Der Masanao Adler. Dieter R. Fuchs
in the wall‹ und ›Wish you were here‹. Ihm war die Wortgleichheit mit dem Spitznamen des Tagungsraums, den die anderen gleich kennenlernen würden, sofort in den Sinn gekommen, als er vor zwei Monaten die Arbeit hier aufgenommen hatte. Marco nahm sich vor, in der nächsten Team-Besprechung als lockeren Einstieg einen Song aus dem Album einzuspielen.
Doch jetzt gab es Wichtigeres, worauf er sich konzentrieren musste. Er ging zum Netzhaut-Scanner neben der wuchtigen Tür zum angrenzenden Raum und identifizierte sich zusätzlich, indem er deutlich seine Berechtigungsnummer für diesen Raum und diese Uhrzeit aussprach. Augenblicklich schob sich die schwere Stahltür zur Seite auf und sie konnten in den kleinen, unmöblierten und steril wirkenden Schleusenraum treten. Vor sich sahen sie eine genauso breite, aus Sicherheitsglas bestehende weitere Tür, durch die sie in einen wie ein kleines Amphitheater wirkenden Raum hinabblickten. Die Tür glitt hinter ihnen geräuschlos zu und sie hatten einen Moment Zeit, die Szenerie auf sich wirken zu lassen.
Sofort war klar, wie dieser Raum zu seinem Synonym ›The Wall‹ gekommen war. Das kleine, maximal zwanzig Personen fassende Auditorium war frontal auf eine riesige Multimediawand ausgerichtet, stark gewölbt, etwa zehn Meter hoch und fünfundzwanzig Meter breit. Eine unübersehbare Menge an Projektoren, Rechnern, Kabelbündeln, Steuerpulten und sonstiger Technik war im Halbdunkel seitlich und an der Decke zu erahnen. Hinter den Sitzplätzen ragte eine halbkugelförmige Kabine etwa zwei Meter nach oben, die einem Flugzeug-Cockpit alle Ehre gemacht hätte. Da sie aus ihrer momentanen Position von hinten eine gute Sicht in diesen gläsernen Steuerstand hatten, konnten sie dessen Ausstattung mit zahlreichen kleinen und großen Monitoren, Touchscreens, Tastaturen und Trackballs gut wahrnehmen.
In dem Steuersessel zwischen diesen Instrumenten saß ein weißhaariger Mann, der sich nun zu ihnen umdrehte und dessen Stimme aus einem Lautsprecher über ihnen erklang. Er sprach in akzentfreiem Englisch und seine Ausdrucksweise deutete darauf hin, dass er mit ihrem Chef schon viele Stunden verbracht hatte.
Marco antwortete auf seine übliche witzige und informelle Weise und in ebenfalls perfektem Englisch: »Ach, mein lieber Xiaoding, warum so förmlich? Ja, diesmal rücke ich dir mit meiner gesamten Crew auf die Pelle! Wenn ich kurz vorstellen darf: Der gute Geist dieses technischen Wunderwerks hier, Herr Professor Doktor Xiaoding Wang. Er hat dieses ganze Superkino übrigens selbst konzipiert und hier aus diversen verfeinerten und miteinander gekoppelten Techniken der virtuellen Realität und dreidimensionalen Datenvisualisierung eine weltweit einzigartige Diskussions- und Planungssituation geschaffen. Aber das wisst ihr natürlich sowieso alles schon und werdet es gleich hautnah erleben. Damit du, Xiaoding, meine jungen Stützen im Alter auch kennst: Das hier ist Claudia, das Rebecca, das Tomomi und das Frank. Aus den Dateien weißt du ja bereits vieles über ihre Arbeit, nun kannst du sie persönlich kennenlernen. Natürlich nur, wenn du uns mal langsam in dein Allerheiligstes hineinlässt, versteht sich.« Während dieses kleinen Wortgeplänkels waren ihre Gesichter durch die Deckenkameras im Schleusenraum gescannt und die Funksignale ihrer ID-Armbänder vom Sicherheitssystem automatisch überprüft worden. Die Schiebetür öffnete sich und sie traten ein.
Professor Wang stieg nicht ganz ohne Mühe, da anscheinend etwas gehbehindert, aus seinem verglasten Steuerstand und begrüßte jeden einzelnen mit einem herzhaften Händedruck und einer leichten Verbeugung, die sie mit ehrlicher Bewunderung erwiderten. Natürlich hatten sie sich vor diesem Termin gut informiert. Wang galt als der Wegbereiter der Zusammenführung von Künstlicher Intelligenz und innovativen Visualisierungstechnologien und wurde vor einigen Jahren sogar für einen Nobelpreis nominiert. Das Team war ehrlich überrascht und sichtlich beeindruckt, nun persönlich diesem hoch dekorierten Wissenschaftler begegnen zu dürfen.
Nachdem auch Marco seinen chinesischen Freund herzlich begrüßt hatte, nahmen seine Leute ihre Plätze in den Sesseln im Auditorium ein, in deren Armlehnen diverse Steuerinstrumente eingelassen waren. Xiaoding begab sich mit einiger Mühe und etwas Unterstützung von Marco wieder in sein Cockpit und dieser stellte sich vor sein kleines Publikum, um einige einführende Worte zu sprechen.
»Liebe Kolleginnen, Frank, kurz zum Procedere, bevor wir in die eigentliche Arbeitssitzung einsteigen, die wohl etwa zwei Stunden dauern wird. Ich werde euch heute alle Hintergrund-Informationen zu unserem Projekt optisch attraktiv aufbereitet präsentieren. Aus diesem besonderen Anlass ist mein Freund Professor Wang persönlich bei uns, denn ich möchte ihn an unserer Sache teilhaben lassen. Daher wollen wir uns ausnahmsweise heute in englischer Sprache und nicht in Deutsch austauschen. Natürlich sitzt er üblicherweise nicht mehr selbst als Operator an diesem ›Mischpult‹, sondern einer seiner vielen Mitarbeiter unterstützt technisch den exklusiven Nutzerkreis dieser einzigartigen Einrichtung hier. Die Raummiete inklusive vollem Technik- und Personal-Backup kostet übrigens achtzehntausend Dollar pro Stunde. Genießt also dieses Privileg! Und nun wappnet euch bitte mit den vor euch liegenden Cyber-Brillen. Die diversen Manipulations-Tools für Sitzungsteilnehmer benötigen wir heute noch nicht, vergesst also den sonstigen Technikkram an euren Sitzen und konzentriert euch aufs Zuhören und auf die optische Präsentation.«
Er machte eine kleine Pause, bis alle ihre Brillen aufgesetzt hatten, nahm in dem zentral stehenden Sessel mit erhöhter Rückenlehne seine Rednerposition ein und nickte kurz zurück in Xiaodings Richtung. Sie hatten die heutige Choreographie der einzuspeisenden Dateien und Effekte genau abgestimmt und am Vormittag in einem Schnelldurchgang optimiert, ergänzt durch die neuen Dateien aus Grenoble. Der überwiegende Teil der optischen Präsentation wurde automatisch über ein Audioerkennungsprogramm generiert und auf Wort- und Syntax-Signale hin durch das System von ›The Wall‹ gezielt aufgerufen und graphisch behandelt.
»Ihr alle kennt den exakten Text der Ausschreibung und das Bewilligungsschreiben samt Anhängen für das spezielle Forschungsprojekt, das wir in einem Zeitraum von einem Jahr bewältigen wollen. Es handelt sich um eine umfassende wissenschaftliche Untersuchung und Beschreibung des Adler-Netsuke. Einschließlich aller ermittelbarer Hintergrund- und Umfeld-Informationen historischer oder jedweder sonstiger Art, die Bezug zu diesem kleinen Kunstwerk haben. Ziel ist also eine Monographie zu diesem Netsuke in einem Umfang, wie sie noch nie zuvor für ein Objekt dieser Kunstgattung erstellt wurde. Aus dieser Aufgabenstellung heraus erklärt sich die Team-Zusammensetzung. Hier zur Erläuterung noch mal die Zuordnung eurer Kompetenzschwerpunkte zu den bei unserem Projekt gestellten Anforderungen.«
Während Marco sprach, erschienen im virtuellen Raum vor ihren Augen dreidimensional jeweils zu seinen Worten passend Fotographien, Texte, Filmszenen und Dokumente mit graphischen oder tabellarischen Details, wobei besonders wichtige Bildteile jeweils farblich hervorgehoben wurden. Alle Informationen, auch ihre eigenen Lebensläufe, deren Teile mit Einzelaufgaben des Projektauftrags durch virtuelle Einrahmungen verknüpft wurden, entwickelten so dargestellt ein seltsames Eigenleben. Elemente wuchsen aus dem Hintergrund hervor, wurden direkt vor den Augen des Teams mit eindringlichen optischen Effekten betont und hinterher wieder verkleinert im Datenraum-Hintergrund abgelegt, bis sie erneut für andere Verknüpfungen benötigt wurden. Neben vorher eingespeisten Dateien waren hierbei deutlich erkennbar Internet-Online-Informationen zu sehen, die das System in Nanosekunden selbständig recherchierte und an den richtigen Stellen einspeiste.
Das kombinierte Hör- und Seherlebnis hatte eine fast hypnotische Wirkung. Dies wurde vor allem im weiteren Verlauf seines Vortrags deutlich, als Marco immer tiefer in die Materie um das Masanao-Netsuke einstieg. Alle erkannten Fakten wieder, die sie selbst in den letzten Tagen individuell erarbeitet hatten. Aber nun, in Kombination mit den Ergebnissen der anderen Team-Mitglieder, sowie mit schon vorher durch Marco ausgearbeitetem Material, entstand eine neue Dimension ihres Spezialwissens.
Ihr Chef führte sie in der virtuellen Realität, in der sie sich inzwischen fasziniert bewegten, elegant durch allgemeine Kenntnisse zum Leben Masanaos, zur Schnitztechnik und zu typischen Sujets seiner Wirkungszeit. Das System verknüpfte optisch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen im feudalen Japan jener Zeit mit den thematischen Vorlieben der damaligen Künstler. Bevorzugte Materialien in der Netsuke-Herstellung wurden vorgestellt, Arbeitstechniken, Bearbeitungstricks, um bestimmte Oberflächeneffekte zu erzielen, aber auch die Lebensbedingungen der Netsuke-Schnitzer selbst wurden skizziert.
Neben solchen kunsthistorischen Diskursen waren an geeigneten Stellen des Vortrags werkstoffkundliche, physikalische und chemische