Der Masanao Adler. Dieter R. Fuchs

Der Masanao Adler - Dieter R. Fuchs


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Ein Meeting in jenem High-Tech-Besprechungsraum, von dem sie als ›The Wall‹, also ›Die Wand‹ schon so viel gehört hatten. Es blieb keine Zeit für eine neugierige Nachfrage, die ihr auf den Lippen lag, denn Marco war bereits aus dem Raum geeilt. Sie hörte ihn draußen im Vorzimmer noch kurz einige Anweisungen an Claudia erteilen, die soeben ihr Büro betreten hatte, und schon war er weg.

      Zur gleichen Zeit stand etwa zwei Kilometer von ihrem Standort entfernt ein Mann an der Fensterfront des Penthouse, in der obersten Etage des Tamagi-Towers. Er war schlank, hochgewachsen und strahlte mit seinem fast weißen Bürstenhaarschnitt und den markanten, hart wirkenden Gesichtszügen Stärke und Macht aus. Sein Blick war starr in Richtung des UNTACH-Geländes gerichtet. Hätten die beiden Wissenschaftler dort von seiner Existenz und seinen Gedanken gewusst, hätte sie dies sicherlich in noch größere Verwirrung gestürzt als jene, in der sie schon jetzt waren. Denn das Objekt seiner Gedanken und Sehnsüchte war exakt jenes Netsuke mit der Signatur ›Masanao‹, das bei ihnen in der Wandvitrine lag. Diese kleine Elfenbein-Schnitzerei war seit einigen Jahren im Fokus vieler seiner Überlegungen und Aktivitäten.

      Im Gegensatz zu den beiden UNTACH-Wissenschaftlern war für Yamagata Aritomo das Adler-Netsuke allerdings unerreichbar. Er kannte es sehr genau durch diverse Zeichnungen und Fotografien sowie zahlreiche Texte und Expertisen, hatte es jedoch nie im Original gesehen oder in seinen Händen gehalten. Es war ihm aber aus den Erzählungen und eindringlichen Anweisungen seines Vaters sehr vertraut. Alle die damals für ihn als kleinem Jungen zwar spannenden, aber wie Märchen erscheinenden Geschichten lagen nun, ein halbes Jahrhundert später, wie in einem undurchdringlichen Nebel diffuser Erinnerungen. Als sein Vater viel zu früh verstarb, er selbst war damals gerade vierzehn Jahre alt, erlosch für immer die Chance, ihn näher zu diesem Thema zu befragen. Aber unbewusst war in seinem Verstand verankert, dass dieses Netsuke ein Geheimnis barg, das er entschlüsseln musste, wollte er seinen Seelenfrieden finden.

      Doch es kamen zunächst viele Jahre voller anderer Pflichten und die Kindheitserinnerungen an das Familienerbstück blieben in Yamagata verschollen. Dann wurde ihm vor vier Jahren anlässlich seines sechzigsten Geburtstags völlig überraschend durch den Anwalt der Familie ein Nachtrag zum Testament seines Vaters übergeben, so wie es dieser im Jahr 1985, ein Jahr vor seinem Tod verfügt hatte. Der Inhalt dieses testamentarischen Dokuments, zu dem ein Notizbuch und eine Dokumentenmappe mit historischen Zeichnungen und Plänen gehörten, bewegte ihn zutiefst. Von jenem Moment an wurde aus einer vagen Erinnerung eine Passion, mit einer für ihn hohen persönlichen Priorität.

      Yamagata Aritomo zwang sich dazu, die immer wieder nach vorne drängenden Gedanken an seine Familiengeschichte und an das Masanao-Netsuke für einige Minuten auszublenden und seinen Blick vom UNTACH-Komplex abzuwenden. Er ließ seine Augen stattdessen bewusst über die Stadt zu seinen Füßen schweifen. Obwohl er so oft hier oben gestanden hatte, genoss er den grandiosen Ausblick aus seinen Privaträumlichkeiten in vierhundertfünfzig Metern Höhe auf die Skyline von Peking immer wieder aufs Neue. In den sieben Etagen unter dem Penthouse befanden sich die Büros, das Kommunikation- und Logistikzentrum sowie diverse Konferenzräume und Gästesuiten der chinesischen Tochterfirma des japanischen Tamagi-Konzerns, den er als Vorstandsvorsitzender seit fast zwanzig Jahren leitete.

      Er liebte es, möglichst viel Zeit hier in der Hauptstadt Chinas zu verbringen, jener Stadt, die nicht nur nach seiner eigenen Bewertung zunehmend die Schaltzentrale der Weltwirtschaft darstellte. Yamagata hatte außerdem eine ganz besondere persönliche Verbindung zu Peking. Insbesondere zu jenem Areal, das sich nicht allzu weit von seinem Domizil entfernt durch eine riesige Grundfläche und verhältnismäßig geringe Höhe aus dem Meer der Wolkenkratzer abzeichnete: dem UNTACH-Komplex. Wieder wurde sein Blick von dessen flachen Konturen gefesselt und die ständigen Gedanken an das Netsuke waren sofort wieder präsent.

      Ein leichtes Lächeln glitt über seine Züge, als er sich vorstellte, dass dort in diesem Moment Doktor Marco Renke an der Lösung seiner Probleme arbeitete, ohne dies zu wissen. Inzwischen mussten Renke sicher die Analyseergebnisse aus Grenoble vorliegen, deren Kopie samt Übersetzung der Kernaussagen ins Japanische er selbst bereits seit zwei Stunden auf seinem Schreibtisch hatte. Zunächst war Yamagata enttäuscht gewesen von den dort enthaltenen Informationen, denn sie stellten für seine eigentlichen Ziele keinen wirklichen Fortschritt dar. Doch andererseits gab ihm die Vorgehensweise von Marco Renke die Gewissheit, dass dieser sich wie erhofft mit Kompetenz seinem Forschungsauftrag widmete. Der Japaner fühlte sich bestätigt, dass man mit diesem Wissenschaftler die richtige personelle Wahl getroffen hatte.

      Yamagata war ein mächtiger Mann, der es seit jungen Jahren gewohnt war, Menschen zu manipulieren und Strategien zum Nutzen seiner Familie und seiner Firma zu entwerfen sowie konsequent umzusetzen. Genauso fokussiert und klug, wie er als Konzernlenker agierte, hatte er jene privaten Pläne geschmiedet und auf den Weg gebracht, die ihm mit zunehmendem Alter mehr als alles andere am Herzen lagen. Die aktuelle Forschungsarbeit dieses Deutschen dort drüben bei UNTACH spielte hierbei eine Schlüsselrolle.

      Das UNTACH war vor fünfzehn Jahren von den Vereinten Nationen in dem gigantischen, einst für militärische Zwecke künstlich geschaffenen unterirdischen Kavernensystem am nördlichen Stadtrand von Peking offiziell eröffnet worden. Bereits ein Jahr später konnten die ersten Exponate in den perfekt ausgebauten Archiven eine neue Heimat finden. Die Regierung Chinas hatte viele Jahre vorher den für diesen neuen Nutzungszweck optimalen Umbau der weitläufigen Militäranlage sichergestellt. Zum richtigen Zeitpunkt unterbreitete man der Weltgemeinschaft ein gut vorbereitetes Angebot: Hier wolle man zum Wohle der gesamten Menschheit ein umfassendes und einzigartiges internationales Archiv und Forschungszentrum für das Weltkulturerbe einrichten und auch langfristig substanziell mitfinanzieren. Dieses Konzept fand rasch die erforderlichen Mehrheiten in den Entscheidungsgremien der UNO und ihrer Mitgliedsländer. Das gigantische Projekt ging über die Dimensionen der größten nationalen Museen weit hinaus und stellte auf dem Weg der politischen und kulturellen Annäherung der westlichen und asiatischen Machtblöcke einen wichtigen verbindenden Schritt dar.

      Die überwiegende Mehrheit der Kunsthistoriker, Kulturwissenschaftler, Konservatoren und Museumsexperten begeisterte sich längst für die Vision eines zentralen globalen Horts für eine möglichst umfassende Archivierung und Sicherung kultureller Menschheitserzeugnisse. In den vergangenen drei Jahrzehnten waren durch Naturkatastrophen, Terror und Kriege auf fast allen Kontinenten zunehmend wertvollste Kulturgüter vernichtet worden. Daher fand sich schließlich eine breite politische und gesellschaftliche Basis für einen solchen gemeinsamen Schritt.

      Exquisite und repräsentative Belegstücke aus praktisch allen Kunst- und Kulturbereichen und Epochen wurden daraufhin weltweit ausgewählt und sukzessiv in die Obhut der neuen Einrichtung transferiert. Innerhalb weniger Jahre entstand ein noch nie zuvor so umfassend an einem einzigen Ort versammelter Fundus an Originalobjekten sowie relevantem Quellenmaterial.

      Sowohl das Gebäude selbst als auch alle wissenschaftlichen Einrichtungen des UNTACH wurden nach höchsten musealen und wissenschaftlichen Standards realisiert und ein neues Mekka für über Kunst und Kulturgut forschende Wissenschaftler aus der ganzen Welt entstand in Peking. Da UNTACH keine der Öffentlichkeit zugängliche Ausstellung war, sondern eine reine Archiv- und Forschungseinrichtung mit sehr restriktiven Zugangsregelungen, konnten umfassende Schutzmaßnahmen getroffen werden, wie sie in Museen in der Regel unmöglich waren.

      Dieses einzigartige wissenschaftliche Zentrum entsprach den gleichen Sicherheitsstandards wie in Militärzentralen von Supermächten, den Lagerorten nationaler Goldreserven oder der UNO-Zentrale in New York. Etwa sechzig Prozent der Räumlichkeiten lagen über zweihundert Meter tief unter der Oberfläche und nur weniger sensitive Bereiche waren in den oberirdischen Gebäudeteilen untergebracht. Hier befanden sich zum Beispiel die Quartiere des Personals, Sportanlagen, vielfältige Tagungs- und Sitzungsräumlichkeiten sowie diverse Shopping- und Vergnügungseinrichtungen. Die strikten Zugangsregelungen, Kommunikationsstrukturen, Dienstleistungskonzepte und Versorgungssysteme waren auf einem noch nie erreichten technischen Niveau. Der UNTACH-Komplex war praktisch autark und mit einer perfekten Infrastruktur ausgestattet.

      Das Personalkonzept sah in Relation zum gigantischen Umfang der Sammlungen ein vergleichsweise kleines Stammpersonal von etwa neuntausend überwiegend technischen und administrativen Arbeitskräften vor.


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