Der Masanao Adler. Dieter R. Fuchs
in direkter Nachbarschaft des Science Club zu treffen. Es bestand bislang wenig Gelegenheit, sich näher kennenzulernen und daher stimmten die anderen sofort zu. Claudia buchte einen Tisch, vorsorglich für fünf Personen, schickte die obligatorischen Daten an die Rolix ihrer drei Kollegen und eine kleine Info an Marco, sodass dieser wusste, wo seine Mitarbeiter zu finden waren, falls er dazustoßen wollte.
Während Tomomi bereits vor sechs Wochen, also nur vierzehn Tage nach ihrem Chef in Peking angekommen war, hatten Rebecca, Claudia und Frank erst vor zwei Wochen ihre Arbeit bei UNTACH aufgenommen. Fast die gesamte erste Woche waren sie mit administrativen und organisatorischen Dingen beschäftigt, um sich und ihre Projektgruppe überall zu registrieren, mit den notwendigen Arbeitsmitteln auszustatten und die persönlichen Dinge zu regeln. Mit einem solchen Neustart in dieser, für sie alle noch ungewohnten Umgebung waren viele Umstellungen verbunden, für die ihnen Marco angemessen Zeit einräumte.
Gleich am ersten Abend gab er ein kurzes Welcome Dinner, bei dem er ihnen in groben Zügen den Ablauf der nächsten Wochen skizzierte. Marco verzichtete darauf, seine noch durch die weite Anreise und die langwierigen Sicherheitskontrollen beim Betreten des UNTACH sichtlich gezeichneten Mitarbeiter mit zu viel Fachlichem zu überhäufen. Stattdessen stimmte er sie mehr emotional auf die Arbeit in dieser speziellen Umgebung und insbesondere in ihrem Projekt ein und vermittelte ihnen seine Vorstellungen von guter Team-Arbeit und vom faszinierenden Potential ihres Forschungsprojekts. Nach diesem von allen als sehr angenehm empfundenen Abend übergab er jedem einen Speicherchip, auf dem er individuell wichtige Hintergrunddaten zu den anstehenden Aufgaben sowie Projekt-Dokumente und Listen mit interessanten Internet-Links zusammengestellt hatte. Sie sollten sich bei Gelegenheit einlesen und erste eigene Gedanken machen. In etwa einer Woche würde man wieder zusammenkommen und die vor ihnen liegende Arbeit gemeinsam strukturieren.
Nach zehn Tagen berief er das erste echte Team Meeting ein und man ging die Projektarbeit an. Da sie es kaum noch erwarten konnten, richtig loszulegen, begann ab diesem Tag die spannende gemeinsame Forschungsarbeit in einer Intensität, die wenig Zeit und Gedanken für private Treffen bot.
Aber diese Situation musste und sollte sich natürlich normalisieren, schließlich hatte man ein ganzes Jahr vor sich, das es nicht nur abzuarbeiten, sondern als wertvolle Lebenszeit angenehm zu gestalten galt. Das heutige Treffen vor dem Dinner könnte hierzu vielleicht ein guter Beginn sein, so empfand es das Team – und so war es auch.
Sie trafen alle vier fast gleichzeitig vor Rick´s Cafe ein, obwohl aus völlig unterschiedlichen und weit entfernten Wohnbereichen kommend – das Leitsystem ihrer Rolix funktionierte ausgezeichnet. Als sie die Tür öffneten, brandete ihnen ein lebendiges, vielsprachiges Stimmenwirrwarr entgegen, das die Musik fast völlig übertönte. Die Bar war krachvoll, wie an jedem Abend.
Frank ging voraus und bahnte ihnen trotz der Enge problemlos den Weg zum reservierten Tisch, seine drei Begleiterinnen im Schlepptau, die etliche Blicke auf sich zogen. Gut aussehende Frauen waren im UNTACH keineswegs selten, aber manche stachen eben doch aus der Menge heraus. Für den heutigen Abend hatten sich Claudia und Rebecca elegant gekleidet und wirkten noch attraktiver als sonst in ihren eher legeren, sportlichen Outfits, und die schrille Tomomi war sowieso überall ein Hingucker, wo sie auftauchte.
Ihr Tisch lag in einer Nische im hinteren Teil der Bar und war von der allgemeinen Lärmkulisse nicht zu sehr betroffen. Man konnte sich tatsächlich unterhalten, ohne zu schreien. Als sie ihre Drinks vor sich hatten, ergriff nach einigem Small Talk und dem ersten Zuprosten Claudia das Wort, um die Sache in Schwung zu bringen: »Also, ihr Lieben, nun arbeiten wir schon zwei volle Wochen an unserem Projekt, Tomomi sogar viel länger, aber irgendwie jeder für sich alleine und ohne dass wir bisher etwas gemeinsam unternommen haben, von den paar Kantinenbesuchen mal abgesehen. Klar, mehr war die erste Zeit gar nicht machbar, da wir bis über die Ohren damit beschäftigt waren, uns hier erstmal zurechtzufinden und das ganze Material durchzuarbeiten, mit dem uns Marco versorgt hatte. Inzwischen steckt jeder von uns außerdem bereits tief in der Facharbeit auf seinem Spezialgebiet. Ich sehe dies ja an der Informationsflut, die ihr täglich über mir ausschüttet, damit ich alles in unsere Projekt-Datenbank entsprechend einspeisen kann. Ihr seid echt produktiv! Aber nun lasst uns mal für ein Stündchen den ollen Masanao vergessen und über uns selbst reden - ich denke, das hast auch du, Rebecca, im Sinn gehabt, als du diese kleine ›Warming-up-Party‹ vor dem Dinner vorgeschlagen hast.«
Dem stimmten die anderen aus vollem Herzen zu. Nach einer halben Stunde und einem weiteren Drink war aus dem bisherigen Nebeneinander der Grundstein für ein Miteinander gelegt. Sie erzählten sich, wie jeder von ihnen durch Marco angeworben worden war, was sie an der Aufgabe besonders begeisterte und wie sie die Atmosphäre in dieser fremdartigen UNTACH-Umgebung jeweils empfanden. Das angenehm vertraut wirkende Gespräch brachte die vier näher zueinander, als es die ganzen Tage zuvor noch der Fall war. Sie spürten, dass jeder von ihnen trotz der so unterschiedlichen Temperamente, Fachgebiete und Erfahrungen in der Runde gleichermaßen willkommen, beteiligt und geschätzt war.
Als bei dem munteren Miteinander Tomomi plötzlich auffallend ruhig wurde und Rebekka nachhakte, ob etwas nicht in Ordnung sei, druckste die junge Japanerin nur kurz herum und antwortete dann offen: »Sorry, aber mir ist gerade bewusst geworden, wie locker und entspannt ihr über unser Projekt und das Netsuke sprechen und auch scherzen könnt. Mir fällt das seit vorhin etwas schwerer …« Auf Nachfragen rückte sie damit heraus, was sie gerade bedrückte: »Bitte haltet mich jetzt nicht für verrückt – aber ich glaube, die intensive Beschäftigung mit diesem kleinen Adler über die letzten Wochen hat etwas mit mir gemacht …«
Mit einem verunsicherten Augenaufschlag und Rundumblick fuhr sie etwas leiser fort: »Irgend etwas ist da von dem Netsuke auf mich übergesprungen. Also, ich meine – das Ding trägt etwas in sich, irgendetwas Magisches, und das hat sich in meinem Kopf festgesetzt. Als hätte es einen Zauber ausgestrahlt. Ich fühle mich fast wie fixiert auf diese Schnitzerei. Als Marco in seinem Vortrag auf die mysteriösen Zusammenhänge und ›eine geheime Botschaft‹ zu sprechen kam, hat das entsprechend starke Wirkung bei mir gehabt. Das ist mir gerade wieder klar geworden. Okay – nun haltet ihr mich definitiv für einen durchgeknallten Freak, stimmt´s?«
Nach kurzem, überraschtem Schweigen bemühten sich alle, Tomomi zu beruhigen. Schließlich sei sie diejenige unter ihnen, von Marco abgesehen, die bisher am längsten und intensivsten Kontakt mit dem Netsuke hatte. Da sei es nachvollziehbar, dass sie eine besondere, warum nicht quasi ›spirituelle‹ Beziehung zu dem kleinen Adler empfinde. Ein wenig gespenstisch käme es inzwischen allen vor, was sich da um dieses Objekt zu ranken schien.
Claudia fasste nach einer Weile lächelnd zusammen: »Also mach dir keinen Kopf, Tomomi – ein bisschen Magie kann uns überhaupt nicht schaden bei diesem Projekt. Ohne werden wir uns an so manchen Fragen die Zähne ausbeißen, so habe zumindest ich das Gefühl. Allerdings würde ich dir empfehlen, gegenüber Marco nicht von deinen seltsamen Empfindungen zu sprechen: Gegen Esoterisches ist unser Superforscher etwas allergisch!«
Tomomi lächelte dankbar zurück und machte deutlich, dass sie wirklich dankbar war für die nette Art, wie die anderen ihre Gefühle ernst nahmen und nicht ins Lächerliche zogen. Die Unterhaltung wanderte schließlich zu anderen Themen weiter und die Harmonie im Team wurde von Minute zu Minute intensiver.
Frank brachte es auf den Punkt: »Also Ladies, langsam wird mir der gute Marco etwas unheimlich. Nein, keine Angst, ich komme euch jetzt nicht mit seiner einfach unglaublich tollen Präsentation heute oder seiner mysteriösen Schatulle. Ich meine sein Gespür bei der Personalauswahl! Ihr wisst inzwischen, ich bin eher der reservierte Typ. Aber kann euch versichern, dass ich noch nie so ein gutes Gefühl hatte, was die zukünftige Zusammenarbeit mit meinen direkten Kolleginnen angeht! Ich glaube, das passt einfach super. Wir werden dieses Jahr in den Katakomben dieser Kunstwelt im UNTACH sicher nicht nur gut aushalten, sondern uns dabei als Clique ganz bestimmt sauwohl fühlen!«
In dieser guten Stimmung ging die Unterhaltung weiter, bis plötzlich ein freundschaftlicher Klaps auf der Schulter von Frank landete.
»Nur gut, dass ich einen wahren Riesen im Team habe – so findet man euch immer leicht, sogar in diesem Chaos hier! Hallo zusammen. Wie ich sehe, habt ihr euch schon eingestimmt auf den gemeinsamen Abend, das