Auf der Suche nach dem Märchenprinzen. Denise B. Frei Lehmann
Familienleben führte. Am ersten Arbeitstag im neuen Jahr ging Vivienne früher als üblich ins Geschäft, um sich auf die zusätzlichen Aufgaben vorzubereiten, die sie für einige Zeit übernehmen würde.
Erst in der zweiten Arbeitswoche liess sich Konrad Koch kurz blicken, um nach dem Rechten zu sehen. Vivienne war schockiert, als er ihr Büro betrat, um ein paar Unterlagen auf ihr Pult zu legen. Nicht der selbstbewusste, unbesiegbar scheinende Personaldirektor aus früheren Tagen stand vor ihr, sondern ein gebrochener Mann, dem unterdessen bewusst war, dass seine Tochter nach dem Herzstillstand und zu später Reanimation wohl überleben, jedoch ihr restliches Leben als Schwerstinvalidin in einer Pflegeeinrichtung verbringen würde. Charlotte, die eben noch quirlige und lebenslustige junge Frau, würde nie wieder sprechen, selbst essen, sitzen, geschweige denn gehen können. Ein ortsansässiger Arzt, der für seine undiplomatische Art bekannt war, liess die Familie in ihrem allergrössten Schmerz wissen, dass man Charlotte besser nicht reanimiert hätte und dass dies ein Ärztefehler gewesen sei. Als der Leid geprüfte Vater Vivienne von diesem Gespräch erzählte, rollten ihm Tränen über die Wangen, denn für ihn wäre der Tod seiner Charlotte noch unerträglicher gewesen. Nun blieb ihm wenigstens die Hoffnung, dass vielleicht doch noch ein Wunder geschehen und seine Tochter sich eines Tages wieder erholen würde.
Die Reaktionen innerhalb der Firma Matter auf Kochs Familiendrama, das sich unterdessen herumgesprochen hatte, waren zu Viviennes Erstaunen vielfältiger Natur. Auf der einen Seite herrschte Betroffenheit, vor allem weil Charlotte vielen als fröhliches Mädchen und mittlerweile als junge sympathische Frau bekannt war. Früher während der Schulferien jobbte sie ab und zu in einer der Produktionsstätten und besuchte dieselben Schulen wie die Kinder der Angestellten. Nebst der Betroffenheit gab es jedoch auch andere Stimmen. „Das ist jetzt die Strafe für sein Benehmen“ meinte zum Beispiel der Finanzchef zum Lohnbürochef. Hermann Bolt widersprach ihm nicht, wie er Vivienne später versicherte. Die ablehnende Haltung gegenüber dem Personaldirektor bekam für Vivienne auf diese Weise ein neues Gesicht oder besser, eine hässliche Fratze. Sie nahm sich vor, auch wenn sie nicht immer mit seinem Verhalten einverstanden war, ihm Rückendeckung zu geben.
Beim nächsten Massagetermin erzählte Vivienne ihrem Therapeuten über Charlottes Herzstillstand und dessen Folgen. „Das ist karmisch“ antwortete er spontan. „Was ist denn das?“ wollte sie erstaunt wissen. „Ja das ist etwas, das in einem anderen Leben noch nicht erledigt wurde und sich nun in diesem Leben wieder manifestiert.“ „Wie bitte? In einem anderen Leben!?“ fragte Vivienne zur Sicherheit nach. „Ja“ belehrte er seine Kundin. „Wir kommen immer wieder auf die Welt, und wenn wir etwas in einem anderen Leben nicht aufgearbeitet haben, dann erledigen wir es eben im nächsten. Dies kann auch über eine Krankheit oder einen Schicksalsschlag sein. Manchmal ist es nicht unbedingt das Opfer, das etwas zu lernen hat, sondern seine Angehörigen. Das Opfer stellt sich somit als Lehrpfad für die anderen zur Verfügung.“ „Also Reto, so einen Quatsch habe ich noch nie gehört, woher willst du das denn wissen? Wer wird schon krank, um anderen quasi als „Lehrpfad“ zu dienen!?! Ich finde, du gehst nun zu weit.“ Dann erklärte sie Reto kurz ihre persönlichen Ansichten zum Thema Religion. „Der Mensch stirbt irgendwann und je nachdem, wie sein Sündenregister ausfällt, geht‘s in den Himmel, in die Hölle oder ins Fegefeuer. Danach ist Schluss! Also komm mir nicht mit früheren Leben. Du versündigst dich damit.“
Reto lächelte milde. „Nein, nein, so ist es ganz bestimmt nicht. Das erzählen uns die Kirchenoberen nur, um uns klein zu halten. Das läuft alles ganz anders. Ich weiss das, weil ich mit meinem besten Freund jeden Montag einen sehr weisen Mann besuche, der mehr sieht und weiss, als der normale Mensch“ flüsterte Reto nun fast verschwörerisch. „Das klingt nach Sekte“ gab Vivienne zu bedenken. „Sicher nicht, sehe ich aus wie ein Sektierer?“ entrüstete sich Reto. Vivienne schaute dem weiss gekleideten, mittelgross gewachsenen, blonden jungen Mann in seine hellblauen Augen und meinte dann lachend: „Nein, eigentlich siehst du nicht wie ein Sektierer aus." Nachdem Reto Viviennes Neugierde geweckt hatte, wollte sie mehr über seine geheimen Treffen mit dem weisen Mann wissen. „Kann ich an solch einem Treffen mal mit dabei sein?“ fragte sie darum Reto erwartungsvoll. „Du wirst im Laufe deines Lebens sicher noch mehr darüber erfahren, was zwischen Himmel und Erde tatsächlich so läuft. Mehr, als du Dir vorstellen kannst. Doch nun ist die Zeit noch nicht reif dafür. Sowas kann man nicht erzwingen, der richtige Moment wird kommen!“ schloss er das Thema ab. Nach der Massage verabschiedete sie sich und hoffte, dass Reto sie irgendwann doch noch zu einem seiner Geheimtreffen mitnehmen würde. Bereits Wochen zuvor hatte sie ihr Massage-Abo verlängert. Nicht nur, weil ihr die Therapie als willkommene Entspannung diente, sondern weil sich ihr spiritueller Horizont durch die Gespräche mit Reto um einiges erweiterte.
Eine Woche später begrüsste Reto seine Kundin freudestrahlender als üblich. „Ich habe eine gute Idee, wie du mehr über Karma und Weiterleben nach dem Tod erfahren könntest.“ „Ah ja? Und wie willst du das anstellen?“ wollte Vivienne erstaunt wissen. „Nimmst du mich nun doch zu einem deiner Geheimtreffen mit?“ „Nicht zu meinem weisen Freund. Doch gerne würde ich dich zu einem Medium aus England mitnehmen, das in ein paar Monaten in der Ostschweiz auf Besuch weilt. Ich habe für mich einen Channeling-Termin über die Parapsychologische Gesellschaft in Basel gebucht und das wär auch was für dich. Das bekannte Medium reist jedes Jahr für ein paar Wochen in die Schweiz und ist jetzt schon fast ausgebucht.“ „Medium? Bitte Reto, klär mich auf. Was um Gotteswillen ist ein Medium?! Und was ist ein Channeling?“ „Ein Medium ist eine Person mit einer besonderen Begabung, in diesem Fall eine Frau. Sie stellt sich als Kanal zwischen der geistigen Welt der Verstorbenen und der irdischen Welt der Lebenden zur Verfügung. Das nennt man Channeling. Ein Kollege erzählte mir davon. Er war begeistert, weil ihm sein Grossvater eine Botschaft durch das Medium übermittelte, die hundertprozentig stimmte. Dir könnte so eine Sitzung helfen, um dich mit deinem verstorbenen Vater zu versöhnen. Vielleicht hat er dir noch etwas zu sagen. Obwohl, zum Vornherein weiss man natürlich nie, wer sich alles meldet, weil auch Verstorbene ihren freien Willen haben. Es gibt solche, die mit früheren Angehörigen keinen Kontakt mehr wünschen und dies gilt es dann zu respektieren.“
Bis zu jenem Zeitpunkt war Vivienne der Ansicht, dass Verstorbene nach ihrem Tod für die noch lebenden Menschen unerreichbar seien. Nun eröffneten ihr jedoch Retos ungewöhnliches Wissen neue Horizonte und sie bat ihn kurzentschlossen, auch für sie einen Termin zu vereinbaren. „Du musst dich aber noch ein paar Monate gedulden, gell, das Medium kommt erst im Herbst wieder in die Schweiz.“ Mittlerweilen war erst April und Geduld gehörte nicht zu Viviennes ausgeprägtesten Eigenschaften.
Abends rief sie Richard an. „Und, was gibt es Neues?“ wollte der wissen. „Stell dir vor, mein Therapeut nimmt mich in ein paar Monaten zu einem Medium aus England mit!“ „Alles Quatsch!“ höhnte es aus dem Hörer. „Man kann unmöglich mit Verstorbenen sprechen! Das dient nur der Geldmacherei.“ Vivienne wurde sich nach Richards brüskierender Reaktion bewusst, dass künftig Vorsicht geboten war, mit wem sie über ihren Besuch bei einem Medium sprechen sollte und mit wem ganz sicher nicht. ‚ Eigentlich sollte ich besser mit gar niemandem drüber sprechen‘ nahm sie sich vor. Schliesslich hatte sie selbst nur Tage zuvor abweisend auf die Aussicht reagiert, mit Hilfe eines Mediums Verstorbene zu kontaktieren. Warum sollte dies anderen nicht auch so ergehen? So verzichtete sie darauf, Fabian in ihre Pläne einzuweihen, denn ihr Sohn war grad mit ganz anderen Sorgen beschäftigt, nämlich mit der Suche nach einer Lehrstelle. Für ihn war klar, dass er eine Velo-Mofa-Mechaniker Ausbildung absolvieren wollte und zwar in jenem Geschäft, in dem er seit einiger Zeit an den freien Mittwochnachmittagen aushalf, um etwas Sackgeld zu verdienen. Für dieses Vorhaben konnte sich die Mutter wenig begeistern, denn ihr Sohn würde der erste Lehrling überhaupt in jenem Geschäft sein und somit fehlte dem künftigen Lehrmeister jegliche Erfahrung. „Jeder fängt ja mal neu an“ meinte Fabian lapidar, nachdem ihm seine Mutter ihre Bedenken mitgeteilt hatte. „Und was mir ebenfalls nicht passt, ist die Tatsache, dass Nicki Nickel in einem Wohnwagen lebt, statt in einer Wohnung. Wie soll denn ein junger Mann, der selbst noch nicht ganz trocken hinter den Ohren ist, Lehrlinge ausbilden?“ gab Vivienne weiter zu bedenken. Doch sie rannte bei ihrem Sohn gegen verschlossene Türen. Wenn Fabian sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, blieb er stur. Nach etlichen Diskussionen lenkte sie letztendlich ein und unterschrieb widerwillig den Lehrvertrag. Beruflich sah sie