Auf der Suche nach dem Märchenprinzen. Denise B. Frei Lehmann
Menschen trotz seiner angeborenen Charaktereigenschaften und familiären Hintergrunds möglich sein würde, sich im Verlauf seines Lebens aus emotionalen und mentalen Verstrickungen zu lösen, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen.
Zum nächsten Massagetermin nahm Vivienne die Analyse mit und Reto überflog ein paar Seiten. Genau wie seine Kundin war er beeindruckt, wie zutreffend ihre Lebenssituation beschrieben wurde. Nach der Massage philosophierten die beiden noch ein wenig über die Möglichkeiten der Astrologie, die nach Viviennes Meinung wohl einiges erklärten, aber Probleme nicht wirklich lösen würden. Ihre Migräneanfälle auf jeden Fall lösten sich trotz der neuen Erkenntnisse nicht in Luft auf und Vivienne legte die Analyse in eine Schublade im Wohnzimmerschrank.
‚Ob ich je den richtigen Mann kennen lernen werde?‘ überlegte sie kurze Zeit später während ihres allabendlichen Bads. Sich nach einem anstrengenden Tag wohlig im warmen und nach Rosenöl duftenden Wasser zu räkeln, gehörte seit längerem zu ihren Ritualen, um abzuschalten und neue Energien zu tanken. ‚Wenigstens beruflich hab ich das grosse Los gezogen‘ überlegte sie weiter. Ausser, dass ihr der kommunikative Umgang ihres Chefs ab und zu auf die Nerven ging, gab es nichts zu beklagen. Sie kannte Konrad Koch unterdessen gut genug, um zu ahnen, dass er nicht bereit war, sein Verhalten zu ändern. ‚Solange er mich jedoch in Ruhe arbeiten lässt und mir meine Handlungsfreiheit zugesteht, muss mir dies egal sein.‘
Wochen später ging Vivienne wie jeden Morgen zur Arbeit. Kurz vor dem Firmengelände sah sie von weitem ihren Chef auf dem Gehsteig der Strasse entlanggehen und überlegte, ob sie nun am Fussgängerstreifen auf ihn warten oder so tun sollte, als ob sie ihn nicht bemerken würde. Doch dies ging nicht ohne weiteres, denn Konrad Koch war ein schlauer Fuchs und spürte sofort, wenn man ihn mied. ‚Also bleibe ich jetzt besser stehen und warte auf ihn‘ überlegte sie leicht genervt. Ihr Vorgesetzter kam näher und nickte ihr lächelnd zu. Als er neben ihr stand, wünschten sie sich gegenseitig einen guten Morgen und wollten, nachdem sie sich zuerst links und rechts versichert hatten, dass kein Auto zu sehen war, die Strasse auf dem Fussgängerstreifen überqueren. Auf der anderen Strassenseite lief ein Mitarbeiter auf den Eingang der Firma Matter zu und winkte ihnen. Die beiden waren noch nicht ganz in der Mitte der Strasse angekommen, als Vivienne vor Schreck erstarrte. Wie aus dem Nichts raste ein rotes Auto auf sie zu! Sie zupfte ihren Chef am Ärmel seiner Jacke, um auf die Gefahr aufmerksam zu machen. Vivienne hatte das Gefühl, als würde sie zur Salzsäule erstarren. Sie war nicht in der Lage, einen Schritt weder vorwärts noch zurück zu machen. Wie gelähmt versagte jegliche Reaktion, um der Gefahrenzone zu entfliehen. ‚Oh Gott, was machen wir nur?!?’ fragte sie sich entsetzt. Da erfasste sie eine unbeschreibliche Leichtigkeit. Zu ihrem grossen Erstaunen wurde sie zusammen mit ihrem Begleiter sanft angehoben und nach hinten gezogen. Vivienne hatte das Gefühl, als würde sie schweben. ‚Nein, das ist nicht nur ein Gefühl‘ überlegte sie. ‚Es fühlt sich an, als wären wir in Watte gepackt, ein paar Zentimeter nach hinten gehoben und dann wieder sanft abgestellt worden‘. Und schon raste das rote Auto knapp an ihren Körpern vorbei. Der Kollege auf der anderen Strassenseite stand mit weit aufgerissenen Augen völlig geschockt da und rief den beiden zu: „Ich weiss nicht, wie das gegangen ist, denn eigentlich müsstet ihr jetzt tot unter dem Auto liegen.“ Vivienne war dankbar für die Rettung durch ihre Schutzengel, denn eine andere Erklärung fand sie dafür nicht. Ob ihr Chef an Schutzengel glaubte, wusste sie nicht, doch für sie war klar, dass bei ihrer Rettung höhere Mächte die Hände im Spiel gehabt hatten. Schweigend gingen die beiden zusammen die Treppe zur Personalabteilung hoch und dann jeder für sich ins eigene Büro.
Im Laufe des Tages löste sich die Schockstarre und Vivienne staunte über die Abgebrühtheit des Personaldirektors, der ihr kurz vor Feierabend mitteilte: „Ich habe mir die Autonummer gemerkt und bei der Polizei eine Anzeige erstattet.“ Tatsächlich rief anderentags ein Polizeibeamter an, der Vivienne bat, noch am selben Abend auf dem Polizeiposten zu erscheinen. Sie leistete der Aufforderung Folge und schilderte ihr Erlebnis, während der zuständige Beamte alles protokollierte. Natürlich erwähnte sie die Schutzengel nicht, sondern meinte lediglich, dass ihr Chef sie aus der Gefahrenzone nach hinten gezogen hätte. „Ihr Chef gab aber zu Protokoll, dass Sie ihn nach hinten gezogen hätten“ liess der Polizist sie erstaunt wissen. „Ah ja? Mir kam es aber so vor, als hätte er mich zurückgezogen“ widersprach Vivienne. „Das wird der Schock gewesen sein“ versuchte der Polizist die Situation zu erklären und hielt ihr das Protokoll zur Unterschrift hin. Nachdem Vivienne den Polizeiposten wieder verlassen hatte, überlegte sie sich, dass irgendwer im Himmel beschlossen haben musste, dass sie und ihr Chef noch weiterleben sollten. Es kam ihr vor, als wären Konrad Koch und sie ab jenem Moment zu einer Art Schicksalsgemeinschaft zusammengeschweisst geworden. ‚Nur, für was soll das gut sein?‘
Am frühen Abend vor den Weihnachtsferien stand die bald 35jährige an ihrem Bürofenster und beobachtete die dicken Schneeflocken im Licht der Strassenbeleuchtung, die langsam die Landschaft in sanftes Weiss hüllten. Sie freute sich auf die weihnächtliche Auszeit und etwas Ruhe. Fabian wollte über die Festtage zusammen mit seinem Vater die Grosseltern in der Ostschweiz besuchen. Sie selbst war zusammen mit Richard, mit dem sie trotz beschlossener Trennung nach wie vor eine freundschaftliche Beziehung pflegte, bei Freunden eingeladen und dankbar, für einmal nicht selbst in der Küche zu stehen, um ein aufwendiges Festmahl zu kochen. Plötzlich wurde sie durch aufgebrachte Stimmen aus dem benachbarten Lohnbüro aufgeschreckt. Sie ging auf den Korridor und sah, wie Konrad Koch wütend aus dem Lohnbüro marschierte. Als er Vivienne bemerkte, erklärte er ihr kurz den Grund seiner Wut: „Der Bolt ist und bleibt eine Niete und wird dieses neue System nie kapieren.“ Sobald ihr Chef zurück in seinem Büro war und die Türe hinter sich geschlossen hatte, warf sie einen Blick ins benachbarte Büro und sah, wie ihr Kollege verzweifelt versuchte, herauszufinden, warum die Lohnabrechnungen einmal mehr fehlerhaft aus dem Drucker ratterten. „Glauben Sie mir Frau Zeller, ich habe alles richtig gemacht und trotzdem stimmen die Abrechnungen hinten und vorne nicht. Warum musste dieses neue System überhaupt eingeführt werden? Das alte funktionierte immer perfekt! Doch der da oben“ zeigte er mit Blick an die Decke und Richtung Büro des Firmeninhabers, „hat es anders entschieden. Und wie sich der Koch mir gegenüber aufführt, glauben Sie mir Frau Zeller, das lasse ich mir nicht mehr gefallen. Immer wieder stutzt er mich nach Fehlermeldungen auf Zwerggrösse herunter und dies wird er eines Tages bitter bereuen! Dem Koch wünsche ich nichts Gutes! Irgendwann bekommt er es zurück!“ Hermann Bolt war sichtlich verzweifelt und stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Nach dem Zwischenfall verabschiedete sich der Personaldirektor mit grimmiger Miene, um wenig später zusammen mit seiner Familie in die Weihnachtsferien zu verreisen. Bevor er die Treppe runter eilte, ging er kurz zu Vivienne ins Büro: „Ich wünsche Ihnen angenehme Weihnachtszeit und im neuen Jahr muss ich mit dem Bolt eine Lösung finden, so geht das nicht weiter. Ich habe keine Lust mehr, unserem Firmenleiter immer wieder von neuem zu erklären, warum die Lohnadministration nicht fehlerfrei funktioniert. In anderen Firmen wurde dasselbe System auch eingeführt und zwar ohne dieses Theater, wie ich es hier jeden Tag erleben muss. Bei mir funktioniert die Verarbeitung der Kaderlöhne einwandfrei, doch warum nicht mit den Schichtarbeiter-Löhnen? Unser Informatiker drohte bereits mit Kündigung, wenn das so weiter geht.“ Vivienne hörte ruhig zu und verzichtete auf einen Kommentar und wünschte ihrem Chef ebenfalls schöne Weihnachtstage. ‚Wie ich dieses Theater hier satthabe‘ überlegte sie sich, während sie ihren Pult aufräumte und den Topfpflanzen Wasser gab. ‚Niemals wird es Konrad Koch gelingen, den Bolt rauszuwerfen. Die Einheimischen halten fest zusammen und sind über alle vier Ecken immer irgendwie miteinander verbandelt, ob verwandtschaftlich oder freundschaftlich. Ich will hier in Ruhe und Frieden meinen Job machen, doch dies scheint nicht mehr möglich zu sein‘. Mehr als einmal versuchte Vivienne ihrem Chef hinsichtlich des Lohnbürochefs klar zu machen, dass man aus einem VW keinen Porsche machen konnte und er sein kommunikatives Verhalten entsprechend anpassen sollte. Vergeblich! Sie nahm sich vor, den ganzen Ärger für den Moment zu vergessen und sich die Freude an den Feiertagen nicht verderben zu lassen. Sie verabschiedete sich von ihren Kollegen und machte sich auf den kurzen Heimweg.
Eine Viertelstunde später zu Hause angekommen, gönnte sie sich wie jeden Abend ein warmes Bad, um zur Ruhe zu kommen. Später rief sie Richard an, um über ihren Frust zu jammern. „Diese Gehässigkeiten halte ich nicht mehr aus“ liess sie ihn wissen. „Aber Du verstehst dich doch so gut mit