt es sich auf ‘Petley’s’ Dachterrasse, die ein Treffpunkt für Mzungus zu sein scheint. Ein paar Touristen machen sich an der Theke breit und bestellen Tusker-Bier. Im Hintergrund wird ‘Kronkronhinko’ gespielt von Ayub Ogada, einem bekannten kenianischen Sänger. Immer mehr Touristen finden sich ein. Lebhaftes Getümmel. Um acht Uhr noch immer kein Farrah und Alice in Sicht. Haben sie sich in der Zeit geirrt? Oder dem Ort? Endlich - gegen halb neun - erscheinen sie. Es ist, als ob die beiden nicht hierher gehören, hier zwischen all diesen Bermuda-T-Shirt-Touristen.
Farrah trägt schwarze, weite Baumwollhosen und ein langes, weites Hemd mit großen schwarz-weißen Mustern, wie man es auf Bali finden kann. Schwarze Lederslipper und einen Hut! Einen schwarzen Lederhut. Eine extravagante Erscheinung, etwas zu viel, findet Harriette, aber dann - gleich hinter ihm - folgt die große weiße Frau vom ‘Whissip’. Harriette fand sie bereits am Nachmittag extravagant, aber jetzt, jetzt scheint sie zu einer Galavorstellung zu gehen: Schwarze weite Pumphose mit schwarzem, enganliegendem Spitzenoberteil, das Dekolleté schwer behangen mit Silberketten und Amuletten, das Haar wieder hochgesteckt und wieder ein gezwirbeltes Tuch um den Kopf geknotet, lange Silberohrhänger mit roten und türkisfarbenen Steinen. Ihre schmalen Oberarme mit zahlreichen schweren Silberreifen dekoriert. Die beiden haben ihren Auftritt, das ist gewiss, aber es erscheint zu viel des Guten - und für wen, für was? Harriette irrt sich. Die beiden gehören hierher - dies ist ihre Insel, ihr Territorium, ihr Königreich, und ein Königspaar muss sich unterscheiden vom einfachen Fußvolk. Farrah spricht mit dem Mann hinter der Bar. Es ist deutlich: hier spricht der Chef des Hauses. Alice steht dicht neben ihm.
Und dann nähert sich Farrah Harriette, setzt sich auf eine der noch freien Bänke und entschuldigt sich