Der Masanao Adler. Dieter R. Fuchs
wissenschaftlichen Bearbeitung der Sammlungsbestände erfolgte durch tausende Gastforscher aus aller Welt. Diese mussten während ihrer Zeit bei UNTACH fast durchgängig vor Ort im Gebäudekomplex logieren, da das komplizierte und zeitaufwändige Zugangsprocedere für ein tägliches Pendeln von innen nach außen und umgekehrt nicht praktikabel war. Hier war quasi abgeschottet von der Megastadt Peking eine eigene, futuristische Stadt entstanden!
Für die Kunstobjekte selbst war die Entscheidung über ihre Aufnahme in die Sammlung in der Regel eine Einbahnstraße. Einmal archiviert, würden sie – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nie mehr diese kulturelle Schatzkammer verlassen, sondern künftig ausschließlich innerhalb des UNTACH interessierten Experten für Studien- und Forschungszwecke zur Verfügung stehen. Der Zugang zu den Sammlungen basierte auf einem sehr restriktiven Auswahlverfahren durch international besetzte Fachgremien und sah nur eine zeitbegrenzte und räumlich selektive Zutrittserlaubnis vor.
Genau diese Hürde musste Yamagata Aritomo für seine Pläne überwinden, denn in diesem Gebäude befanden sich Informationen, die selbst für ihn mit seinen weitreichenden Möglichkeiten seit der Einlieferung des Masanao-Netsuke ins UNTACH-Archiv unerreichbar geworden waren. Aber er war davon überzeugt, dass ihm mit Doktor Marco Renke und dessen Forschungsteam die perfekte Lösung seiner Probleme gelingen würde, ohne unnötige Risiken und auf höchst elegante Weise.
The Wall
Als Marco kurz vor vierzehn Uhr den Empfangsbereich vor dem Sitzungsraum VR-16.009-A erreichte, saß sein komplettes Team bereits in der kleinen, luxuriös ausgestatteten Lounge. Er erfasste mit einem Blick, dass sie wohl schon eine Weile hier versammelt waren, wie man an den diversen ausgetrunkenen Gläsern und den dezimierten Resten verschiedener Snacks auf ihren Tellern sah. Sie waren sichtlich aufgekratzt in eine angeregte Diskussion vertieft und er musste schmunzeln, weil er sich sehr gut in ihre Lage versetzen konnte. Dreißig oder vierzig Jahre zuvor hätte er noch ähnlich empfunden und sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, in so exklusiver Atmosphäre die Vorfreude auf ein besonderes Erlebnis zu genießen.
Seine Mitarbeiter waren bis auf eine Ausnahme noch verhältnismäßig jung, jedenfalls im Vergleich zu ihm selbst und zum sonst üblichen Altersdurchschnitt auf dem UNTACH-Gelände. Aber jeder einzelne von ihnen besaß sehr spezielle Kompetenzen und Stärken, aufgrund derer er sie in dieser Konstellation ausgewählt hatte. Und vor allem: Sie harmonierten miteinander und ergänzten sich zu einem kreativen und leistungsfähigen Team.
Da war Doktor Frank Kramer, vierunddreißig Jahre alt, deutscher Kunsthistoriker mit Schwerpunkt Asiatika des achtzehnten Jahrhunderts, der sich nach seiner Magister-Arbeit auf japanische Volkskunst spezialisiert hatte. Er arbeitete neben seinen Studien seit fast zehn Jahren freiberuflich für verschiedene Auktionshäuser und Museen, sowie in letzter Zeit fallweise als Lektor für einen Fachverlag. Frank hatte erst vor einem Jahr an der Tongji Universität in Shanghai seine Promotionsarbeit über Handwerksgilden und Meisterschulen der Edo-Zeit abgeschlossen. Er verfügte über exzellentes Quellenwissen und ein feines Händchen, wenn es um das Auffinden und Auswerten sogenannter ›grauer Literatur‹ ging – also von Dokumenten, die nicht leicht oder gar nicht in den gängigen Datenbanken oder Bibliotheken zu finden waren. Da er seit seinem neunzehnten Lebensjahr in China gelebt hatte, sprach er ausgezeichnetes Mandarin-Chinesisch, besaß solide Kenntnisse in Japanisch und kam auch mit einigen veralteten ostasiatischen Schriftzeichen-Systemen zurecht. Frank war ein sehr zurückhaltender Typ, eher wortkarg, der wenig Privates von sich preisgab. Der gebürtige Hamburger blieb gerne im Hintergrund, was rein physisch bei seinem massigen Körper und über zwei Meter Größe nicht immer einfach war, weil er optisch überall herausragte. Aber er war bei aller Zurückhaltung nicht ungesellig und verblüffte seine Umgebung oft mit einem originellen, erfrischenden Humor.
Ganz anders wirkte Rebecca El Rouni. Die zierliche siebenundzwanzigjährige Tunesierin mit zusätzlicher französischer Staatsbürgerschaft war verbal und mit ihrer ausdrucksstarken, manchmal fast theatralischen Gestik der Wirbelwind im Team. Dieses Energiebündel riss sie alle immer wieder mit, selbst bei Themen, die eigentlich eher trocken waren. Mit ihrer gazellenhaft schlanken und sportlichen Figur und dem ungebändigten schwarzen Lockenkopf, der ihr hübsches Gesicht umrahmte, war sie eine echte Schönheit. Sie hatte einen Bachelor-Abschluss als Bibliothekarin, erworben von der Fern-Universität Hagen und einen Master der niederländischen Open Universiteit Nederland im Spezialgebiet Datenbankarchitektur. Rebecca war im Team außerdem die beste IT-Expertin, die mit Suchmaschinen, interaktiven Datenbank-Systemen und Recherche-Algorithmen so virtuos umging, dass es ihnen allen vom Zuhören und Zusehen fast schwindelig wurde. Sie sprach Arabisch, Deutsch, Französisch, Englisch und Spanisch, denn als Tochter eines EUDiplomaten hatte sie trotz ihrer Jugend bereits in sechs Ländern gelebt. Mit ihrem angeborenen Enthusiasmus, gewinnenden Wesen und ihrer interkulturellen Kompetenz war sie zudem, wenn auch noch ohne jegliche praktische Berufserfahrung, die optimale Verbindungsperson zu anderen Arbeitsgruppen und Experten im Haus.
Das Team-Mitglied mit der längsten Berufserfahrung war die sechsundfünfzigjährige Claudia Mentrose, eine großgewachsene Amerikanerin mit deutsch-britischen Wurzeln. Mit ihrem ausdrucksstarken, markanten Gesicht, der rotblonden Mähne und ihrer muskulösen Statur wirkte sie auf manche wie eine nordische Kriegsgöttin. Sie hatte über dreißig Arbeitsjahre im Bereich Informationsbeschaffung und -archivierung einer der CIA zuzuordnenden Behörde an verschiedensten Standorten der Welt verbracht, unter anderem zehn Jahre lang in Berlin. Die letzten vier Jahre ihrer aktiven Berufstätigkeit war sie in der Zentrale in Langley als zweite Referentin des stellvertretenden Direktors tätig. Nachdem sie vor drei Jahren ihre Stellung dort aufgrund einer Umstrukturierung verloren hatte, setzte sie sich zur Ruhe und lebte seither in der Schweiz im schönen Urlaubsort Davos. Finanziell unabhängig war sie aufgrund einer vorteilhaften Scheidung sowie einiger gewinnbringender Börsenanlagen schon lange. Eigentlich wollte sie diese Unabhängigkeit und die reichliche Freizeit nutzen, um einen Roman zu schreiben, in dem sie ihre schillernden Lebenserfahrungen gleichermaßen spannend wie amüsant aufbereitete. Dies stellte sich jedoch rasch bei Berücksichtigung ihrer lebenslang wirksamen Geheimhaltungsauflagen als unmöglich heraus und machte ihren schriftstellerischen Ambitionen ein Ende. Am Schreiben rein fiktiver Prosa hatte Claudia kein Interesse. Es sollte schon etwas Dokumentarisches sein, was mit ihrem Leben oder zumindest realen Hintergründen zu tun hatte. Also war sie seit zwei Jahren in gewisser Weise auf neuer Sinnsuche und das Angebot, bei Marcos Projekt einzusteigen, kam ihr gerade recht. Die ehemalige Geheimdienstlerin war der organisatorische Ruhepol und Kommunikationsangelpunkt im Team. Sie besaß bei ihren ›manchmal leicht verpeilten Wissenschaftler-Kreativen‹, wie sie es scherzhaft nannte, einen immer wieder hilfreichen ordnenden Einfluss und wurde von ihnen als Respektsperson geschätzt.
Tomomi Kasai schließlich komplettierte das Team als jüngste Mitarbeiterin. Die vierundzwanzigjährige Japanerin hatte gerade mit Auszeichnung an der Technischen Universität in München ihren Abschluss in Analytischer Chemie gemacht. Ihre Master-Arbeit war nicht experimenteller Natur, sondern stellte anhand einer prägnanten Zusammenstellung und Bewertung unterschiedlichster Analysemethoden eine wertvolle Entscheidungshilfe für die Bereiche Kulturgüterschutz und Museumstechnologie dar. Auf der Basis ihrer theoretischen Ausarbeitung hatten Konservatoren und Kustoden einen hervorragend strukturierten Leitfaden zur Hand, um für unterschiedlichste Materialien an Kunstgegenständen und Kulturgütern die optimalen Beprobungstechniken und Untersuchungsmethoden auszuwählen.
Das lebhafte Geplauder seiner Mitarbeiter ebbte sofort ab, als Marco Renke die Lounge betrat, und er hatte ihre volle Aufmerksamkeit.
»Okay, Leute! Dann ist jetzt der große Augenblick da. Hat jemand eine CD von Pink Floyd mitgebracht, damit wir uns drinnen angemessen einstimmen können?«
Nur Claudia antwortete mit einem herzhaften Lachen: »Hey, Boss, glaubst du wirklich, deinen Küken hier sagt die Rock-Musik der späten siebziger Jahre noch was? Eine CD haben wohl nur die wenigsten von ihnen in Realität gesehen, seit MP-3-Uraltzeiten läuft inzwischen alles auf Audio-Sticks.«
Ein Rundblick über die eher fragenden Gesichter der anderen ließ ihn schmunzeln. »Oh je, so wenig wirkliche Kultur-Kompetenz um mich herum, und das mitten im Herzen des Kulturgüter-Zentrums der Vereinten Nationen!«
Das legendäre