Der Masanao Adler. Dieter R. Fuchs

Der Masanao Adler - Dieter R. Fuchs


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auf Südostasien als Ursprung hin, vielleicht Indonesien. Den Inhalt vergaß ich sofort wieder, er erschien mir nur für den früheren Besitzer von ideellem Wert gewesen zu sein. Die Schatulle selbst hatte ich damals mit etwa fünfhundert Euro taxiert. Die Intarsien waren kein Elfenbein, wie der Auktionator durch mich bestätigt haben wollte, sondern Bein, also Knochen, vielleicht von einem Rind oder Kamel. Seine Bezeichnung im Auktionskatalog war also absolut korrekt. Das war es damals für mich. Ich wünschte noch viel Erfolg für die Auktion und vergaß diese ganze Sache – bis letztes Jahr, wie ihr euch vorstellen könnt!«

      Marco machte an dieser Stelle eine Pause, um Raum für Rückfragen und Diskussionen zu lassen und die kamen natürlich prompt. Seine Kollegen hatten am Nachmittag bereits viele Details zu einzelnen Inhalten der Schatulle aus seinem Vortrag erfahren und kannten die erstaunlichen Übereinstimmungen bisheriger Analysedaten mit einzelnen Texten. Frank hätte gerne mehr über gesicherte Altersbestimmungen zu den Papieren gewusst. Rebecca sprudelte gleich mehrere Fragen heraus zu vorhandenen Archivhinweisen auf diese Schatulle in den Büchern des Würzburger Auktionshauses. Tomomi, die schon länger eingeweiht war, hob nochmals die gute Übereinstimmung der neuen Messergebnisse mit der Afrika-Geschichte hervor. Sie wies zudem darauf hin, dass bereits weitere Analysen hier im UNTACH, aber auch extern in Speziallaboratorien in Auftrag gegeben worden seien. In den nächsten Tagen erwarte sie weitere Informationen zu den alten Dokumenten. Was alle gleichermaßen bewegte, war dieser unglaubliche Zufall, dass Marco früher auf eine vielleicht sensationell hilfreiche Dokumentensammlung zu ihrem Untersuchungsobjekt gestoßen war und dass diese zu ihrer Verfügung stand.

      Beim nun servierten zweiten Gang ihres Menüs, begleitet von einem ausgezeichneten Glas Pouilly Fumé, wurde es wieder stiller. Sie genossen konzentriert die Jakobsmuscheln mit einer raffinierten Chili-Ingwer-Soße und nutzten die kleine Pause zum Reflektieren der gerade gehörten Erzählung.

      Als die Teller abgeräumt und die Gläser erneut aufgefüllt waren, schwärmte Marco: »Ahh, zu Meeresfrüchten passt dieser Weiße von der Loire einfach perfekt!«, um danach seine Geschichte fortzusetzen: »Zurück zu unserem Thema. Ihr könnt bestimmt nachvollziehen, dass ich im März 2035, also im letzten Frühjahr, beim Lesen des Ausschreibungstextes für unser Projekt zunächst keinerlei Erinnerung an jenen Vorgang vor zwanzig Jahren hatte. Als ich mir im Rahmen der Antragsausarbeitung in den folgenden Wochen jedoch detailliertere Fotos des zu studierenden Netsuke besorgt hatte, fiel mir die Federstruktur auf der hinteren Hälfte des Kunststoffkästchen aus jener Holzschatulle plötzlich wieder ein. Die Ähnlichkeit mit der Rückseite des Netsuke war augenfällig, zumal mir der damalige Hinweis auf Masanao ins Gedächtnis kam.

      Als Wissenschaftler denkt man üblicherweise nicht in Kategorien wie ›Zufall‹ oder ›Schicksal‹ sondern eher in solchen wie ›Logik‹ oder ›Wahrscheinlichkeit‹. Es erschien mir völlig absurd, dass ich ausgerechnet zu diesem Netsuke, auf dessen Monografie-Forschungsprojekt ich mich gerade bei UNTACH in China bewarb, vor zwanzig Jahren in Würzburg das dazu gehörende Behältnis samt zahlreicher Unterlagen gesehen haben sollte. So etwas passiert nicht, so viel Glück kann man gar nicht haben! Dennoch: Einfach ignorieren ging natürlich nicht und ich bekam diese verrückte Idee sowieso nicht mehr aus meinem Kopf. Ich fing also an, neben der Weiterarbeit am Antragstext ein paar Erkundigungen einzuziehen. Dieses Auktionshaus in Würzburg gab es nicht mehr, das war schnell recherchiert. In meiner alten Kontaktdatenbank fand ich den Namen meines damaligen Gesprächspartners, der inzwischen als Rentner am Gardasee lebte. Da er gelegentlich freiberuflich kleinere Aufträge übernahm, war er via Social Network sowie Mitgliederliste des Deutschen Dachverbandes der Auktionatoren auffindbar.

      Als ich ihn kontaktierte, erinnerte er sich nicht mehr an mich, verwies mich aber immerhin an die Witwe des früheren Inhabers des Auktionshauses. Aus Pietät hätte sie die alten Geschäftsunterlagen angeblich nicht vernichtet. Die Bibliothek in ihrer Villa in Volkach, einem kleinen Weinort nicht weit von Würzburg, existiere noch unverändert, einschließlich der alten Einlieferungs- und Versteigerungslisten. Der Pensionär hatte in den vergangenen Jahren diesen Fundus mehrmals mit Erlaubnis seiner früheren Chefin benutzt und war sich sicher, dass man mir gerne Einsicht geben würde – was auch der Fall war.

      Wie ihr wisst, war ich das ganze letzte Jahr im Getty Conservation Institute in Los Angeles beschäftigt. Ich bat daher einen befreundeten Professor an der Goethe-Universität Frankfurt, ob er eine seiner studentischen Hilfskräfte vielleicht für zwei oder drei Tage entbehren könnte, um für mich eine kleine Recherche in Franken durchzuführen. Spesenersatz und Honorarzahlung wären selbstverständlich. Unkompliziert brachte der Kollege mich in Kontakt zu einem seiner Studenten, der sich der Aufgabe annahm. Wie ihr sicher schon vermutet, fand er diese Eintragungen. Ich hatte nun Namen und Kontaktdaten, sowohl zur Einlieferung als auch zu der Person, die das Objekt ersteigert hatte.«

      Während Marco erzählte, wurde er mehrfach unterbrochen und musste etliche Fragen beantworten. Gerne schmückte er dies mit amüsanten Anekdoten aus seiner damaligen Zusammenarbeit mit der Universität in Frankfurt aus. So verging die Zeit und bald kam der Kellner zurück. Man legte wieder eine kleine Pause ein und widmete die volle Aufmerksamkeit dem dritten Gang, einer Rehterrine mit Preiselbeeren und einem kleinen Sellerietatar, dazu ein kleines Glas trockenen Sauternes. Genüsslich und schweigend wurde weiter gespeist.

      Marco ließ hierbei seine Erinnerungen zum Ergebnis der Recherche Revue passieren: Die erhoffte Eintragung zur nächsten Station der Schatulle hatte sich in der Versteigerungsliste einer Auktion vom 06.06.2016 befunden: Zuschlag bei 630 Euro, Telefonbieter R 743-A, postalisch geliefert an Prof. Dr. Norbert Heffner, Hansastraße 35, 81373 München. Zahlung per Einzugsermächtigung. Unwillkürlich musste er über seinen damaligen Optimismus schmunzeln. Als ihm die Informationen zugingen – also im April 2035 – hatte Marco wirklich gehofft, den Aufenthaltsort der Schatulle rasch klären und diese erwerben zu können. Es wäre toll gewesen, seinen Antrag mit solchen Informationen anzureichern. Als Abgabetermin war der einunddreißigste Mai 2035 vorgegeben. Es wurde jedoch alles andere als einfach, an dieses Objekt heranzukommen, das vielleicht ein Schlüssel zur langen Historie des Masanao-Netsuke sein könnte.

      »Liebe Kolleginnen und lieber Frank«, wandte sich Marco nach dem Abräumen des Geschirrs wieder an sein Team, »es würde heute Abend zu weit führen, die nächsten Schritte und Komplikationen ausführlich zu erzählen, die dann folgten. Ich will mich bei diesem Teil der Geschichte kurzfassen. Meine eigenen Versuche, anhand der in Volkach gewonnenen Erkenntnisse der Schatulle auf die Spur zu kommen, scheiterten leider kläglich. Name und Adresse der Person in München, die das Konvolut ersteigert hatte, erwiesen sich als Sackgasse. Ich beauftragte daher im September letzten Jahres eine auf das Auffinden von Kunst und Antiquitäten spezialisierte Detektei in Berlin, den aktuellen Aufenthaltsort zu recherchieren. Dieser Detektei gegenüber erklärte ich mein Interesse an dieser Schatulle und den enormen Mitteleinsatz damit, dass es sich um ein verschollenes Familienerbstück von höchstem, ideellem Wert für mich handelte. Wie ihr aus den offiziellen Projektunterlagen wisst, lag mir zu diesem Zeitpunkt erfreulicherweise die vorläufige Mitteilung aus Peking bereits vor, dass man mir die Leitung dieses Forschungsprojekts zu übertragen gedachte. Die endgültige Beauftragung und Mittelfreigabe kamen bereits drei Wochen später.

      Meine Investition lohnte sich, obwohl die Beauftragung der Detektei ein gewisses persönliches Risiko in sich trug, da ich dies aus meinen Privatmitteln vorfinanzieren musste. Projektstart war der erste April 2036 und vorher hatte ich noch keinen Zugriff auf das Projekt-Budget. Glaubt mir, mehrere Wochen Detekteikosten samt Spesen ergab ein hübsches Sümmchen Geld! Aber wie so oft: Mut macht sich bezahlt!

      Nach etlichen Verwicklungen und Umwegen konnte mir die Detektei Ende Februar den Aufenthaltsort der Schatulle mitteilen. Sie sollte sich im Besitz eines Privatmannes in London befinden, der sie in einem Trödelgeschäft in der Portobello Road für zweihundert Pfund erworben hatte. Die diversen Zwischenstationen von München bis London, die die Detektei ermittelt hatte und mir der Vollständigkeit halber ebenfalls detailliert mitteilte, will ich hier überspringen. Nach einem Telefonat mit dieser Person, einem sehr netten älteren Inder, war klar, dass er sich in Anbetracht der für mich persönlichen Bedeutung dieses Objekts gerne wieder davon trennen wolle.

      Ich hatte wieder die rührende Geschichte meines angeblichen Familienerbstücks erzählt – schamlos,


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